Neunzehn
Mya Wu lief im blassen Licht des Halbmonds durch den Golden Gate Park um ihr Leben.
Sie hatte noch nie in ihrem Leben solche Angst gehabt. Die Angst hatte sich in ihre Brust gekrallt und wollte sie nicht loslassen. Selbst in ihren schlimmsten Träumen hätte sie sich nicht ausmalen können, dass so etwas existierte.
Nicht bis zu dem Tag, an dem sie die ersten Schüsse hörte.
Mya war in San Francisco als Kind eines chinesisch-amerikanischen Vaters und einer deutsch-amerikanischen Mutter geboren worden. Sie war in eine öffentliche Grundschule, eine öffentliche High School und dann auf die San Francisco State University gegangen. Dort studierte sie Schauspiel, hatte durchschnittliche Noten und war weder besonders gut noch besonders schlecht.
Die Schauspielerei war schon immer Myas Leidenschaft gewesen. Auch wenn sie keine Hauptrollen bekam, hatte sie am Ende meistens irgendeine Rolle. Wenn das nicht klappte, half sie hinter der Bühne. Es gab ihr das Gefühl dazuzugehören.
Nachdem sie den Abschluss gemacht hatte, blieb sie bei ihren Eltern wohnen. Die ließen sie machen, was sie wollte, solange sie nicht mit dem Gesetz in Konflikt kam.
Diese Warnung erübrigte sich eigentlich, denn Mya hatte nicht einmal in der Schule nachsitzen müssen. Auch ihre Freunde gehörten nicht zu den Menschen, die Ärger mit anderen bekamen, schon gar nicht mit der Polizei. Die einzigen Polizisten, die sie je aus der Nähe gesehen hatte, waren auf der Straße an ihr vorbeigegangen.
Zumindest bis sie den Job bei Shin’s Delight bekam.
Obwohl Mya sehr gern schauspielerte und wirklich Talent hatte, hatte sie niemals den Antrieb gehabt, ihre Karriere ernsthaft zu verfolgen. Sie hatte Fotos eingereicht und an Vorsprechen teilgenommen, die ihr Rollen in verschiedenen Stücken in Theatern im Tenderloin District eingebracht hatten. Nichts davon erweckte allerdings ernsthafte Aufmerksamkeit.
Also nahm sie in alter Tradition der Schauspieler einen Job als Kellnerin an. Als sie mit dieser Arbeit anfing, erinnerte sie sich an einen Witz, den einer ihrer Professoren an der SFU erzählt hatte.
Ein Mann trifft eine Frau in einer Bar.
Der Mann fragt: „Was machst du beruflich?“
Die Frau antwortet: „Ich bin Schauspielerin.“
Darauf der Mann: „Oh, ja. In welchem Restaurant?“
Myas Gesicht verriet nicht nur die chinesische Herkunft ihres Vaters, denn sie hatte auch die blauen Augen ihrer Mutter geerbt. Ihre asiatische Erscheinung machte es schwierig für sie, an gute Rollen zu kommen. Allerdings verbesserte sie ihre Chancen auf einen Job in Chinatown.
Dazu kam, dass Mya neben englisch auch fließend chinesisch und deutsch sprach. Sie war also mehr als qualifiziert, in einem Restaurant zu arbeiten, das sogar in der touristischen Hauptsaison fast nur von Einwohnern aus Chinatown besucht wurde.
Shin’s Delight an der Pacific Avenue war so ein Restaurant. Und außerdem suchten sie Personal.
Zuerst lief alles gut. Mya arbeitete gern mit Leuten und mochte ihre Arbeitskollegen. Ehrlich gesagt kam Mya mit jedem gut aus.
Es gab allerdings eine Ausnahme – den merkwürdigen, älteren Herren, der das Restaurant leitete.
Albert Chao war ein geheimnistuerischer Mann mit einer spitzen Nase, der kaum aus seinem Büro herauskam. Wenn er das tat, dann meistens um jemanden anzuschreien – mit oder ohne Grund. Oder um mit der Polizei zu sprechen, die regelmäßig vorbeikam. Gelegentlich waren die Besucher uniformierte Officers, meistens kletterte allerdings ein Detective die Stufen zum Büro hinauf.
