Sechzehn

Bobby wollte gerade das Abendessen für sich und die Jungs machen, als das Telefon klingelte. Er griff nach dem neuen, schnurlosen Hörer in der Wandhalterung und hielt ihn ans Ohr.

„Hallo?“

Zur Antwort klingelte das Telefon noch einmal.

Mit einem Seufzen hielt er das Telefon vors Gesicht und drückte die Sprechtaste.

Hallo?“

Es war John Winchester.

„Was zur Hölle versuchst du hier abzuziehen, Bobby?“

Jetzt blickte Bobby finster, wunderte sich, warum genau er diesen Blödsinn eigentlich mitmachte.

Stimmen aus dem Wohnzimmer drangen in die Küche.

Deeeean! Das ist mein Stift!“

„Dann hol dir doch einen anderen, Schlaumeier-Sammy.“

Er fuhr sich mit der anderen Hand durch das dicke Haar.

„Ich ziehe hier überhaupt nichts ab, John“, antwortete er und verkniff sich seine Wut, so gut es ging. „Was zur Hölle meinst du?“

„Du schickst mich hierher, das Schwert kommt mit der Post und ich stehe da und schwinge es herum wie ein Trottel. Das verdammte Ding funktioniert nicht.“

Bobby begann, sich die Augen zu reiben, aber es waren rote Haarbüschel zwischen seinen Fingern. Er bekam eine Glatze und in diesen undankbaren Augenblicken gab er John dafür die Schuld.

„Sieh mal, warum gehst du nicht zu diesem Berkeley-Professor, der Bartow das Ding angedreht hat.“

Es gab eine lange Pause, bis er Johns Antwort hörte.

„Wie ist sein Name?“

„Marcus Wallace.“

Bobby ging ins Wohnzimmer. Dean stand auf Zehenspitzen und hielt seine linke Hand so hoch es ging in die Luft – mit Sams Stift in den Fingern.

Sam für seinen Teil sprang auf und ab und versuchte, den Stift seinem wesentlich größeren Bruder zu entreißen.

Kopfschüttelnd wühlte Bobby in den Papieren auf seinem Schreibtisch.

„Bleib dran – okay, hier ist es“, fügte er hinzu, als er den Brief aus Bartows Hinterlassenschaft herauszog. Er fand Wallace’ Durchwahl auf dem Berkeley-Campus und las sie vor.

„In Ordnung“, sagte John. Ich werde ihn anrufen, aber ich werde mir etwas ausdenken müssen. Entweder das oder ich ende auf dem Grill. Ich melde mich wieder, Bobby.“

Den Jungs geht es übrigens gut“, sagte Bobby schnell, bevor John auflegen konnte.

Dean senkte seinen Arm und wandte sich zu Bobby um.

„Ist das Dad?“

Sam nutzte die Gunst des Augenblicks und grapschte den Stift mit einem „Ha!“ aus der Hand seines Bruders. Dean bemerkte es kaum.

John hörte sich am anderen Ende der Leitung ungeduldig an. „Das habe ich mir schon gedacht, sonst hättest du ja etwas gesagt. Ich muss auflegen, die Kosten für ein Ferngespräch bringen mich sonst um.“

Dann legte er auf.

„Darf ich mit ihm sprechen?“, fragte Dean in bittendem Tonfall.

Während Bobby die Taste drückte, um die Verbindung zu beenden, ließ er die Hand an der Seite herunterbaumeln.

„Sorry, Dean. Er, äh – war gerade auf dem Sprung. Aber er hat mich gebeten, euch auszurichten, dass ihr artig sein und auf mich hören sollt. Und dass er euch lieb hat.“

Dean legte den Kopf zur Seite und schenkte Bobby einen Blick, der Bände sprach.

„Hat Dad das wirklich gesagt?“

„Natürlich hat er das. Und eines sag ich dir, Junge. Hör auf, deinem Bruder die Sachen wegzunehmen. Wenn du einen Stift brauchst, fragst du mich, okay?“

Dean nickte.

„Okay, ich habe meine Hausaufgaben sowieso schon fertig.“

„Wirklich?“

Im Gegensatz zu Bobby gab der Junge seine Lüge zu.

