Zwanzig

Mit zehn Jahren hatte Sam Winchester angefangen, sich wie ein Besessener für Landkarten zu interessieren.

Es begann damit, dass er seinen Vater fortwährend fragte, wohin sie als Nächstes fahren würden. Es war eine vernünftige Frage, weil die Antwort immer eine andere war und weil Sam es damals noch aufregend fand, das Ziel zu kennen.

Trotzdem hatten weder John noch der vierzehnjährige Dean viel Verständnis für Sams Neugier. Damit er den Mund hielt, kaufte sein Dad ihm einen Atlas.

Das erwies sich als vorteilhaft für alle Beteiligten. John und Dean wurden nicht mehr mit Fragen belästigt und Sam hatte endlich ein Hobby.

Wochenlang verbrachte er jede Minute seiner Freizeit damit, die Karten zu studieren. Er sah sich an, wie die Highways und Nebenstraßen sich verknüpften und kreuzten, er verfolgte den Verlauf der Landstraßen und die Art, wie manche Städte versuchten, ihre Straßen in organisierten Mustern anzulegen. Er lernte dabei etwas über die Auswirkungen der Topografie und die Platzierung von Grenzen und Barrieren.

Was sein zehnjähriges Gehirn aber am meisten faszinierte, war das U.S. Interstate Highway System – oder – wie er nach einem Besuch in einer öffentlichen Bücherei in Indiana atemlos berichtete – „das nationale Dwight-D.-Eisenhower-System der Bundes- und Verteidigungsautobahnen“. Er referierte vor seinem nachsichtigen Vater und dem weniger nachsichtigen Dean über den vierunddreißigsten Präsidenten und wie er das Gesetz, den Federal Highway Act von 1956, auf den Weg gebracht hatte. Damit wurde ein Straßensystem geschaffen, das den Handel unterstützte. Gleichzeitig konnten die Straßen als Hauptverkehrsadern dienen, sollte es zu einem Atomkrieg kommen.

Sam gefiel besonders gut, wie die Interstates nummeriert waren. Die zweistelligen, ungeraden Nummern führten von Nord nach Süd, die geraden von Ost nach West. Je höher die Zahl, desto weiter nördlich oder östlich lag die Straße.

Dean weigerte sich, ihm zu glauben. Er behauptete, das sei lächerlich und dass Sam sich das ausgedacht habe, aber der Vater kam seinem jüngeren Sohn zu Hilfe.

„Viele dieser Highways sind gebaut worden, als ich noch klein war“, sagte John Winchester zu Sams großem Entzücken. „Wenn da ein Hügel war, haben sie trotzdem gerade hindurchgebaut und Brücken über die Flüsse gezogen. An anderen Stellen folgten sie den bereits existierenden Straßen.“ Er grinste seine Söhne an. „Natürlich musste man so was in Kansas nicht machen – steht nicht viel im Weg, schon gar keine Hügel.“

Dean kauerte sich nur mit finsterer Miene in seinen Sitz und nannte sie beide Klugscheißer.

Wie viele Kindheitsobsessionen, hatte auch diese schnell ein Ende. Aber Sam hatte seit dem eine besondere Fähigkeit zum Kartenlesen und es dauerte nicht lange, bis er die gesamte Navigation für die Familienjagden der Winchesters übernahm.

Seit es Google Maps und Mapquest gab, brauchten sie den Atlas nicht mehr. Trotzdem vertraute Sam nicht voll und ganz auf die Technik. Zu oft hatte sie die Brüder falsch herum in eine Einbahnstraße geleitet oder über Brücken, die nicht mehr existierten – sollten sie es je getan haben. Also holte Sam vor jeder Reise eine Landkarte, um sich abzusichern.

Ausnahmslos gelang es ihm dabei, eine effizientere Route als die vom Computer vorgeschlagene zu finden.

Dean und Sam kannten die besten Strecken vom Singer Schrottplatz in South Dakota zu fast jedem großen Highway. Die Interstate 80, auf der sie gerade fuhren, erstreckte sich von New York nach San Francisco und war wahrscheinlich der Highway, auf dem der Impala die meiste Zeit verbracht hatte. Er führte in gerader Linie nach Westen von Omaha über Nebraska zur Bay Bridge.