Mya hatte nie verstanden, warum die Polizei immer wieder ins Restaurant kam. Sie hatte Zhong, den Manager, gefragt, aber er hatte ihre Frage einfach abgeschmettert.
„Das ist nichts, was uns etwas angeht“, hatte er gesagt und sich im Raum umgeblickt, bis seine Augen an einem Tisch hängen blieben. „Tisch vier braucht noch Wasser – kümmere dich darum.“ Dann klatschte er in die Hände, um sie loszuschicken.
Sie tat, wie ihr befohlen, ließ sich aber nicht beirren.
Sie fragte vorsichtig herum und passte auf, dass Zhong es nicht mitbekam. Sie hörte allerdings nur Gerüchte und ihr gefiel nicht, was da gemutmaßt wurde.
Deshalb entschied sie sich, der Sache keine weitere Beachtung zu schenken.
Ein nahe gelegenes Geschäft wollte die Weihnachtsferien, die bald begannen, mit einem Mittagessen feiern und lud dazu all seine vierzig Angestellten zu Shin’s Delight ein. Zusätzlich zum Tagesgeschäft hielt das die gesamte Belegschaft auf Trab. Es bedeutete, dass ihr üblicher Vorrat schneller zur Neige ging als sonst. Bald hatten sie nur noch wenige Tischdecken und Servietten, also schickte Zhong Mya in den ersten Stock zum Lagerschrank, in dem einige Sachen für solche Notfälle aufbewahrt wurden.
Der Weg führte sie an Albert Chaos Büro vorbei und sie setzte ihre Füße nur vorsichtig auf, weil sie nicht bemerkt werden wollte. Während sie vorbeischlich, hörte sie einen Knall wie von einer Fehlzündung.
Aber das Geräusch kam aus dem verschlossenen Büro. Sie fragte sich gerade, ob es durch ein offenes Fenster hereingedrungen war. Dann roch sie Rauch.
Gefolgt von Gelächter.
Und dann hörte sie einen weiteren Schuss.
Mya erstarrte und umklammerte einen Stapel Servietten vor ihrer Brust. Jemand schrie.
Der Schrei endete so abrupt, wie er begonnen hatte, und wurde von einem Wimmern abgelöst. Sie war besorgt, dass vielleicht jemand verletzt war und ignorierte ihren Instinkt, der ihr sagte, so schnell zu rennen, wie sie konnte. Sie klopfte an die Tür.
„Hallo? Ist alles in Ordnung? Ich dachte, ich hätte etwas gehört?“
Die einzige Antwort war ein weiterer Knall. Das Wimmern verstummte.
Mya stand wie angewurzelt da. Die jetzt folgende Stille war noch furchterregender als die Geräusche.
Dielen knarrten und die Tür öffnete sich langsam.
Albert Chao hatte einen dicken, weißen Haarschopf, der in der Mitte gerade hochstand und ihm den halben Rücken hinunterhing. Er sah aus wie die asiatische Version eines verrückten Wissenschaftlers. Er sah sie mit seinen grausamen Augen an, die Unheil verkündend über seiner spitzen Nase saßen. Das war nicht besonders bedrohlich, denn so sah er immer aus, wenn sie ihn zu Gesicht bekam.
Nein, was ihr jetzt Angst einjagte, war ein roter Fleck auf seiner Brust. Mya hatte genug merkwürdige Unfälle gesehen, um genau zu wissen, wie ein Blutfleck aussah – und das war einer.
„Was willst du?“, fragte er in besorgniserregend ruhigem Ton.
Myas Herz schlug so schnell, dass sie es fühlen konnte.
„Ich … äh. Ich bin hier hochgekommen, um mehr … mehr Servietten zu holen und … äh … äh … ich habe gehört …“
„Du hast gar nichts gehört!“, sagte Mr. Chao streng. „Du hast auch nichts gesehen. Hast du das verstanden?“
Sie nickte so heftig, dass sie fürchtete, ihr Kopf würde abbrechen.
„Okay! Natürlich! Ich meine …“, stammelte sie. „Brauchen Sie … brauchen Sie Hilfe?“
„Geh jetzt.“
Das Nächste, woran Mya sich erinnerte, war, wie sie mit den Servietten im Arm nach unten lief und sie Zhong hinschleuderte. Sie konnte sich nicht mal erinnern, dass sie die Treppe hinuntergerannt war.
