Dreiundzwanzig

Der Engel Ramiel wusste, dass Tyler Macgowan den Großteil seines Lebens an drei Dinge geglaubt hatte.

Dass Gott ihn liebte.

Dass die Engel über ihn wachten.

Dass die Pittsburgh Pirates eines Tages aufhören würden, so beschissen zu spielen.

Und wie es mit den meisten Glaubenssachen so ist, waren das Dinge, von denen Tyler niemals glaubte, dass er sie zu sehen bekommen würde. Er hätte sich mit einer erfolgreichen Saison der Bucs zufriedengegeben, obwohl auch das – soweit er sich erinnerte – noch nie passiert war.

Darum war er, als Ramiel zu Tyler kam und den jungen Mann bat, sein Gefäß auf Erden zu sein, – milde gesagt – überrascht.

Nicht so sehr, wie viele andere es wären. Denn anders als die meisten Menschen, die in glücklicher und absichtlicher Ignoranz lebten, hatte Tyler die Zeichen der nahenden Apokalypse erkannt. Er hatte so etwas schon mal gesehen und sie für echte Omen gehalten. Sie hatten sich dann aber als reine Zufälle herausgestellt.

In den vergangenen sechs Monaten hatte er jedoch bemerkt, dass sich ein Muster bildete.

Ramiel kam im Traum zu Tyler und sprach zu ihm.

„Der Herr möchte, dass du dich für die Schlacht der Gerechtigkeit hingibst.“

Tyler war selbstverständlich skeptisch, aber Ramiel war sehr überzeugend.

„Es ist der Wunsch des Herrn“, schmeichelte Ramiel. „Die Schlacht beginnt und Raphael hat sich zu uns gesellt. Und auch Michael, dessen Schwert bald gefunden wird, kommt zu uns.“

Bis Michaels Schwert gefunden war, mussten die Engel den Dämonen standhalten. Und dafür waren große Opfer nötig.

Tyler war perfekt. Er war jung, gläubig und arbeitslos. Ein weiteres Opfer des unvermeidbaren Abgleitens der Welt in die Vergessenheit der Offenbarung. Wenn er die Möglichkeit hatte, etwas zur Schlacht beizutragen, würde er es wahrscheinlich mit Feuereifer und großer Überzeugung tun.

Ramiel hatte gehört, dass die Dämonen sich in San Francisco sammelten, zur gleichen Zeit wie die interkonfessionelle Konferenz im Moscone Convention Center stattfand. Eine solche Versammlung war zu gut, um wahr zu sein. Sie wollten so viele Teilnehmer wie möglich in Besitz nehmen und den Rest abschlachten.

Der starke Glaube der Gottesfürchtigen war eine der stärksten Waffen der Engel und die demoralisierende Wirkung eines solchen Angriffs würde auf vielen Ebenen verheerend sein. Darum war Ramiel zu einer Truppe Engel beordert worden, die von Uzziel angeführt wurde, um die Dämonen aufzuhalten.

Ironischerweise hatte Tyler bereits geplant, mit einer Gruppe aus seiner Kirche diese Konferenz zu besuchen, bevor Ramiel sich ihm gezeigt hatte. Er stimmte ohne zu zögern zu.

Der riesige Komplex des Moscone Centers nahm einen ganzen Block ein und war an allen vier Seiten von Straßen umgeben.

Als Ramiel zusammen mit ein paar anderen Anhängern unter der Führung von Uzziel ankam, konnten sie keine Anwesenheit von Dämonen spüren. Enttäuschend, aber nicht unerwartet. Dämonen fanden immer Möglichkeiten, sich zu verstecken. Und man hatte ihm von Anfang an gesagt, dass sie nicht gerade die Intelligentesten waren.

Den Engeln gelang es leicht, die Konferenz zu infiltrieren, indem sie vorgaben, Teilnehmer zu sein. Obwohl sie sich interkonfessionell nannte, stellte Ramiel schnell fest, dass es sich eher um eine christlich-jüdische Zusammenkunft handelte. Diese beiden Religionen hatten, obwohl sie in der modernen Zeit ziemlich zersplittert waren, immer noch eine Menge gemeinsam. Unter anderem das Bestreben, einen höheren Einfluss auf die Menschheit zu nehmen. Sie sehnten sich nach der Art von Macht, derer sich ihre Vorfahren bedient hatten.

Für Ramiel war das Zeitverschwendung. Sicher, im mittelalterlichen Europa hatten alle an Gott geglaubt, gebetet und der Kirche die Treue geschworen. Aber das hatten sie getan, weil sie es nicht besser wussten. Es war Glaube aus Gewohnheit. Weit weniger Menschen in der heutigen sogenannten ‚Westlichen Zivilisation‘ betrachteten sich als religiös.