Sobald sie in Bobbys Bücherei alles über Doragon Kokoro nachgelesen hatten, fuhren sie los. Es war Mittag und Sam fuhr den ersten Teil der Strecke, während Dean – der die ganze Nacht gepokert hatte – auf dem Beifahrersitz schlief. Als der Abend dämmerte, übernahm Dean das Steuer.

Das hatte zwei Dinge zur Folge.

Erstens, die Musik aus dem Kassettenrekorder wurde lauter gestellt, angefangen mit …And Justice for All von Metallica.

Zweitens konnte Sam das Tagebuch noch einmal lesen. Bobbys Bücher und Papiere hatten nicht viel zutage gefördert, das Internet auch nicht. Es war allerdings ein Anfang und jetzt wollte er noch einmal sehen, was John geschrieben hatte.

Die Aufzeichnungen ihres Vaters ergaben im Lichte von Bobbys Material einige interessante Ungereimtheiten.

„Hm“, murmelte er.

Dean drehte die Musik leiser, als gerade The Shortest Straw anfing.

„Was?“

Sam blinzelte. Er hatte das nicht laut sagen wollen.

„Ich habe gerade Dads Notizen noch einmal gelesen“, erklärte er. „Er hatte interessante Ansichten über Albert Chao, den Typen, der den Geist die letzten beiden Male heraufbeschworen hat. Dad sah in ihm den typischen Beschwörer-Typus. Du weißt schon, so ein wieseliger kleiner Typ, der in der Welt nichts erreicht hat – oder zumindest nicht das, was er erreichen wollte. Also macht er auf okkult, um seine Unzulänglichkeiten wettzumachen.“

„Der sollte es mal mit ’ner kleinen blauen Pille probieren“, sagte Dean sarkastisch. „Egal, das muss nichts heißen. Von dem bisschen, was ich gelesen habe, glaubte Dad, dass Chao die gleiche Chance hatte, am Leben zu bleiben, wie ein Schneeball in der Hölle, nachdem der Geist gebannt war.“

Sam schüttelte den Kopf.

„Ich weiß nicht, Dean. Alles, was ich gelesen habe, deutet darauf hin, dass Chao derjenige sein muss, der den Geist beschwört. Er ist derjenige, dessen Vorfahr der Ronin ist, und nach den Texten zu urteilen, bleibt der Geist an den gebunden, der ihn heraufbeschworen hat. Er macht ihn unverwundbar.“

„Also, wir können den Kerl nicht erschießen?“

Sam zuckte mit den Schultern.

„Na ja, wir können, aber es bringt nichts. Das Beste wäre zu machen, was Dad gemacht hat – den Zauberspruch auf dem Schwert sprechen. Leider bannt er den Krieger lediglich für zwanzig Jahre.“

Deans Miene verfinsterte sich.

„Du glaubst also, die Welt ist in zwanzig Jahren noch da. Scheiße, ich würde nicht mal darauf wetten, dass ich die nächsten zwanzig Tage noch erlebe.“

Das entlockte Sam einen Seufzer.

„Ja, da hast du recht. Aber Cass glaubt anscheinend, dass dieses Herz des Drachen wichtig ist, also müssen wir tun, was wir können.“

Keiner der Brüder hatte dem viel hinzuzufügen, also drehte Dean Metallica wieder auf. Das Tape war inzwischen bei Harvester of Sorrow angelangt und Sam wandte sich wieder der Entzifferung der Sauklaue seines Vaters zu.

Irgendwann driftete er in den Schlaf ab. Als er aufwachte, ging bereits die Sonne auf und der Impala flitzte aus Sacramento heraus.

„Also, haben wir einen Plan?“

Sam rieb sich den Schlaf aus den Augen.

„Kaffee?“

Dean schmunzelte.

„An der nächsten Raststätte.“

Sam schlug das ledergebundene Tagebuch seines Dads an der richtigen Seite auf und suchte nach einem Namen.