Trotzdem war sie hier.
Zhong starrte sie besorgt an.
„Geht es dir gut?“, fragte er. „Du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen!“
„Ich, äh …“ Aber sie konnte nicht die richtigen Worte finden. Zhong wartete darauf, dass sie etwas sagte, bis er schließlich die Geduld verlor.
„Nun, reiß dich zusammen. Wir müssen immerhin das Mittagessen hinter uns bringen.“
Sensibilität war nicht gerade seine Stärke.
Obwohl Zhong so tat, als sei alles wie immer, hing Spannung in der Luft. Mya war nicht die Einzige, die die Schüsse gehört hatte, aber niemand wollte darüber sprechen. Schlimmer noch, Leute, die sie kannte, waren von der Bildfläche verschwunden. Nicht die Kellner, aber Leute aus den Büros im ersten Stock. Sie nahm an, sie hatten wegen des Stresses gekündigt.
Aber Mya hatte diese Möglichkeit nicht – sie brauchte diesen Job.
Die Situation wurde in den darauffolgenden zwei Tagen immer schlimmer, weil mehr Polizisten als sonst vorbeikamen. Und sie fingen an, mit dem Personal zu reden. Schließlich erfuhr sie, dass man am Ghirardelli Square Leichen gefunden hatte. Die Toten konnten gerade so als Angestellte von Shin’s Delight identifiziert worden. Gerade so, weil sie fast bis zur Unkenntlichkeit verbrannt waren.
Als sie vernommen wurde, war Mya versucht, den Polizisten etwas von dem Vorfall mit Mr. Chao zu erzählen. Aber wenn sie das täte, müsste sie auch von den Gerüchten erzählen. Gerüchte, die sie nicht geglaubt hatte – bis zu dem Tag, an dem sie die Servietten geholt hatte.
Dass das Shin’s Delight der Mafia als Tarnung diente.
Mya wusste nicht, wie Mafiamitglieder aussahen. Klar, sie hatte ein paar merkwürdig aussehende Gestalten die Treppe hoch- und runtergehen sehen. Einige kamen durch die Vordertür, andere durch den Hintereingang. Aber die waren auch nicht merkwürdiger als die, die beim Theater in der Technik-Crew arbeiteten, um schwere Sachen zu tragen. Sie hatte nie angenommen, dass die Gangster waren, warum sollte sie das also von den Leuten im Restaurant denken?
Als der Detective von der Bezirkswache – ein etwas untersetzter Mann in einem schlecht sitzenden, dunkelgrauen Anzug – fragte, ob sie etwas Ungewöhnliches beobachtet hätte, sagte sie nur, dass sie überhaupt nichts wüsste.
Das war in gewissem Sinne sogar die Wahrheit, sagte sie sich. Nichts, was sie gesehen hatte, ergab einen Sinn. Wie konnte sie also behaupten, dass sie etwas ‚wüsste‘.
Nachdem sie mit dem Detective gesprochen hatte, wurde alles nur noch schlimmer.
Jeden Tag schien es so, als käme Mr. Chao die Treppe herunter, um sie zu beobachten. Sie hatte zufällig gehört, dass er Zhong fragte, ob sie gut arbeite und ob sie unnötig mit den anderen Angestellten spreche.
Zhong, Gott segne ihn, sang ein Loblied auf sie – zumindest für seine Verhältnisse.
„Hab sie noch nicht beim Klauen erwischt“, hatte er gesagt.
An einem Dezemberabend wollte sie nach der Arbeit in den Golden Gate Park gehen.
Ein aufstrebender Bühnenautor wollte den ersten Akt seines neuen Stückes mit verteilten Rollen lesen lassen, um zu sehen, ob der Dialog natürlich klang. Er hatte ein paar Schauspieler dazugebeten. Wie die meisten jungen Autoren konnte er es sich nicht leisten, einen Raum zu mieten. Sein Apartment war für alle zu klein, also hatte er einige Freiwillige zur Marx Meadow eingeladen.
