Vierundzwanzig
Marcus Wallace lag im Sterben.
Der Herzanfall war aus dem Nichts gekommen. Aber so waren Herzattacken – die unvorhersehbarsten aller Mörder. Marcus hatte sich immer über Berichte über einen ‚plötzlichen Herztod‘ lustig gemacht.
Als wäre das je anders.
Er hatte in seinem Büro gesessen und Arbeiten benotet, als plötzlich sein linker Arm anfing zu schmerzen. Dann bekam er Atemprobleme, und Müdigkeit überwältigte ihn. Sein Körper spannte sich, selbst als er die Kontrolle über die Extremitäten verlor.
Irgendwie landete er auf dem Fußboden.
Die neue Sekretärin – die, an deren Namen er sich nie erinnern konnte – kam hereingerannt und schrie vor Schreck. Dann griff sie das Telefon auf Marcus’ Schreibtisch und rief die 911 an.
Danach musste er halluziniert haben, denn die Sekretärin blickte auf ihn herab.
Und lächelte bösartig.
Er erwachte in der Notaufnahme des Alta Bates Summit Medical Center an der Ashby Avenue, umgeben von einem Arzt und fünf Schwestern, die sagten, dass er Glück hatte, noch am Leben zu sein.
Seitdem war er im Krankenhaus. Seine Krankenversicherung war mehr als ausreichend, um für seinen Aufenthalt in einem Vierbettzimmer, das gerade nur mit drei Patienten belegt war, aufzukommen.
Vierundzwanzig Stunden lang sahen die Schwestern nach ihm, machten Tests und piksten und stocherten. Keine beantwortete Marcus’ Fragen außer mit den üblichen Plattitüden, die er bereits in der Notaufnahme zu hören bekommen hatte.
Marcus ging auf die siebzig zu. Er hatte sich daran gewöhnt, dass medizinisches Personal sparsam mit brauchbaren Informationen umging. Es war alles „vorsichtshalber“, man wolle nicht „vorschnell urteilen“, immer war es „zu früh, um etwas zu sagen“.
Endlich kam ein Doktor zu ihm. Es war ein Asiate mit einem Bürstenhaarschnitt und runden Wangen, der ihm bekannt vorkam.
„Hi, Mr. Wallace, ich bin Doktor …“
„Takashi Iwamura.“
Der Arzt grinste schief, während er nach einem Klemmbrett griff, das an einem Haken am Fußende des Bettes baumelte.
„Ich hatte schon gehofft, dass Sie sich nicht an mich erinnern, Professor.“
Marcus lachte. Das brachte ihm allerdings stechende Schmerzen im gesamten Brustraum ein.
„Nein, Ich, ah – wuuu.“
Das Grinsen verflog.
„Ganz langsam, Professor.“
Marcus winkte ab.
„Es geht mir gut – hätte nur nicht lachen sollen“, sagte er und kam wieder zu Atem. „Nein, ich freue mich, Sie zu sehen. Es ist ein paar Jahre her, seit Sie drei Schritte davor waren, in meinem Folklore-Kurs durchzufallen, Hasch. Nennt man Sie noch immer ‚Hasch‘?“
Das löste ein weiteres schiefes Grinsen aus.
„Egal, wie sehr ich es zu verhindern versucht habe.“
„Nun, solange Sie mein Herz in Händen halten, bleibe ich bei ‚Doktor Iwamura‘.“
„Hasch ist in Ordnung, Professor. Und da wir gerade über ihr Herz sprechen …“
„Ja.“ Marcus zupfte an dem Laken, das ihn von der Brust ab bedeckte. „Wie lautet das Urteil? Und bitte – keinen Scheiß, in Ordnung? Mir ist Dr. House lieber als Dr. Wilson.“
Iwamura zuckte mit den Schultern, während er das Klemmbrett wieder an den Haken hängte.
„Ist in Ordnung. Sie hatten einen Herzinfarkt und sind dem Totengräber von der Schippe gehüpft.“ Er zögerte, bevor er fortfuhr. „Jetzt kommt der Teil, in dem ich Sie beruhige, Ihnen erzähle, dass es Behandlungsmöglichkeiten und Medikamente und Diäten und alle möglichen anderen Sachen gibt. Aber Sie wollen es geradeheraus, also bekommen Sie es auch so.“
„Sie haben ein Herz, das Sie nicht sehr gut leiden kann. Das ist wie nach einem schlimmen Streit mit Ihrer Frau, Freundin oder Ihrem Freund, wem auch immer … Sie können alle Blumen der Welt kaufen und sich entschuldigen, so viel Sie wollen, es gibt keine Garantie, dass Sie wieder zurück nach Hause kommen dürfen.“
Marcus dachte einen Moment darüber nach.