„Wir können ebenso gut in dem gleichen Motel wie Dad absteigen – Emperor Norton Lodge. Es ist an der Ellis Street, nicht weit von Chinatown. Dann, glaube ich, sollten wir es in dem Restaurant versuchen, in dem Dad den Geist letztes Mal verbannt hat.“

Dean blickte ihn an.

„Emperor Norton?“

Sam hielt inne, bevor er antwortete.

„Du kennst Emperor Norton nicht?“

„Nein, außer du meinst Carneys Figur aus The Honeymooners“, antwortete Dean. „Und ich glaube nicht, dass er es geschafft hat, mystischer Regent der Racoons von Grand High zu werden.“

Sam lachte.

„Ich kann nicht glauben, dass du die Geschichte nie gehört hast. Joshua Norton war ein schlechter Geschäftsmann, der am Ende total durchgedreht ist. 1859 erklärte er sich zu Norton I., Kaiser der Vereinigten Staaten und Beschützer von Mexiko. Er löste den Kongress auf und führte seine eigene Währung ein. Oh, und außerdem erlegte er jedem, der die Stadt ‚Frisco‘ nannte, eine Strafe von fünfundzwanzig Dollar auf.“

Dean schnaubte.

„Ja, klar. Wenn er uns über den Weg läuft, gebe ich ihm ’nen Zwanziger und ’nen Fünfer.“

„Keiner hat ihn ernst genommen, aber alle haben ihn geliebt. Und er hatte ein paar gute Ideen. Eines seiner Dekrete verhieß, die Bay Bridge und den Bay Area Rapid Transit zu bauen. Ich glaube, dass ich vor ein paar Jahren gelesen habe, dass sie die Brücke nach ihm umbenennen wollten.“

„Klasse, dann wohnen wir in der königlichen Suite und besorgen uns chinesisches Essen. Außerdem ist da ein Diner an der nächsten Ausfahrt.“

Sam blickte auf und sah ein blaues Schild, das anzeigte, welche Restaurants an der nächsten Ausfahrt waren. Außer dem Diner gab es drei Fast-Food-Läden und ein Starbucks. Er war versucht, Starbucks vorzuschlagen – was sie sich dank Deans Erfolg beim Pokern leisten konnten. Aber er entschied sich, dieses heikele Thema besser nicht anzusprechen. Sie waren jetzt erst seit einer Weile wieder zusammen auf der Jagd und alles lief gut.

Aber die Wunden waren noch relativ frisch. Es war nicht so sehr, dass Sam die Apokalypse verursacht hatte. Nein, dachte Sam. Das ist scheiße, aber was Dean wirklich verletzt hat, war, dass ich Ruby mehr vertraut habe als ihm. Und dass ich ihn belogen und betrogen habe.

Er hätte es besser wissen müssen.

Wenn es eine Sache gibt, an die wir uns erinnern müssen, ist es, dass wir zusammen besser sind als allein.

Deshalb entschied er, dass er nicht zu Starbucks gehen musste.

Er nickte, als Dean sich in die richtige Spur einordnete.

Albert war guter Laune, als er an diesem Morgen aufwachte. Er zog es vor, nur über zwei Treppen gehen zu müssen, und hatte eine Wohnung über Shin’s Delight. Als er aus dem Bad kam, klingelte sein Handy.

Zuerst fand Albert die Erfindung des Handys genial. Damit konnte er ohne Verzögerungen mit jedem seiner Leute sprechen. Das war ihm sehr entgegengekommen, als er seine Macht über Tommy Shins Zweig der Triaden festigte. Genau wie Tommy war er dem Alten weit voraus, wenn es darum ging, neue Technik einzusetzen. Trotzdem war er sehr vorsichtig bei deren Nutzung.

Leider taten die Strafverfolgungsbehörden das Gleiche. Als er endlich genug Telefone hatte, um ständig über alle Aktivitäten informiert zu sein, war es für die Polizei lächerlich einfach geworden, seine Leute aufzuspüren.

Das Wegwerf-Handy hatte dieses Problem entschärft – schnell im nächsten Kiosk gekauft und für die Cops unmöglich zurückzuverfolgen.