„Na ja, das meiste.“

„Das habe ich mir gedacht. Du machst sie fertig, bis ich das Abendessen auf den Tisch stelle, in Ordnung?“

„Okay.“

Dean setzte sich neben Sam auf die Couch. Sam hatte sich wieder an die Hausaufgaben gesetzt, an denen er gearbeitet hatte, bevor Dean ihm den Stift geklaut hatte.

Dean blickte Bobby an.

„Kann ich einen Stift haben?“

Bobby grinste.

„Klar.“ Er öffnete eine Schublade und fischte einen Kugelschreiber heraus. Er hatte ihn aus einem der Hotels, in dem sie während der Jagd abgestiegen waren.

Er gab ihn Dean und ging wieder in die Küche.

„Der schreibt nicht!“, hörte er den Zehnjährigen sagen. „Der Stift nervt!“

Als er in den Kühlschrank schaute, um die Butter zum Braten herauszuholen, befand Bobby, dass die gesamte Winchester-Familie schuld daran war, dass ihm die Haare ausfielen.

John hatte sich vorgestellt, das Büro des Professors sei ein großer Raum mit einem hölzernen Schreibtisch, einem Ledersessel und Wänden, die vollständig mit Bücherregalen bedeckt waren.

Als er auf dem Campus der University of California in Berkeley ankam und in das Gebäude an der Fulton Street ging, in dem die kürzlich umbenannte Abteilung für Asiatische Studien lag, war er etwas enttäuscht.

Marcus Wallace’ Büro war ein winziges Rechteck von einem Raum, ohne Fenster und mit kaum Luft. An der Wand stand ein langweiliger grauer Metallschreibtisch, der so viel Platz einnahm, dass der Ledersessel des Professors an die andere Wand stieß und nur Platz für ein kleines Bücherregal in der Ecke ließ.

Der Tisch war mit Papieren bedeckt, von denen einige in zwei wacklige Drahtboxen gestapelt waren. Außerdem gab es noch ein Telefon – mit dem Wallace telefonierte, als John eintrat – und einen PC-Bildschirm, dessen Tastatur unter weiteren Papieren verborgen war. Hellgrüne Buchstaben leuchteten ihm vom Bildschirm entgegen und schienen auf Wallace’ eine Gesichtshälfte. Das ergab einen merkwürdigen Kontrast mit dem Licht der Glühbirne an der Decke.

Das Büro war anscheinend früher einmal gelb gestrichen worden, doch die Farbe war jetzt zu einer Art dreckigem Senfton verblasst.

Wallace selbst war ein gut aussehender Mann, der mit seinem kantig gestutzten Afro in der Abteilung für Asiatische Studien allerdings total deplatziert wirkte.

Während er telefonierte, bedeutete er John auf einem Klappstuhl Platz zu nehmen, der zwischen den Schreibtisch und die Tür gequetscht war.

„Ja, das verstehe ich, aber …“, sagte er und verstummte. „Ja, das weiß ich, aber … die Studenten werden …“

Wieder Stille und jetzt sah er stinksauer aus. „Ja, Sir. Ja, Sir. Okay, Sir. Auf Wiederhören.“

Er schleuderte den Hörer mit einigem Schwung auf die Gabel, knurrte einen Moment und fand dann seine Haltung wieder.

„Tut mir leid“, sagte er aufrichtig. „Wir haben gerade einen neuen Abteilungsleiter bekommen. Seine Lösung für alles ist, alles zu verändern, was in den vergangenen zwanzig Jahren funktioniert hat. Ob es gut ist oder nicht. Ich schwöre bei Gott, Mann, diese Universitätspolitik lässt die Leute in Washington wie Schulmädchen aussehen.“ Er atmete tief ein und streckte die Hand aus. „Sorry, ich bin Marcus Wallace. Sie müssen John Winchester sein.“

John erwiderte den festen Händedruck.

„Sie haben also mit Bobby gesprochen?“

„Er hat mir berichtet, dass das Schwert nicht wie erhofft funktioniert.“

„Das ist eine Untertreibung“, sagte John leicht verbittert.