„Also könnte ich alle Medikamente nehmen, von denen mir schlecht wird, Essen essen, das mir nicht schmeckt, und in sechs Monaten trotzdem umfallen?“
Iwamura nickte.
„Aber Ihre Chancen steigen signifikant, wenn Sie alles beherzigen.“
„Toll.“ Marcus stieß einen langen Atemzug aus. „Okay, danke für die klare Ansage, Hasch.“
Iwamura legte ihm sanft die Hand auf die Schulter und sprach mit ebenso sanfter Stimme.
„Ruhen Sie sich etwas aus, Professor. Sie müssen schließlich noch Studenten terrorisieren.“
Marcus musste lächeln.
„Ich terrorisiere nur Studenten, die den Stoff nicht zu schätzen wissen. Ich bin sicher, die Professoren aus der medizinischen Fakultät haben es viel lockerer angehen lassen.“
Iwamura hustete ein Lachen.
„Nun, ich weiß nicht, ob ich so weit gehen würde …“, sagte er.
Nachdem Iwamura gegangen war, blickte Marcus zum Telefon neben seinem Bett. Der Sirenenruf einer möglichen Nachricht auf seinem Telefon lockte ihn.
Er blickte sich um und sah, dass die anderen Patienten bewusstlos waren. Er war sich ziemlich sicher, dass er sie nicht stören würde, darum griff er zum Hörer. Als er vor fünfundvierzig Jahren zu lehren angefangen hatte, benutzte er das Telefon in seinem Büro kaum. Er sprach lieber selbst mit den Studenten – während seiner Bürozeiten, die auf einem Stück Papier standen, das am Schwarzen Brett hing. Oder vor und nach den Vorlesungen.
Jetzt bekam er seine Studenten nur noch äußerst selten zu Gesicht. Alles lief über E-Mail oder SMS oder Internet Chats oder Mobiltelefone. Er hatte sein Bürotelefon sogar auf sein Treo umgeleitet. Er verbrachte heutzutage sowieso wenig Zeit in seinem Büro.
In seinem Alter und nach seiner langen Dienstzeit hatte er weniger Kurse als früher. Er entspannte sich in seiner Freizeit. Manchmal überquerte er die Bay Bridge nach San Francisco und sah sich die Lichter der Stadt an, oder er spazierte durch die Buchläden mit Mängelexemplaren in Berkeley.
Wenn ein Student mit ihm reden wollte, lief das Gespräch direkt in seiner Tasche auf.
Anders als viele seiner Zeitgenossen – die darüber schimpften und stöhnten – fand Marcus es so besser.
Am besten war Doktor Wu.
„Die können mich jetzt jederzeit anrufen. Was, wenn ich nicht mit ihnen reden will?“
Marcus’ Antwort blieb immer dieselbe.
„Das Handy hat einen Aus-Knopf. Benutzen Sie ihn – ich mache es so. Wenn ich nicht erreicht werden will, kann ich das Ding ausschalten. Dann können die Anrufer sich die Zähne an der Mailbox ausbeißen.“
Er unterwarf sich – oder seine Studenten – nicht gern der Tyrannei der Bürozeiten. So viele Probleme, die vor zwanzig Jahren ins Chaos geführt hätten, gab es gar nicht erst, weil die Studenten besseren Zugang zu ihren Professoren hatten.
Sein Treo war in der Tasche seiner Jeansjacke gewesen, als er den Herzanfall bekommen hatte. Das bedeutete, er war immer noch auf der Lehne des rissigen Lederstuhls, wo er die Jacke hingeworfen hatte. Sein Laptop stand immer noch auf dem Schreibtisch. Ohne eines davon konnte er unmöglich seine Mails checken – obwohl ihm die Krankenschwester versichert hatte, dass es im Krankenhaus WLAN gab.
Trotzdem konnte er mit dem Festnetztelefon neben seinem Bett zumindest seine Mailbox abhören. Also gab er der Versuchung nach und wählte die Nummer.
Er hatte sechs Nachrichten und griff nach Papier und Stift.
Die ersten drei waren von seinen Studenten mit verschiedenen Anliegen, die alle Zeit hatten, bis er aus dem Krankenhaus entlassen wurde. Trotzdem schrieb er sich ihre Nummern auf, sodass er sie wissen lassen konnte, dass es länger als ein, zwei Tage mit der Antwort dauern würde – und das aus gutem Grund. Wie er den Campus-Tratsch kannte, erwartete er, dass sie bereits Bescheid wussten. Marcus zog allerdings eine persönlichere Note vor.