Also wechselte Albert sein Telefon regelmäßig jeden Monat. Die Konten liefen auf die Namen von Kindern, die für die Triaden Besorgungen machten. Das waren die niedrigsten in der Hierarchie, die absolut nichts über die Organisation wussten – und im Zweifelsfall zu jung für eine Strafverfolgung waren.

Das Handy, das jetzt gerade klingelte, war auf den Sohn eines Reinigungsinhabers zwei Häuser weiter registriert. Dafür, dass er den Namen des Jungen benutzen durfte, bekam der Vater einen Teil seiner monatlichen Zahlungen erlassen. Albert griff nach dem Telefon und sah, dass Oscar Randolph auf seine Mailbox gesprochen hatte und dass Han anrief. Also klappte er das Handy auf.

„Es geht um diese Kellnerin Mya Wu“, sagte Han. „Sie haben sie im Golden Gate Park gefunden. Es war wie bei Roy und Jack.“

Albert murmelte etwas auf Japanisch, während er das Telefon zuschnappen ließ.

Wie war das möglich?

Albert hatte Myas Tod ebenso wenig gewollt wie den von Roy oder Jack. Sicher, sie war ein kleines Ärgernis gewesen, aber er hatte sich vergewissert, dass sie der Polizei nichts gesagt hatte. Eigentlich schätzte er gerade Angestellte, die ihren Mund hielten, ohne dass man sie vorher bedrohen musste. Roy und Jack waren Idioten und hatten das Waffengeschäft mit dieser Motorradgang versaut. Albert war aber sowieso nicht sonderlich optimistisch gewesen, was Geschäfte mit diesen Gaunern betraf.

Keiner von beiden hatte etwas getan, das mit dem Tode bestraft werden musste.

Aber das war längst nicht das Schlimmste.

Das Herz des Drachen ist zurück, überlegte er, während seine Gedanken sich überschlugen. Aber das kann nicht sein. Es gibt niemand anderen …

Es war zwanzig Jahre her, seit ein Gaijin namens John Winchester den Geist mit einem Zauber für achtzig Jahreszeiten gebannt hatte. Das hatte Albert gezwungen, für sich selbst zu kämpfen und er hatte Mittel und Wege gefunden. Nach Tommy Shins Tod brauchte Albert keine übernatürliche Hilfe mehr. Er hatte alles, was er wollte.

Ihm war klar geworden, dass Doragon Kokoro keine Pistole war, die man nach Belieben hervorholen konnte. Eine solche Waffe hielt man für besondere Gelegenheiten in der Hinterhand. Und eine solche Gelegenheit hatte sich bisher nicht ergeben.

Albert zog sich leise fluchend an und eilte nach unten.

Zhong wartete vor der Bürotür auf ihn.

„Stimmt das mit Mya?“, fragte er.

„Ja“, antwortete Albert. Er griff in seine Hosentasche und angelte nach dem Schlüssel für seine Bürotür.

„Verdammt“, sagte Zhong. „Jetzt muss ich eine neue Kellnerin einstellen.“

Unter anderen Umständen hätte Albert vielleicht gelächelt. Zhong war niemals sentimental – das machte ihn zu einer guten Führungskraft.

Er öffnete die Tür und Zhong folgte ihm.

„Die Leute haben geredet“, sagte er zögernd.

Albert blickte auf und sah ihn an. Er war überrascht, denn Zhong war niemals zaghaft.

„Geredet? Über was?“

„Das Herz des Drachen“, antwortete Zhong. „Schau mal, ich war damals nicht hier und es ist mir scheißegal, was Lin passiert ist. Wenn du verbreiten wolltest, dass du über so eine Art Dämon verfügst, so ist das deine Sache – aber, verdammt es hat geklappt. Keiner stellt deine Autorität infrage. Aber das Gerede wird lauter und gerät außer Kontrolle. Seit sie Roys und Jacks Leichen am Ghirardelli Square gefunden haben.“

Albert setzte sich an seinen Schreibtisch und schaltete den Computer ein. Während er hochfuhr, drehte Albert sich zu Zhong um.

