Fünf

Deanna Campbell widerstand dem Drang, ihren Mann nochmals unter dem Tisch zu treten.

Sie saß mit Samuel, Mary und Jack Bartow in einem italienischen Restaurant an der Columbus Avenue. Bei ihrer Ankunft in San Francisco hatte Mary Jack aus einer Telefonzelle angerufen, um Zeit und Ort für ein Treffen abzumachen und weitere Informationen über den vermeintlichen Drachen zu bekommen. Samuel und Deanna hatten auf das Gepäck gewartet.

Sie hatten zwei Koffer gepackt. In einem war genug Kleidung für alle für eine Woche und in dem anderen Vorräte und Waffen, die sie vielleicht brauchen würden. Es dauerte ewig, bis der zweite Koffer – der mit den Kleidern – ankam. Samuel war kurz davor gewesen, ihn zurückzulassen, als er endlich auf dem Kofferlaufband zum Vorschein kam.

„Hätte schlimmer kommen können“, flüsterte Deanna ihrem Mann zu. „Der andere hätte verloren gehen können.“

Samuel verzog das Gesicht. Beide Koffer waren zu groß für die Gepäckfächer im Flugzeug gewesen, sodass sie sie aufgeben mussten. Das machte Samuel nervös. Die Waffen, die sie angehäuft hatten – Pistolen, Armbrüste, Gewehre, Langbogen, Macheten, Schwerter – waren extrem teuer und daher nur schwer zu ersetzen. Samuels Reinigung und Deannas gelegentliche Tätigkeit als Aushilfslehrerin brachten genug Geld für Marys Ausbildung ein und um ihr Waffenlager gefüllt zu halten.

Gelegentlich auch für Flugtickets in letzter Minute.

Trotzdem gab es Zeiten, in denen sie von Rechnungen überschwemmt zu werden drohten. Das war das Problem mit der Jagd – es war eine Berufung und kein Beruf. Die Jagd brachte kein Essen auf den Tisch.

Mary war immer noch am Telefon, als ihre Eltern sie fanden.

„Hör mal“, sagte sie als sie sich näherten, „das war mein letztes Kleingeld und ich muss wirklich nicht – oh! Hier sind Mom und Dad. Wir sehen uns bald, okay? Bis dann, Jack. Bye!

„Du hast dein ganzes Kleingeld verbraucht?“, fragte Deanna, bevor Samuel etwas sagen konnte.

„Wir haben uns nur auf den neuesten Stand gebracht“, sagte Mary und wagte einen kurzen Blick zu ihrem Vater. „Es ist ja nicht so, als hätten wir ihn vorgewarnt, dass wir kommen.“

Samuel hatte das Ferngespräch nach Kalifornien nicht bezahlen wollen.

Mary wandte sich wieder an ihre Mutter und sagte: „Wie auch immer, er wird heute Abend um sechs Uhr in einem Restaurant in North Beach für uns reservieren.“

Sie mieteten ein Auto und fuhren in ihr Hotel – die Emperor Norton Lodge an der Ellis Street im Tenderloin District. Sie wollten auspacken und sich versichern, dass alle Waffen sauber und einsatzbereit waren.

Es war Deannas Idee gewesen, mit dem Bus nach North Beach zu fahren, das eigentlich von allen „Little Italy“ genannt wurde. So mussten sie sich nicht mit der Parkplatzsuche in dieser von Menschen wimmelnden Gegend plagen.

„Aber ich will nicht unbewaffnet gehen“, protestierte Samuel.

„Die Morde sind in Chinatown passiert, Samuel.“

„Ich mache mir ja auch nicht wegen des Drachen Sorgen.“

Deanna seufzte nur und Mary rollte mit den Augen.

Sie waren nicht vollkommen unbewaffnet, natürlich nicht, aber sie hatten die Feuerwaffen im Motel gelassen. Es war in diesen Tagen mit ihren Bürgerunruhen nicht gerade klug, wenn Zivilisten bewaffnet durch die Großstädte stolzierten. Die lokalen Gesetzeshüter hielten ein Auge auf Bewaffnete und das Letzte, was die Campbells wollten, war, die Aufmerksamkeit des San Francisco Police Departements zu erregen.

Während sie auf das Restaurant zugingen, versuchte ein langhaariger, barfüßiger Mensch dreimal, Samuel eine Blume zu schenken. Seine Miene wurde darauf so finster, dass Deanna fürchtete, sein Gesicht würde in sich zusammenfallen.