Die nächste Nachricht war von seinem Neffen, und Marcus war versucht, sie zu löschen, ohne sie anzuhören.
„Yo, Onk, so’n weißer Kerl hat dich gesucht. Sagte, er hat ’nen Freund von dir in Chinatown getroffen oder so. Hat mir ’n Bier ausgegeben, also hab ich ihm gesagt, dass du an der Hippie-Uni arbeitest. Wollte dir nur Bescheid sagen, yo. Peace!“
Marcus seufzte. Wenigstens bat er ihn dieses Mal nicht um Geld.
Die letzte Nachricht kam von einer ihm unbekannten Stimme.
„Hi, Professor, hier ist Sam Winchester. Mein Bruder Dean und ich sind in San Francisco. Ich glaube, Sie haben vor zwanzig Jahren unseren Vater, John Winchester, kennengelernt, und ich glaube, Sie kennen auch Bobby Singer. Wir sind hier, weil wir glauben, dass das Herz des Drachen zurück ist, und wir brauchen ihre Hilfe. Wenn Sie mich zurückrufen könnten, wäre das toll.“ Dann gab er ihm eine Nummer mit einer 785er Vorwahl. Das Gespräch endete und Marcus starrte den Hörer an.
„Verdammte Scheiße.“
Er fand es schwer zu glauben, dass es bereits zwanzig Jahre her war, dass ein Furcht einflößender und angespannter John Winchester in sein Büro gestürmt war. Er hatte sich über das Hakenschwert beklagt, dass er John Bartow überlassen hatte. Marcus hatte gedacht, dass der Kerl ihm den Kopf abschlagen würde. Es hörte sich so an, als wäre sein Sohn erheblich netter. Wenigstens war er weitaus höflicher.
Aber dieser Gedanke wurde durch einen anderen, Unheil verkündenden, ausgelöscht.
Wenn Doragon Kokoro zurück war, würde die Hölle losbrechen. Also las er Sam Winchesters Nummer von seinem Notizblock ab und rief ihn zurück.
„Hallo?“ Es war die gleiche Stimme, aber jetzt klang sie etwas außer Atem.
„Sam Winchester? Hier ist Marcus Wallace.“
„Oh, hi, Professor. Können Sie eine Sekunde dranbleiben?“
„Ähm sicher“, sagte Marcus. Es hörte sich an, als hätte der junge Mann das Telefon abgelegt und eine Schaufel in die Erde gestoßen.
Nach ein paar Sekunden war Sam Winchester wieder am Apparat.
„Tut mir leid – ich musste noch etwas fertig machen.“ Während er sprach, konnte Marcus hören, wie ein Motor angelassen wurde.
„Das ist schon in Ordnung, Sohn“, antwortete Marcus. „Wie geht es Ihrem alten Herrn?“
„Oh, tut mir leid, er ist vor ein paar Jahren gestorben.“
Marcus zuckte zusammen.
„Verdammt. Das tut mir leid. Er schien ein recht anständiger Typ zu sein.“
„Danke.“ Sam hörte sich unsicher an. Im Hintergrund nahmen die Verkehrsgeräusche zu – als wäre er gerade auf den Freeway gefahren. Was immer er wollte, er kam schnell aufs Geschäftliche zu sprechen.
„Ich bin froh, dass Sie zurückrufen, Professor. Wir haben da ein kleines Problem.“
„In Ihrer Nachricht sagten Sie etwas über Doragon Kokoros Rückkehr.“
„Äh, ja. Und es kommt noch schlimmer“, sagte Sam. „Ein paar Typen haben uns das Schwert abgenommen. Wir glauben, sie kamen von Albert Chao.“
„Wahrscheinlich, ja.“ Marcus stieß einen langen Atemzug aus. „Nun, dann würde ich sagen, Sie beide sind angeschmiert – und ebenso der Rest von uns. Sie müssen das Teil zurückholen.“
„Wir hatten gehofft, dass Sie uns dabei helfen könnten. Wir müssen das Schwert wiederfinden. Chao hat es wahrscheinlich in seinem Restaurant, aber es wäre gut, wenn wir da sicher wären, bevor wir versuchen, es uns zu holen.“
„Scheiße.“ Marcus schloss die Augen und dachte einen Moment nach. Er hatte das Schwert noch niemals zuvor orten müssen, weil er immer wusste, wo es war. Oder, dass es in den richtigen Händen war.