Die Marx Meadow lag in einer Ecke des Parks, in der viele Picknicktische standen – war also ideal für diesen Zweck. Straßenlaternen leuchteten in den Park hinein und versprachen zusammen mit der bevölkerten Straße relative Sicherheit, auch in der frühen Dunkelheit des Winters. Mya las die Rolle von Gina, der besten Freundin der Heldin. Das war genau die Rolle, die sie immer bekam. Sie fand einen Großteil des Dialogs ziemlich holprig. Der Autor machte sich eine Menge Notizen.
Als sie fertig waren, wollten die anderen noch etwas trinken gehen und luden sie zum Mitkommen ein. Aber Mya musste am nächsten Morgen früh zur Arbeit.
Außerdem mochte sie keinen Alkohol.
Also sagte sie gute Nacht und ging nach Norden. Weil alles gut beleuchtet war, nahm sie eine Abkürzung durch die Bäume zur Bushaltestelle an der nahe gelegenen Fulton Street.
Plötzlich versperrte ihr ein brennender Mann den Weg.
„Oh mein Gott!“, rief sie. „Nicht bewegen … warten Sie, nein! Sie müssen sich auf den Boden werfen und hin- und herrollen. Das wird es löschen. Hinwerfen und rollen!“ Sie griff nach ihrer Handtasche, zog das Handy hervor und begann 9-1-1 zu wählen.
Dann bemerkte sie, dass er nicht schrie.
Oder eigentlich gar nichts tat.
Er stand nur so da.
„Können Sie mich hören?“, fragte sie und ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken. Sie blickte sich schnell um, aber es war niemand in der Nähe, der helfen konnte. Also richtete sie ihre Aufmerksamkeit zurück auf den brennenden Mann.
Er blieb stumm. Dann bemerkte sie, dass nichts anderes in Brand geraten war, obwohl um sie herum überall Büsche und Bäume standen. Nicht einmal das Gras hatte Feuer gefangen.
Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, konnte aber kein Wort herausbringen. Währenddessen erhob der Mann die Arme und sie bemerkte ein riesiges, gebogenes Schwert.
Genau dann sprach der Mann endlich. Seine Stimme hörte sich an, als käme sie durch ein wirklich lausiges Soundsystem – irgendwie düster und knisternd. Aber was die gutturalen Laute auch bedeuteten, sie waren weder Englisch, Chinesisch noch Deutsch. Für Mya klang es wie Japanisch und sie glaubte, das Wort ‚Drache‘ verstanden zu haben.
Doragon Kokoro. Das hatte er gesagt.
Aber irgendwie, obwohl sie die Worte nicht verstand, wusste Mya, was sie bedeuteten.
Mit einer schnellen Bewegung thronte er plötzlich fast über ihr.
Sie rannte los.
Sie lief in keine besondere Richtung, sie fing einfach an zu rennen. Zwei Jahre kellnern hatte ihr starke Beine eingebracht, also konnte sie sich schnell durch die Bäume bewegen.
Aber egal wohin sie lief und wie schnell sie auch rannte, Doragon Kokoro hielt mit ihr Schritt. Die Flammen um ihn herum brannten lichterloh und er hielt sein Schwert erhoben, als wollte er sie zerteilen.
Sie wusste nicht mehr, wo sie war. Die Tatsache, dass der Park menschenleer war, verstärkte ihre Panik nur. Obwohl es ein kühler Dezemberabend war, hätten wenigstens ein paar Menschen hier sein müssen. Selbst als sie merkte, dass sie gerade über den Kennedy Square lief, war dort niemand.
Sie versuchte, um Hilfe zu rufen, aber es kam nur ein raues Krächzen heraus und ließ sie nach Luft schnappen. Starke Beine waren das eine, aber sie war seit Jahren nicht mehr laufen gewesen. Ihre Lungen begannen zu brennen und ein stechender Schmerz schoss durch ihre Waden.
Sie rannte trotzdem weiter und hoffte, dass sie ihren Angreifer abschütteln konnte.
Wo sind nur alle?
Mehr taumelnd als rennend kam sie am Ufer des Lloyd Lake an und musste anhalten. Als sie sich umdrehte, wusste sie, was sie erwartete.
Dort stand der brennende Mann mit erhobenem Schwert. Die Flammen brachen sich im dunklen Wasser des Sees.
Endlich fand sie ihre Stimme wieder, aber statt eines Schreis kam nur ein Wimmern heraus.