„Was, wenn sie wahr wären?“

„Wie bitte?“

„Nichts“, sagte Albert und wandte sich wieder seinem Computer zu. Es ergäbe doch keinen Sinn, Zhong ins Vertrauen zu ziehen. Außerdem würde er wahrscheinlich nur denken, dass sein Boss verrückt geworden sei. Das Herz des Drachen war nur eine Geschichte und Albert war sehr zufrieden, es dabei zu belassen.

Aber wer hat dann Roy, Jack und Mya getötet? Und warum auf eine Weise, die auf den Geist hindeutet?

„Du kannst versichert sein, Zhong, dass ich in letzter Zeit keine Geister beschworen habe, um Leute umzubringen, die mir auf die Nerven gehen.“

„Und warum nicht?“, kam zur Antwort.

Albert blinzelte.

„Wie bitte?“

„Wenn der Geist frei ist“, sagte Zhong, „warum soll man sich ihn nicht zunutze machen?“

Albert blinzelte erneut.

„Wovon sprichst du?“

Zhong grinste. Das war überhaupt nicht seine Art.

„Ich rede über Doragon Kokoro, Albert. Ich rede über den Geist, den du vor zwanzig Jahren hast auferstehen lassen. Und du hättest es wieder tun können. Das hast du aber nicht. Die Frage ist nur – warum?“

Während er sprach, hatten sich Zhongs Augen plötzlich tiefschwarz gefärbt. Sie schienen wie Löcher, die tief in seinen Schädel reichten.

Albert sprang auf.

„Was willst du, Dämon?“

Zhongs Gesichtszüge zeigten Überraschung.

„Du weißt tatsächlich, was ich bin?“

„Seit das Herz des Drachen zum zweiten Mal aus meiner Hand gerissen wurde, habe ich mehr über das Okkulte gelernt“, sagte Albert und fingerte an einem Amulett herum, das um seinen Hals hing. Er hatte sogar einen Berater, einen Gaijin namens Oscar Randolph, auf der Gehaltsliste – obwohl er ihn längere Zeit nicht konsultiert hatte.

„Ich weiß, was du bist, Dämon. Was ich nicht weiß, ist, warum du hier bist.“

Die Kreatur, die Zhongs Gesicht trug, benutzte es für ein höhnisches Grinsen.

„Weil du etwas hast, das mir gehört“, sagte er und jede Spur eines Lächelns war verschwunden. „Doragon Kokoro gehört mir, Albert Chao. Ich habe ihn erschaffen. Ich habe sogar immer noch begrenzte Kontrolle über ihn, aber nur wenn es mit deinen Wünschen übereinstimmt.“

„Trotzdem wollte ich diese Leute nicht umbringen!“, zischte Albert.

„Klar wolltest du das“, sagte der Dämon mit Zhongs Stimme. „Vielleicht nicht bewusst, aber tief in deinem Innern – an dem Ort, an dem der kleine Junge wohnt, der nur Ablehnung erfahren hat und niemals das bekam, was er wollte. Er wollte, dass diese drei sterben.“

„Was ich will, ist dagegen einfach“, fuhr er fort. „Ich will meinen Geist zurück. Den Puppenspieler zu geben ist für ein paar Lacher gut, ich dagegen habe ein paar Engel umzubringen. Darum wirst du ihn ausliefern.“

Albert lächelte. Mit dieser Erklärung hatte der Dämon verraten, dass Albert Macht über ihn besaß.

Er fingerte weiter an dem Anhänger herum, den er vor einigen Jahren von Bela Talbot, einem Freund von Oscar, gekauft hatte. Bela hatte ihm versprochen, dass es ein mächtiger Talisman sei, der ihn vor Dämonen schützen sollte. Sie konnten so keinen Besitz von ihm ergreifen. Offensichtlich funktionierte es. Wenn der Dämon das Herz des Drachen kontrollieren wollte, musste er lediglich Albert unter seine Kontrolle bringen.

Wenn er es denn könnte.