Noch besser, er hatte all seine Notizen über Doragon Kokoro in einem Ordner auf seinem Laptop. Der war natürlich im Büro.
Warum war das alles niemals einfach?
„In Ordnung“, sagte er. „Sie und Ihr Bruder müssen mir einen Gefallen tun.“
„Heraus damit.“
„Sie müssen in meinem Büro vorbeischauen. Es ist 2223 Fulton Street in Berkeley. Auf meinem Schreibtisch steht ein Laptop. Nehmen Sie ihn mit und bringen ihn mir ins Krankenhaus.“
„Krankenhaus?“
Marcus schüttelte den Kopf. Das konnte er unmöglich wissen.
„Ja, hatte gestern ’nen Herzanfall. Bin in Zimmer 209 des Medical Centers an der Ashby Avenue.
„Wo an der Ashby?“
„Äh, weiß die Adresse nicht – es ist ganz in der Nähe vom Telegraph.“
„Okay, ich finde es schon“, fuhr Sam zögerlich fort. „Und, Professor, es tut mir leid.“
Marcus zerstreute die Stimmung mit einer Geste – nicht dass jemand sie sehen konnte.
„Vergessen Sie’s – Sie konnten das nicht wissen“, sagte er. „Und beeilen Sie sich – wir können es uns nicht leisten, herumzutrödeln.“
„Okay. Ich bin jetzt auf der 580 in Richtung Berkeley. Sollte in zehn, fünfzehn Minuten da sein.“
„Gut – und hey, Sam?“
„Ja?“
„Es gibt keine Garantie. Ich musste noch nie nach dem Schwert suchen, also weiß ich nicht, ob meine Notizen uns irgendwas liefern, um es zu finden.“
„Ja, das hab ich mir fast gedacht.“ Sam hielt inne. „Es ist immer noch einen Versuch wert.“
„Oh, definitiv. Ich möchte Ihnen nur keine falschen Hoffnungen machen.“ Marcus erinnerte sich, wie pingelig Sams Vater gewesen war. Er wollte das nicht noch mal erleben, falls sein Sohn diese Eigenschaft geerbt hatte.
„Ich habe vor langer Zeit aufgehört, mir Hoffnungen zu machen, Professor“, sagte Sam. Seine Stimme klang unendlich müde.
„Ja. Das kann ich nachvollziehen. Rufen Sie mich an, wenn Sie im Büro sind.“ Er gab Sam seine Telefonnummer im Krankenhaus und legte auf.
Er lag in der Stille und dachte über John Winchester nach. Der Mann strahlte eine unglaubliche Entschlossenheit aus, als sei er auf einem einzigen, endlosen Kreuzzug. Jack Bartow war viel entspannter gewesen. Er wusste, was er tat und machte kein großes Aufheben darum. Die meisten Dinge sah er unkompliziert.
Winchester aber war anders gewesen – er hatte gewirkt, als hänge seine ganze Existenz davon ab, den Geist zu vernichten.
Natürlich hatte es keiner von beiden geschafft.
Wenn Sam Winchester nur ein bisschen so ist wie sein Vater, dann ist es kein Wunder, dass er so geklungen hat.
Das Nächste, was Marcus hörte, war das Klingeln des Telefons. Er hatte nicht einmal bemerkt, dass er eingeschlafen war.
„Hallo?“
„Ist da Marcus Wallace?“
„Äh, ja.“ Wer zur Hölle?
„Dean Winchester, Sams Bruder. Wir haben den Laptop und kommen jetzt gleich zu Ihnen.“
„Großartig – bis gleich.“ Er wollte schon auflegen, dann führte er den Hörer zurück ans Ohr. „Und, hey, ich habe Ihrem Bruder gesagt, dass ich nichts versprechen kann. Vielleicht kann ich nichts für Sie herausfinden.“
„Ja, das hören wir oft.“ Dean klang mindestens genauso müde wie sein Bruder. „Wir sehen uns gleich.“
Marcus legte den Hörer des Krankenhaustelefons auf und rieb sich den Schlaf aus den Augen. Seine Verbindungen zu der merkwürdigen Welt, in der Bartow, Singer und die Winchester-Familie lebte, war bestenfalls schwach. Und diese Leute lebten so.
Dieses Leben forderte seinen Preis.
Er blickte sich um und sah, dass seine beiden Zimmergenossen verschwunden waren. Am Bett des einen hing noch eine Krankenakte, also war er wahrscheinlich nur unterwegs zu ein paar Tests oder so.