„Oh Gott, bitte nicht. Ich will nicht sterben. Bitte bringen Sie mich nicht um, bitte. Ich will nicht sterben!“
Ihre Stimme wurde lauter, Doragon Kokoro zögerte und Mya verstummte. Sie hoffte, dass sie ihn vielleicht umgestimmt hatte. Für einen Moment glaubte sie, Traurigkeit in seinen brennenden Augen zu erkennen.
„Ich will nicht sterben“, wiederholte sie.
„Das wollte ich auch nicht“, antwortete er und ließ das Schwert nach unten sausen.
Dieses Mal war es anders.
Jetzt konnte Nakadai mit den Lebenden kommunizieren. Seine Taten wurden immer noch von anderen kontrolliert, aber er fühlte sich stärker, schneller und fähiger.
Wegen dieser Änderungen stellten sich verzwickte Fragen. Er konnte Albert Chaos Präsenz immer noch spüren. Allerdings war er sich nicht sicher, ob es wirklich Albert war, der ihn lenkte.
Er erschien in einem Wald, der von Fackeln ohne Flammen erleuchtet wurde. Innerhalb von Sekundenbruchteilen stand eine Frau vor ihm und eines war klar – egal wer sie war, sie musste sterben.
Also verfolgte er sie, bis sie ihm nicht mehr ausweichen konnte.
„Oh Gott, bitte nicht. Ich will nicht sterben. Bitte bringen Sie mich nicht um, bitte. Ich will nicht sterben!“, sagte sie flehentlich.
Nakadai zögerte. Ihre Worte erinnerten ihn daran, wie es war, menschlich zu sein. Daran, wie er sich am Tag seines eigenen Todes gefühlt hatte. Wie lange war das her?
Das Schwert sauste nach unten.
Einen Augenblick später stand er über ihrer verbrannten und verstümmelten Leiche am still ruhenden See und fragte sich, wie lange er diesen Fluch noch ertragen musste.
„Sieh einer an“, sagte eine Stimme hinter ihm. „Ist eine Weile her, Nakadai, nicht wahr?“
Er drehte sich um und sah einen blonden jungen Mann in kurzen Hosen und einem ärmellosen Hemd.
„Es ist wirklich gut, dich zu sehen“, sagte der blonde Mann mit einem breiten Lächeln. „Natürlich läuft nicht alles genau wie geplant, aber es ist ein Anfang.“
„Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen“, sagte Nakadai zu dem Fremden. „Aber es hat mit mir nichts zu tun. Ich werde jetzt gehen.“
„Nicht so schnell, Witzbold.“ Der Mann machte eine Geste.
Plötzlich konnte Nakadai sich nicht mehr bewegen.
Er kniff die Augen zusammen und starrte den Fremden an. Dieser Mann kam aus dem Westen. Er konnte keiner seiner Nachkommen sein – wie konnte er also Macht über ihn haben, außer …
„Du.“
„Ja.“ Seine blauen Augen färbten sich tiefschwarz. „Diesen Typen hier mag ich viel lieber als Cho, den Boten. Er war ein hässlicher Vogel.“
„Was willst du?“ Obwohl er sprechen konnte, war der Ronin immer noch wie gelähmt.
Der Dämon grinste und zeigte seine perfekten weißen Zähne.
„Was glaubst du, das ich will?“, fragte er und diesmal war eine Spur der gutturalen Stimme zu erkennen, mit der Akemi zu ihm gesprochen hatte.
„Du glaubst doch nicht, dass ich dich nur zur allgemeinen Belustigung bei lebendigem Leibe verbrannt habe, oder?“
„Ich würde nicht behaupten zu wissen, wie dein Verstand funktioniert.“
Der Dämon lachte rau.
„Das mag sein“, antwortete er. „Aber nein, ich hatte langfristige Pläne mit dir, Nakadai. Oder sollte ich sagen ‚Herz des Drachen‘? Ich muss zugeben, es ist zum Schreien komisch, dass dieser Spitzname seit zweihundert Jahren an dir kleben geblieben ist. Du hast ihn schließlich so gehasst.“
„Pläne?“, fauchte Nakadai.
„Selbstverständlich! Es ist endlich Zeit, dass sie in die Tat umgesetzt werden.“
„Warum gerade jetzt?“
Der Dämon warf den Kopf in den Nacken und lachte wieder.