„Nehmen Sie es leicht, Mann, Bobby kann nichts dafür. Seit Doragon Kokoro vor zwanzig Jahren oder so aufgetaucht ist, habe ich versucht, so viel herauszufinden wie nur möglich. Ich habe Bartow damals geholfen und seitdem habe ich Yin und Yang auf den Kopf gestellt, um mehr herauszufinden. Aber das ist nicht so leicht.“

Er fing an, in den Papieren auf dem Tisch herumzusuchen, und fuhr fort.

„Immerhin glaube ich, dass ich etwas gefunden habe, das helfen kann. Wo ist es?“ Nachdem er ein paar andere Stapel durchgesehen hatte, fand Wallace endlich, was er gesucht hatte. „Hier ist es!“

Es war ein Büchlein, das etwa halb so groß wie Johns Tagebuch war. Zuerst dachte er, dass Wallace es ihm verkehrt herum und rückwärts zeigen wollte. Dann erinnerte er sich, dass die meisten asiatischen Sprachen von rechts nach links geschrieben wurden.

Während er kurz durch die Kanji-Zeichen blätterte, sah er auch einige Tuschezeichnungen, die er unter anderen Umständen sicher gut gefunden hätte.

„Nun, was zur Hölle soll ich denn damit?“, fragte er.

Wallace schüttelte den Kopf und nahm das Büchlein wieder an sich.

„Entschuldigen Sie, Mann. Ich vergesse immer, dass nicht jeder diese Sprache lesen kann.“ Er blätterte zu einer hinteren Seite. „Hier kommt es.“ Er gab John das Buch zurück und zeigte auf eine Zeichnung.

„Ich glaube, dieses Bild sagt mehr als tausend Worte.“

John nahm das Buch und sah eine Zeichnung, die die gesamte untere Hälfte der Seite einnahm. Ein Mann hielt ein wohlbekanntes Hakenschwert und bückte sich in kampfbereiter Pose. Ihm stand ein Mann gegenüber, der von Flammen eingehüllt war und ein Katana schwang.

Besonders interessant war, dass die Kanji-Zeichen auf dem Hakenschwert leuchteten.

Er sah auf und Wallace nickte in Richtung des Buches.

„Wenn das Teil hier echt ist – und ich übersetze dieses Mistding schon seit einer Weile –, dann geht es nicht um das Schwert, sondern um die Gravur.“ Er drehte sich um, wischte mit dem Unterarm die Papiere von der Tastatur und begann zu tippen. „Ich habe schon einmal etwas vorbereitet und die Zeichen auf dem Schwert phonetisch aufgeschrieben. Wenn Sie dem Geist das nächste Mal gegenüberstehen, sollten Sie sich konzentrieren und dann die eingravierte Formel sprechen.“

„Ich glaube, dass wir Doragon Kokoro dann loswerden.“

„Sie glauben?“ John gefiel das gar nicht.

Wallace blickte ihn ruhig an.

„Sehen Sie, Mann, Sie und ich wissen beide, dass es für diese Dinge gewöhnlich keine Gebrauchsanweisung gibt.“

Mit einem Seufzer gab John nach.

„Ja, okay.“

Der Professor stand auf und zeigte zur Tür.

„Kommen Sie, der Drucker steht auf dem Flur.“

John folgte ihm aus dem engen Büro in den engen Flur zu einem Tisch, auf dem ein paar hölzerne Postfächer standen, auf denen kleine weiße Aufkleber mit den Namen der betreffenden Personen angebracht waren. John bemerkte, dass in Wallace’ Fach ein großer Umschlag steckte. Der Professor schnappte ihn im Vorbeigehen.

Der Drucker war ein Typenraddrucker, der sehr langsam war. Als sie ankamen, war er immer noch nicht fertig. Das Blatt, das er ausspuckte, enthielt nur ein paar Worte.

Wallace zog einen Hebel, der das Papier löste und riss es heraus.

„Hier, Mr. Winchester. Halten Sie das Schwert dicht an Doragon Kokoro heran, sagen Sie das hier und treten Sie zurück.“

John nahm das Papier.

„Und was, wenn es nicht wirkt?“

Wallace’ Gesicht verzog sich zu einem ironischen Grinsen.

„Rennen wie verrückt?“

John rollte mit den Augen.

„Danke sehr.“

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