Bartow kam zu spät zum Essen und ließ die drei vor dem Restaurant warten. Die Reservierung lief auf seinen Namen und Samuel weigerte sich, mit einem minderjährigen Mädchen an der Bar zu warten, obwohl das im Restaurant niemandem etwas auszumachen schien.

Endlich humpelte Bartow den Hügel an der Columbus Avenue herauf, nachdem er aus dem City Lights Bookstore gekommen war. Seit sie ihn das letzte Mal gesehen hatten, hatte er seine schlichte Holzkrücke gegen einen kunstvoll verzierten Gehstock mit einem Drachenkopf ausgetauscht.

Samuels Augen wanderten sofort zu Bartows linkem Fuß – oder zu dem, was von ihm übrig war. Er hatte die Verletzung schon gehabt, als sie ihn vor mehr als einem Jahr kennengelernt hatten, damals war er gerade siebzehn geworden. Er hatte behauptet, es wäre ein Unfall mit einer schlecht gewarteten Handfeuerwaffe gewesen.

„Es tut mir leid, dass ich zu spät komme“, sagte Bartow. „Ferlinghetti hatte eine Lesung und hat überzogen.“

„Wow, das hört sich ja toll an“, sagte Mary lächelnd, während Samuel nur verwirrt dreinblickte.

Deanna kam ihm zur Hilfe.

„Lawrence Ferlinghetti. Er ist ein Dichter und der Besitzer des Buchladens die Straße runter.“

Samuels Antwort war nur ein Grunzen, und weil nichts mehr zu sagen blieb, gingen alle ins Restaurant.

Als die vier saßen und Getränke bestellt hatten, begann Bartow Mary über die Schule auszufragen. Seine braunen Haare waren mit Pomade zu einem Entenbürzel gekämmt und er hatte jetzt einen bleistiftdünnen Schnurrbart, der fast schwarz war. Er war genau die Art Junge, für die Deanna geschwärmt hatte, als sie fünfzehn war.

Es dauerte nicht lange, da wandte sich die Konversation dem Privatleben des Mädchen zu und das gab den Ausschlag. Sobald es an persönliche Fragen ging, verschlechterte sich Samuels Laune, wenn das überhaupt noch möglich war – und er fing an, Bartow offen böse anzustarren. Er wollte sie gerade unterbrechen, als Deanna ihm eins versetzte.

Samuel zuckte leicht und blickte seine Frau an.

Sie runzelte die Stirn und ihr Gesichtsausdruck sagte, Lass die jungen Leute reden. Sie wusste, wie diese Dinge abliefen und wollte nicht aus diesem netten Restaurant herausgeworfen werden.

Er seufzte und hielt seinen Mund, solange er konnte. Irgendwann war Mary dabei angelangt, Bartow zu erzählen, was für ein Freak ihr Mathelehrer war. Samuel blickte zu Deanna und sie nickte.

„So, Jack“, sagte er scharf, „was kannst du uns über diesen sogenannten Drachen erzählen?“

Bartow lächelte.

„Ich bin nicht der Einzige, der ihn so nennt, Sam“, sagte er.

Samuels Gesicht zuckte und Deanna stöhnte. Er hasste jegliche Abkürzung seines Namens. Das würde ein unerfreuliches Gespräch nur noch unerfreulicher machen.

Wo sind nur unsere Getränke, dachte sie und blickte sich nach dem Kellner um.

„Ich heiße Samuel“, sagte ihr Mann ruhig. Man musste ihm lassen, dass er Jack nicht anschnauzte. „Oder lieber, ‚Mr. Campbell‘.“

„Dad …“, begann Mary, aber Bartow legte ihr eine Hand auf den Arm.

„Nein, es ist schon in Ordnung, Mary“, sagte Bartow in plötzlich unterwürfigem Ton. Dann entgegnete er: „Ich entschuldige mich für diese Respektlosigkeit, Sir.“

Samuel war überrascht und wusste nicht, wie er reagieren sollte. Deanna lächelte in ihre Serviette.

„Entschuldigung angenommen“, murmelte er.

Bartow nickte voller Selbstvertrauen, griff in seine Hemdtasche und nahm ein Päckchen Zigaretten heraus.

„Wie ich schon sagte, die Leute nennen das, was immer diese vier Menschen umgebracht hat, ‚Herz des Drachen‘.“

„Vier?“, fragte Deanna.