„Hast du nicht aufgepasst? Mir ist klar, dass das mit dir nicht viel zu tun hat, aber das Ende aller Tage ist gekommen! ‚Der Tod kommt auf einem fahlen Pferd‘, weißt du? Hunde und Katzen teilen das Lager … Massenhysterie? ‚It’s the end of the world as we know it, and I feel fine‘.“
Er hatte keine Ahnung, was der Dämon da plapperte, also starrte Nakadai ihn an.
Der Dämon schüttelte den Kopf und seufzte dramatisch.
„Ihr Geister der Verdammten wisst die Klassiker einfach nicht zu schätzen. Sieh mal“, sagte er und streckte die Arme aus, als wolle er die ganze Welt umfassen. „Wir reden hier über die Apokalypse. Dämonen gegen Engel und möge der Bessere gewinnen. Und du, Nakadai, bist mein Ass im Ärmel.“
Nakadai runzelte die Stirn.
„Ich verstehe nicht.“
„Du hast bestimmt schon festgestellt, dass du dieses Mal mehr Mojo draufhast. Früher konntest du nur wie ein Narr dein brennendes Schwert schwingen. Aber die Dinge sind jetzt anders.“
„Die Siegel wurden aufgetan, Luzifer ist frei. Gott ist nicht im Himmel und die Welt steht so ziemlich auf dem Kopf. Also ist es Zeit für dich und mich, ein paar Engeln in den Hintern zu treten.“
Ein neuer Seufzer.
„Unglücklicherweise ist es nicht so einfach. Diese Großnichte hat ja ziemlich geschickt meinen Fluch zum Trittbrettfahren benutzt und sogar einen Gegenzauber geschaffen. Das hatte ich nicht vorhergesehen. Zu schade, dass sie total durchgeknallt war – sie hätte eine Wahnsinnskarriere als Hexe machen können.“
Der Dämon stockte.
„Wie auch immer, was getan ist, ist getan, und ihr Großenkel hat dich ganz schön unter dem Pantoffel.“
Nakadai schüttelte angeekelt den Kopf.
„Ich wusste es doch, ich habe gespürt, dass er seine Hand im Spiel hat“, sagte er. „Wieder einmal hat er mich zurückgeholt, damit ich in seinem Namen Übel anrichte.“
„Nein, nicht dieses Mal. Dank dieses Bastards John Winchester warst du für immer auf der Strafbank.“
Nakadai zuckte fast zusammen, weil der Dämon diesen Namen so hasserfüllt aussprach. Er fragte sich, was dieser Mann – dieser John Winchester – gemacht hatte, dass der Dämon ihn derartig hasste.
„Aber als der Neumond kam“, fuhr das Wesen fort, „da hat dein Trottel von Nachfahre sich nicht einmal die Mühe gemacht, dich zu rufen. Die Wahrheit ist, dass das hier das ist, wofür du eigentlich bestimmt warst – die Apokalypse. Du bist unsere Geheimwaffe.
Trotzdem muss Albert dich früher oder später rufen. Dank seiner bekloppten Großmutter hat er dich in den Klauen. Ich kann also bestenfalls die Dinge in seinem Namen erledigen. Aber wenn wir dich hierbehalten wollen, müssen wir ihn am Leben erhalten. Wenn er ins Gras beißt – puff – bist du mit einem Blitz verschwunden.“
Er deutete auf die Leiche zu Nakadais Füßen. „Diese Trulla hat was gesehen, das sie nicht sehen sollte. Kannst du dir vorstellen, dass dieser Idiot sie leben lassen wollte? Volltrottel. Und außerdem hat er größere Probleme.“
Der Dämon starrte Nakadai für einen Moment gedankenverloren an.
„Die Zeit läuft. Die Engel treten uns in den Hintern und wir brauchen dich. Also lass dir eins sagen, Großer – du wirst in kürzester Zeit für die Heimmannschaft antreten.“
Der Blonde warf den Kopf zurück und schwarzer Rauch strömte aus seinem Mund. Als der Rauch im Nachthimmel verschwunden war, fiel der Mann ins Gras.
Tot.
Dann begann Nakadai zu verschwinden, um in der Zwischenwelt zu verweilen, bis ihn wieder jemand rief.
Nur wer?