Am anderen Bett hing keine Akte mehr – vielleicht war der Patient entlassen worden.
Auf dem einen oder anderen Weg, dachte er finster.
Er hörte ein Klopfen an der Tür.
„Hi, Professor!“
Er blickte auf und sah die Sekretärin, an deren Namen er sich immer noch nicht erinnern konnte. Trotzdem erinnerte er sich, dass sie diejenige gewesen war, die ihn gefunden und den Notruf gewählt hatte.
„Hey!“, antwortete er enthusiastisch.
Sie war eine unscheinbare, kleine japanische Amerikanerin, die das dunkle Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte. Sie trug ein sehr breites Lächeln auf dem Gesicht und einen grauen Trenchcoat.
Während sie an sein Bett kam, klammerte sie sich an ihrer Handtasche fest, als ginge es um ihr Leben.
„Ich wollte sehen, wie es Ihnen geht, Professor“, sagte sie. „Ich hatte solche Angst, als ich Sie so zusammenbrechen sah.“
„Ja, das hatte ich auch“, gab Marcus mit kläglicher Stimme zu. „Aber hey, Sie waren diejenige, die 911 gewählt hat, also danke dafür!“
„Oh, selbstverständlich! Es wäre furchtbar gewesen, wenn Sie gestorben wären!“ Dann lehnte sie sich dicht an sein Ohr und flüsterte: „Herzanfälle sind so – so furchtbar, nicht wahr?“
Plötzlich änderte sich etwas an ihr. Ihr breites Lächeln offenbarte nun noch etwas anderes, aber er konnte nicht sagen, was es war. In diesem Moment erinnerte er sich mit einem Ruck an ihren Blick, kurz bevor er im Büro ohnmächtig geworden war.
Ihre Stimme hatte sich mit dem Ausdruck verändert.
„Dann sag mir lieber, was ich hören will.“
Das Lächeln verschwand und ihre Augen wurden vollkommen schwarz.
Marcus hatte geglaubt, es gäbe kein schlimmeres Gefühl, als einen Herzinfarkt. Doch als die Augen der Sekretärin plötzlich schwarz wurden, bekam er ein furchtbares Gefühl ganz tief im Magen.
„Du wirst mir helfen, Prof“, sagte sie mit einem rumpelnden Unterton in der Stimme. „Den Gerüchten zufolge bist du derjenige, mit dem man reden muss, wenn man etwas über den Geist von Yoshio Nakadai wissen will. Ich muss diesen Geist haben. Sieh mal, es herrscht Krieg und meine Seite hat ganz gut was abbekommen. Man hat mir gerade ordentlich in den Hintern getreten. Ich habe sechs meiner Freunde einen furchtbaren Tod sterben sehen und konnte ihnen nicht helfen. Ich bin verdammt noch mal sauer und habe keinen Bock mehr, mich zum Arsch zu machen. Ich will das Herz des Drachen zurück. Und das führt mich – ach so freundlich – zu dir.“ Nachdem sie diese Worte ausgespuckt hatte, kehrte das Lächeln zurück.
Marcus sagte nichts. Was immer dieses Wesen war, es war nicht auf der Seite der Guten.
Ihr Gesicht schwebte über ihm, die schwarzen Augen waren wie tiefe, hypnotische Teiche.
„Das Schwert, mit dem man dem Geist Einhalt gebieten kann – wo ist es?“, fuhr sie fort. „Ich brauche es und du wirst mir sagen, wo es ist.“
Marcus starrte die Kreatur an.
„Sorry, das kann ich nicht“, sagte er und versuchte die Angst in seiner Stimme zu verbergen.
Das Wesen knurrte. Ein Geräusch, das Angst einflößend und grauenvoll war, zumal es von so einer zarten Gestalt ausging.
„Oh, glaubst du?“
„Das hat nichts mit glauben zu tun“, sagte Marcus. „Ich weiß nicht, wo es ist, und ich weiß nicht, wie man es finden kann.“ Er nahm an, es sei bei Chao, aber selbst die Winchesters waren sich da nicht vollkommen sicher.
Mehrere lange Augenblicke starrten ihn die Obsidianaugen an. Es fühlte sich an, als blickte ein Monster in seine Seele.
„Hm“, sagte sie schließlich. „Es sieht so aus, als ob du die Wahrheit sagst. Nun, das ist scheiße.“ Das furchtbare Lächeln kehrte zurück.
„Für dich auf alle Fälle.“
Marcus’ linker Arm begann zu schmerzen.