Im modernen Amerika waren die Gläubigen wirklich gottesfürchtig. Nicht, weil sie es mussten – sondern weil sie es wollten. Das war echter Glaube, fand Ramiel. Tyler Macgowan betrachtete sich nicht aus einer Familientradition heraus als Christ oder aus Angst, dass er aus seiner Gemeinde ausgeschlossen werden würde, wenn er keiner wäre. Er betrachtete sich einfach als Christ und handelte auch so.

Besser ein wahrer Anhänger als hundert Mitläufer, dachte Ramiel.

Das sah nicht jeder so. Er hatte den Fehler gemacht, seine Meinung vor Uriel zu äußern. Das hatte zu einer langen Schmährede über die Undankbarkeit der Menschheit geführt. Uriel fand, dass sich am zunehmenden Unglauben „der Missbrauch des freien Willens durch die Schlamm-Affen“ manifestierte.

Aber Ramiel hielt den Mund. Er hatte immer gedacht, dass das ganze Wesen eines Engels sein sollte, das Beste in den Dingen zu sehen. Als sich Uriel als Verräter entpuppte, hatte ihn das in seinem Glauben bestärkt.

Das Einzige, mit dem Ramiel sich nicht abfinden konnte, waren die vielen Toten. Zu viele Brüder und Schwestern waren jetzt nicht hier, weil sie gestorben waren – entweder im Dienste des Herrn, als Opfer von Uriels Betrug oder durch die Hand von Dämonen.

Er hoffte, dass der heutige Tag niemand zu den Reihen der Toten hinzufügen würde.

Mit Uzziel, Jophiel und Selaphiel an seiner Seite ging Ramiel zu einem Vortrag in Raum 105. Das war einer der Konferenzräume direkt neben der großen Ausstellungshalle im Erdgeschoss. Die Halle selbst war gerade leer. Anders als bei anderen Konferenzen im Moscone Center gab es hier keine Aussteller, die Waren und Dienstleistungen anpriesen. Der einzige Zweck der Konferenz war, dass Gläubige miteinander ins Gespräch kamen.

In Raum 105 hatte sich ein Dutzend Menschen im Kreis versammelt. Die meisten von ihnen waren gut gekleidet. Einer war ein chassidischer Lubawitsch, der einen schwarz-weißen Anzug trug. Er hatte einen Vollbart und unter seinem Hut quoll langes lockiges Haar hervor. Ein anderer hatte ein schwarzes Hemd und einen katholischen Priesterkragen an.

Der Rest trug Anzüge.

Genau wie alle anderen Räume im Moscone Center war auch dieser vollkommen frei von dämonischer Präsenz.

Auf einem Stuhl gegenüber der Tür saß eine Frau in einem limonengrünen Hosenanzug. Sie trug eine Brosche, die Ramiel merkwürdig bekannt vorkam.

„Hallo“, sagte sie. „Sind Sie gekommen, um bei unserem Kolloquium mitzumachen?“

Uzziel lächelte und sprach mit seiner tiefen Stimme. Sein Gefäß war ein Kinderarzt namens Pierce, ein großer, kräftig gebauter Afroamerikaner. Er konnte seine Patienten mit dieser Stimme überzeugen, dass es wirklich nur einen Moment zwicken würde.

„Nein, danke“, antwortete er. „Wir möchten nur zusehen, wenn das in Ordnung ist.“

„Gern“, sagte die Frau.

Plötzlich erkannte Ramiel die Brosche – oder besser, er erkannte den Stein in der Mitte der Brosche.

Es war einer von vier existierenden und drei davon waren sicher in einer Kirche in Córdoba versteckt. Ramiel hatte sie selbst im vierten Jahrhundert dort hingebracht. Wenn die Sicherungsmechanismen, die er dort angebracht hatte, irgendwann während der letzten eintausendsiebenhundert Jahre durchbrochen worden wären, hätte er es gewusst.