„Dann hast du ein Problem, Dämon, weil ich die Kontrolle über den Geist meines Vorfahren nicht abgeben werde. Nicht an irgendwen oder irgendwas. Du wirst mich töten müssen – aber, oh ja, das geht nicht, oder?“ Den letzten Satz sagte er mit einem breiten Lächeln. „Nicht, wenn du nicht willst, dass Doragon Kokoro wieder zurück in die Vergessenheit fällt.“

„Nein – und ich kann dich nicht besitzen, solange du dieses … Ding um den Hals hast.“ Der Dämon lächelte jetzt merkwürdigerweise. „Aber glaube nicht, dass ich dir nichts anhaben kann, Albert Chao. Das habe ich bereits bewiesen.“

„Indem du meine drei Leute getötet hast?“ Albert verwarf diesen Einwand mit einer Handbewegung. „Pfah. Ihre Leben bedeuteten mir nichts. Viele haben über die Jahre versucht, mich zu verletzen, aber ich bin immer noch hier.“

„Viele Menschen haben versucht, dich zu verletzen, aber das ist für mich kein Maßstab.“ Der Dämon seufzte. „Schau mal, vielleicht können wir uns einigen.“

Er lehnte sich über den Schreibtisch und seine pechschwarzen Augen jagten Albert unwillkürlich einen Schauer über den Rücken.

„Ich möchte mir Nakadai nur für eine Weile borgen. Ich kann es dir gut vergelten.“

Albert lachte.

„Was willst du mir anbieten, Dämon? Eine Lektion für die, die mich abgelehnt haben? Armselige Rache für Beleidigungen, ob echt oder eingebildet? Hättest du mir dieses Angebot gemacht, als ich meinen Vorfahren zum ersten Mal beschworen habe, hätte ich glücklich eingewilligt. In meiner jugendlichen Unreife war das genau das, wofür ich das Herz des Drachen benutzt habe. Ich war ein erbärmliches Kind, das alle Ungerechtigkeiten mit großen Konsequenzen ahndete.“

Albert lehnte sich vor und legte die Handflächen flach auf den Tisch.

„Dieses Kind bin ich nicht mehr. Es war die Abwesenheit des Geistes, die mir meine wahren Wünsche erfüllt hat. Ich bin in den Triaden durch meine eigene harte Arbeit aufgestiegen, habe meine Fähigkeiten eingesetzt, um den Halbblut-Makel zu überwinden. Ich bin seit zwanzig Jahren ohne den Geist an der Macht. Dass mir das Herz des Drachen weggenommen wurde, war das Beste, was mir je passiert ist.“

Zhong schnaubte wie ein Tier.

„Fähigkeiten. Klar. Das wäre zum einen die Unverletzbarkeit, die dir Doragon Kokoro verliehen hat, nicht wahr? Ohne sie wärst du längst Würmerfutter.“

„Vielleicht“, sagte Albert, der sich nicht ins Wanken bringen lassen wollte. „Aber der Geist ist mein und ich kann mit ihm tun und lassen, was ich will.“

Der Dämon ging zum Schreibtisch und beugte sich direkt vor Alberts Gesicht. In seinem Atem konnte Albert die Erdnusssoße riechen, die Zhong immer auf seinem Essen verteilte.

„Dann gib ihn mir“, fauchte er.

Albert richtete sich schnurgerade auf.

„Ich ziehe dein Angebot in Betracht, Dämon. Komm morgen wegen einer Antwort wieder.“

Die schwarzen Augen starrten ihn mehrere Sekunden an, ohne zu blinzeln.

Dann fiel Zhongs Kopf nach hinten, schwarzer Rauch fuhr aus seinem weit geöffneten Mund und wand sich in Richtung Decke, wie ein obsidianfarbener Tornado.

Schließlich verschwand er und Zhong brach bewusstlos zusammen.

Albert rief jemanden von unten, der sich um Zhong kümmern sollte, dann zog er sein Telefon aus der Tasche.

Er hatte auf Oscars Nachricht nicht geantwortet, sie nicht einmal abgehört. Er hatte gedacht, er wäre fertig mit dem Okkulten. Während der neunziger Jahre hatte er wie besessen alles darüber gelernt, aber in letzter Zeit keine echte Verwendung dafür gehabt. Er hatte sogar erwogen, Oscar zu entlassen. Jetzt aber schien es so, als wäre ihm das Okkulte wieder einmal von Nutzen.