Sie waren von Bischof Hyginus von Córdoba im Jahr 381 geschaffen worden. Das war ein Jahr, nachdem der Bischof eine Konspiration eingefädelt hatte, durch die ein Asket namens Priscillian wegen Ketzerei exekutiert wurde. Priscillian hatte erfahren, dass Hyginus mit Dämonen im Bunde stand. Er hatte mithilfe seiner dämonischen Alliierten Papst Damaskus I. davon überzeugt, dass er Priscillian verdammen musste. Hyginus hatte die vier Steine geschaffen, um die dämonische Präsenz in Besessenen zu verschleiern. Selbst ein Engel konnte damit getäuscht werden. Ramiel war geschickt worden, um diese Steine zu konfiszieren. Er hatte drei von ihnen gefunden und den Dämon ausgetrieben, der Hyginus vom rechten Weg abgebracht hatte. Ironischerweise stand in den Geschichtsbüchern, dass Hyginus ein gottesfürchtiger Christ gewesen sei, der die Kirche von Ketzern befreit habe. Priscillian hingegen wurde als einer der ersten dieser Ketzer bekannt.

Als er jetzt in Raum 105 des Moscone Centers stand, gab er den Dämonen keine Chance, etwas zu unternehmen. Er ließ sie auch nicht wissen, dass er ihnen auf die Schliche gekommen war.

Stattdessen schlug er ohne ein Wort zu.

Nur durch eine Handbewegung warf er die Frau im Hosenanzug zu Boden.

Die Engel wandten sich zu ihm um und starrten ihn wie einen Verrückten an. Erst dann sprach er.

„Sie trägt den fehlenden Stein des Hyginus.“

Der Priester sprang auf.

„Was in Gottes Namen machen Sie hier?“

Neben ihm schlug ein Mann in einem dunkelgrauen Anzug und Krawatte den Priester mit dem Handrücken.

„Halt endlich den Mund, verdammt!“, knurrte er.

Mehrere Stühle flogen in die Luft und prallten an den Wänden ab. Ramiel duckte sich vor dem, der auf seinen Kopf zielte und zog ihn mit einer Geste weg.

„Klar“, sagte die Dämonin mit dem Stein. „Uns kommt der einzige Heiligenschein in die Quere, der weiß, wie dieser uralte Stein aussieht.“

Ramiel machte einen Satz auf die Dämonin zu, traf sie direkt in die Brust und trat sie quer durch den Raum. Er ließ sich vom Schwung mittragen und stand dann kopfschüttelnd über ihr.

„Nur ein Dämon kann eintausendsiebenhundert Jahre als ‚uralt‘ bezeichnen.“ Sein Blick spiegelte Verachtung wider. „Armselige kleine Kreaturen.“

„Bla bla bla“, sagte die Dämonin und erhob sich langsam, während ihre Augen sich pechschwarz färbten. „Steck’s dir an den Heiligenschein, Flattermann.“

Dann trat sie den Engel, der mit einem Aufprall, der jedem anderen alle Knochen zerschmettert hätte, auf einen Tisch krachte. Jetzt war es an Ramiel sich aufzurappeln, und während er sich darauf vorbereitete, dass die Dämonin angriff, sah er sich kurz im Raum um.

Uzziel hatte einen der Dämonen am Kopf gepackt. Rauch strömte aus Mund, Augen, Nase und Ohren des Gefäßes und löste sich auf, während der Mann vor Schmerzen schrie.

Die Dämonin mit dem Stein sprang Ramiel erneut an. Er ließ den Körper seines Gefäßes erschlaffen, sodass der Schwung ihres Sprungs sie durch die dünne Wand trug, die Raum 105 von einer anderen Ausstellungshalle trennte.

Sie schlugen hart auf dem Boden auf. Ramiel kam auf die Beine und stand der Dämonin auf dem blanken Beton gegenüber.

„Ist das schon alles?“, fragte er und seine Worte hallten in der höhlenartigen, leeren Halle wider.

Die Dämonin erhob sich grinsend.

„Keine Angst, ich fange gerade erst an.“

Sie griff in die Tasche ihres Hosenanzugs und zog ein Messer hervor. Ramiel erkannte, dass es so ähnlich aussah wie das von Castiel. Er wollte die Dämonin damit kein Unheil anrichten lassen. Er streckte den Arm aus und riss ihr das Messer aus der Hand.

Sie bot erstaunlich wenig Widerstand.

Da merkte Ramiel, dass er seine Arme nicht mehr bewegen und sich nicht mehr auf den Beinen halten konnte.

Seine Knie fühlten sich an, als würden sie zu Staub zerfallen.

Ihm verschwamm alles vor den Augen, aber als er zwinkerte, konnte er das bösartige Lächeln auf dem Gesicht des Gefäßes der Dämonin erkennen.

„Fühlst dich gar nicht mehr so cool, Flattermann, was? Weißt du, ich habe etwas gesammelt. Hyginus’ kleines Steinchen ist nur einer meiner Freunde. Und ich und meine Kumpel sind …“

Der Rest des Satzes wurde von einer Hand unterbrochen, die sich auf ihren Kopf legte.