Er klappte das Telefon auf und hörte die Nachricht ab.

„Heyo, Albert, hier ist Oscar. Hör mal, ich weiß, dass du nich’ viel drauf gibst, was ich dir erzähle, aber erinnerst du dich an den Suchzauber, um den du mich vor einer ganzen Weile gebeten hast, um nach diesem Schwert zu suchen? Nun, das glaubst du nicht, aber der Zauber hat sich gerade reaktiviert und fast mein Haus in Brand gesetzt. Hey, ruf mich zurück, okay?“

Albert fluchte, weil er so ein Narr war.

Vor vierzig Jahren hatte ein kahlköpfiger Mann mit seiner Frau und Tochter ihn aufgehalten und ihm die größte Waffe entrungen, die er je besessen hatte. Aber was er damals nicht besessen hatte, waren die Ressourcen, um herauszufinden, wo sie herkamen.

Vor zwanzig Jahren war es wieder passiert – und wieder durch die Hand eines weißen Mannes. Dieses Mal hatte er einen Namen herausfinden können: John Winchester.

Aber weiter nichts.

Albert hatte Oscar Randolph 1996 kennengelernt. Er hatte ein Haus im Mill Valley, das er von seinem Vater geerbt hatte. Der war als Arzt im Koreakrieg gewesen und gefallen.

Als Albert zum ersten Mal in das alte Haus in dem Vorort von San Francisco kam, öffnete ein verwitterter Kaukasier mit einem dicken weißen Bart und wenigen weißen Haaren die Tür. Er trug ein ausgewaschenes Flanellhemd, abgetragene Jeans und ungeputzte Cowboystiefel.

„Was zur Hölle willst du denn?“

„Mein Name ist Albert Chao und ich möchte Sie anheuern.“

Der Mann lachte herzhaft.

„Du willst mich anheuern? Der Anzug, den du trägst, ist mehr wert als mein Haus und das Tattoo da bedeutet, dass du zu den Triaden gehörst. Wofür zur Hölle brauchst du mich?“

„Die Verbindungen der ‚Triaden‘ reichen nicht bis in die Welt der Geister“, drängte Albert. „Du hast diese Verbindung. Diese Informationen sind für mich von großem Wert.“

„Ja?“ Oscar kratzte sich das Kinn unter seinem dicken Bart.

„Also brauchst du mich nicht, um was umzubringen?“

„Nein.“

„Is schade.“

Albert runzelte die Stirn.

„Warum?“

Oscar grinste wieder.

„Weil ich gehofft hatte, dass es was zum Töten gibt. Verdammt, das isses Einzige, was ich am Jagen vermisse.“ Das Grinsen zerrann. „Also, was willst du?“

„Informationen.“

„Gibt’s ’nen guten Grund, warum ich das Angebot annehmen sollte?“

Mit einem leichten Lächeln antwortete Albert.

„Weil du nicht zu verhungern wünschst. Deines Vaters Erbe geht zur Neige. Deine Investitionen haben sich nicht ausgezahlt. Innerhalb von sechs Monaten gesellst du dich zu den Obdachlosen und bist mittellos. Ich kann dich davor bewahren.“

Oscar starrte Albert mehrere Sekunden lang an, bevor er endlich ein Wort herausbrachte.

„Die Informationen, die du brauchst – müsste ich dafür andere Jäger verpfeifen?“

„Möglich.“

Auf Oscars Gesicht breitete sich ein neues Grinsen aus.

„Geht für mich in Ordnung. Ist ’n Haufen Trottel, die ganze Bande. Reißen sich ’n Arsch auf, um das Böse zu stoppen, und es wird trotzdem immer stärker. Ich hab von denen allen die Schnauze voll. Ich freu mich sogar drauf, es ihnen mal zu zeigen.“

Er streckte die Hand aus.

„Sie ham ’nen neuen Angestellten, Mr. Chao.“

Oscar nannte sich selbst „Jäger“ und nach dem, was er erzählte, war John Winchester auch einer.

Dass Oscar den Ruhestand erreicht hatte, beeindruckte Albert. Die Informationen, die er in den sieben Jahren gesammelt hatte, waren lückenhaft. Aber er hatte gelernt, dass die meisten, die das Übernatürliche jagten, nicht lange genug lebten, um sich zur Ruhe zu setzen.