„Nein! Nein! Jaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaahhhhhhhhhhh!“

Rauch strömte aus allen Körperöffnungen und Sekunden später brach das Gefäß auf dem Betonboden zusammen. Ihre Schreie hallten weiterhin als Echo durch die Halle.

Erst als das Gefäß zu Boden gefallen war, konnte Ramiel – gerade so – erkennen, dass Uzziel die Dämonin vernichtet hatte. Er erkannte ihn nur an der imposanten Größe seines Gefäßes.

Das Leben wich noch immer aus ihm.

Ramiel ließ das Messer schnell zu Boden fallen.

„Zerstöre es, Uzziel, schnell, bevor …“

Uzziel zuckte zusammen, als Ramiel durch die für Engel tödliche Waffe vernichtet wurde. Er sah den Körper von Tyler Macgowan sterben und mit ihm den Engel, der ihm innewohnte.

Uzziel hatte Ramiel immer gemocht. Er hatte ein gutes Herz – selbst für die hohen Standards der Engel – und war ein guter Krieger im Namen des Herrn gewesen.

Obwohl der Herrgott selbst seine Präsenz in letzter Zeit nicht oft erkennen ließ.

Wie viele andere Engel hatte Uzziel das satt. Er war es müde, die Menschheit zu leiten, die ihre Hilfe weder wollte noch schätzte. Nach Jahrhunderten von Kriegen, Plagen, Tyrannei und Sünde war die Apokalypse eigentlich eine Erleichterung. Er hatte gedacht, dass das zwanzigste Jahrhundert mit all seinen Genoziden das schlimmste gewesen war. Dann hatte das einundzwanzigste begonnen – mit Wahnsinnigen, die sich gegenseitig zu Tausenden in jedem Winkel des Erdballs umbrachten. Und Uzziel wusste, dass es nicht besser werden würde.

Als Zachariah ihn in seinen Plan eingeweiht hatte, das Ende aller Tage heraufzubeschwören – lieber jetzt, als weiter darauf zu warten –, war Uzziel sofort dabei gewesen.

Das Einzige, was ihm daran nicht gefiel, war, seine Kameraden zu hintergehen. Nicht einmal als es das Ziel war, Doragon Kokoro hervorzulocken. Die Engel waren sicher, dass diese Offensive die Coming-Out-Party des Geistes werden sollte und er danach als mächtige Waffe den Dämonen dienen würde.

Wenigen war bewusst, wie mächtig der verdammte Samurai in den richtigen – beziehungsweise falschen – Händen sein konnte. In einer derartigen Konfrontation von mehr oder weniger gleich Starken konnte er die Wende bringen. Zachariah hatte das gewusst und Uzziel überzeugt.

Als der Gegenschlag der Engel angekündigt wurde, stellte niemand die Befehle infrage. Warum sollten sie das auch? In den Himmlischen Heerscharen gab es eine sehr strikte Kommandokette. Eigene Meinungen waren nicht erwünscht. Immerhin führten die für gewöhnlich zum Betrug, wie Castiels Beispiel gezeigt hatte.

Und Uriels.

Und Luzifers.

So wie die Dinge lagen, hatten die Engel die Katastrophe gerade noch umschifft. Ramiels Anwesenheit hatte sich als Segen erwiesen, weil Uzziel niemals den Stein von Hyginus erkannt hätte. Schade, dass Ramiel dieses Wissen mit dem Leben bezahlt hatte. Allerdings hatten das auch sechs der sieben Dämonen, dank Uzziel, Jophiel und Selaphiel. Nur einer der Kreaturen war es gelungen zu entkommen.

Ramiels Opfer hatte der Aufdeckung einer tieferen Wahrheit gedient – eine, die Uzziel schon immer vermutet hatte.

Vater hatte sie im Stich gelassen. Sie waren auf sich allein gestellt.

Mit einer Handbewegung atomisierte er das Messer. Es würde nie wieder den Tod eines seiner Geschwister fordern.

Dann nahm er der Leiche des Dämons mit dem grünen Hosenanzug die Brosche weg. Er wollte sie zu den anderen Steinen nach Córdoba bringen. Ramiel hätte es so gewollt, das wusste er.

Sie ließen die menschlichen Leichen zurück. Sie waren jetzt das Problem ihrer Artgenossen und beschäftigten die Heerscharen nicht weiter. Uzziel ging zurück in Raum 105, um die überlebenden Engel um sich zu versammeln.

Und der Krieg tobte weiter.

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