Über die Jahre hatte Oscar immer mehr Informationen geliefert, auch als Albert das Interesse verloren hatte zuzuhören. Nichts war wirklich verlässlich und vieles war widersprüchlich, doch es ermöglichte Einsichten in die Welt, mit der er bei jeder Beschwörung des Herzens des Drachen die Wege gekreuzt hatte.

Gerade vor einem Jahr hatte Oscar ihm berichtet, dass er verdammt sicher sei, dass John Winchester nicht mehr lebte. Die Geschichten reichten von einer Ermordung durch Vampire über die Besessenheit von einem Dämon bis dahin, dass er mit einer antiken Waffe erschossen und von Ghouls gefressen worden sei. In einer Geschichte hatte er den Tod sehr profan gefunden, ein Laster hatte ihn überfahren.

John Winchester hatte anscheinend zwei Söhne, die selbst zu sehr beeindruckenden Jägern geworden waren. Albert glaubte nicht alle von Oscars Erzählungen – sie waren selbst für übernatürliche Geschichten einfach zu lächerlich.

Sein Profit stieg. Wenn die Apokalypse wirklich kam, war sie eindeutig gut fürs Geschäft.

Irgendwann hatte Oscar erwähnt, dass er einen Zauber aussprechen konnte, der ihn warnte, sollte das Hakenschwert über die Stadtgrenze von San Francisco gebracht werden.

Weil der Tag sich genähert hatte, an dem Albert Nakadai wieder rufen konnte, befahl er dem alten Jäger, den Zauber zu sprechen.

Dann hatte er die ganze Sache vergessen – bis heute.

Er rief Oscar zurück.

„Yo?“

„Wo ist das Schwert, Oscar?“

„Schön von dir zu hören, Oscar. Wie isses dir ergangen, Oscar? Es ist ja schon ’ne ganze Weile her, dass wir uns unterhalten ham, Oscar“, sagte der alte Mann sarkastisch.

Albert hatte dafür keine Geduld.

„Ich hatte gerade Besuch von einem Dämon, der die Kontrolle über das Herz des Drachen verlangt. Wenn das Schwert in San Francisco ist, dann brauche ich es. Wo ist es?“

„Irgendwo in der Ellis Street“, antwortete der Jäger. Jegliche Spur von Sarkasmus war aus seiner Stimme verschwunden. „Ist heute Morgen angekommen und ich bin gleich hin, um genau zu sehn wo. Ich konnt es nich ganz genau bestimmen, aber fast – da kannste drauf wetten. Habe dir ’ne Karte mit der Adresse gemailt.“

Albert checkte schnell seine Emails und schickte den Wisch an Tinys Konto weiter.

„Danke, Oscar“, sagte er. „Und bleib am Telefon. Ich benötige vielleicht bald wieder deine Dienste.“

„Null Problem. Soll ich für dich ’ne Teufelsfalle anrühren? Hilft vielleicht, wenn du wieder vor dem Dämon stehst.“

„Das wäre ausgezeichnet“, antwortete Albert. „Bring sie heute im Restaurant vorbei.“

„Alles klar.“

Dann legte Albert auf und rief Tiny an.

„Ich habe dir gerade eine Karte geschickt, auf der ein bestimmter Block eingezeichnet ist. In diesem Block ist ein Hotel. Ich möchte, dass du zwei junge Männer für mich findest, die heute eingecheckt haben – es sind Brüder, also könnten sie beide den gleichen Nachnamen haben. Sie haben ein Hakenschwert in ihrem Besitz, auf dem Kanji-Zeichen stehen. Ich will das Schwert. Nimm Jake mit. Mach dir keine Gedanken darüber, jemanden zu töten, der dich aufhalten will.“

„Ja, Boss.“

Auch wenn er keine Verwendung für den Geist hatte – zumindest im Moment nicht – so gehörte das Herz des Drachen immer noch Albert.

Er würde es sich von keinem neunmalklugen Dämon wegnehmen lassen.

Загрузка...