„Ich dachte, es wären drei?“

Bartow steckte sich eine Zigarette in den Mund und zündete sie mit einem Zippo-Feuerzeug an.

„Das war auch so, Ma’am, aber es gab noch einen in der letzten Nacht. Das SFPD hält das aus den Zeitungen raus, um eine Panik zu vermeiden. Aber ich habe da einen Typen drauf angesetzt.“ Auf Samuels fragenden Gesichtsausdruck hin fügte er hinzu: „Ich habe meinen Eltern geholfen, einen Dämon auszutreiben, der den Sohn des Typen übernommen hat. Ein bisschen Latein hilft manchmal viel – und solche Sachen erkaufen dir Dankbarkeit, die lange anhält.“

Samuel wurde etwas nachgiebiger.

„Mein Kumpel konnte mir die Akte nicht besorgen, dafür aber Informationen über die Opfer. Der erste war Michael Verlander, aber jeder nannte ihn ‚Moondoggy‘.“

„Ein Hippie“, sagte Samuel.

„Ja, Sir. Aber die Wohnung, in der er gefunden wurde, gehörte Frederick Gorzyck. Sein Aufenthaltsort ist unbekannt. Die anderen beiden waren ganz normale Einwohner von Chinatown. Einer war der Manager einer Reinigung und dem anderen gehörte ein Restaurant. Aber das Opfer aus der letzten Nacht war anders – eine Frau namens Marybeth Wenzel, eine Studentin aus Berkeley.“

„Haben die Opfer irgendwas gemein?“, fragte Samuel.

Bartow schüttelte den Kopf, während er an seiner Zigarette sog.

„Jedenfalls nichts, was jemandem aufgefallen wäre. Es ist schwer, das mit Sicherheit zu sagen, weil die Chinesen normalerweise nicht mit den Cops reden. Also weiß man über diese zwei nicht viel. Und das letzte Opfer, das Mädchen? Die macht es sogar noch schlimmer. Darum ist dichthalten die neue Parole bei der Polizei. Ein Hippie und zwei Chinesen sind eine Sache – die werden kaum bemerkt. Aber das hier ist ein nettes College-Mädchen, und das bedeutet gewöhnlich eine Menge Druck von der vierten Gewalt, den Medien.“

In diesem Moment kamen ihre Getränke. Deanna nippte wütend an ihrem 7up, weil Bartow recht hatte. Immigranten und ein Aussteiger würden nicht viel Aufsehen bei der Presse hervorrufen, aber die Zeitungen würden viel größeres Interesse zeigen, wenn etwas über das tote Mädchen nach außen drang.

„Glaubst du wirklich, dass es ein Drache ist?“, fragte Mary gespannt.

Bartow zuckte mit den Schultern und nahm einen Schluck Rotwein.

„Weiß nicht, Mary, aber überall in Chinatown flüstert man sich etwas über ‚das Herz des Drachen‘ zu.“

Samuel kippte einen großen Schluck Bier herunter.

„In Ordnung. Ihr Mädchen macht euch an die Bücher. Seht mal, ob ihr herausfinden könnt, was dieses ‚Herz des Drachen‘ ist und wie es mit dem hier zusammenhängt. Ich werde sehen, ob ich den finde, der es heraufbeschworen hat.“

Bartow richtete sich in seinem Stuhl auf.

„Was soll ich machen, Sir?“

„Wir können das von hier an übernehmen, Sohn“, sagte Samuel etwas abweisend.

„Dad“, sagte Mary mit einem wütenden Blick. „Das ist nicht fair. Wir wären ohne Jack gar nicht hier.“

Samuel wollte gerade widersprechen, aber Deanna schnitt ihm das Wort ab.

„Wir können wahrscheinlich seine Hilfe bei der Recherche brauchen“, sagte sie.

Ihr Mann warf ihr einen irritierten Blick zu, aber sie starrte einfach zurück. Samuel arbeitete extrem ungern mit anderen Jägern, das wusste sie. Aber weil Jack sie hergerufen hatte, schien es nicht richtig, ihn auszuschließen.

„Wir drei haben unsere eigene Art, die Sache anzugehen“, sagte Samuel mit gepresster Stimme. „Ich bin sicher, dass Jack das versteht.“

Bartow nahm einen letzten Zug aus seiner Zigarette und drückte sie gerade aus, als die Kellnerin das Essen brachte. Er wartete, bis sie alle vier Teller abgestellt hatte, bevor er sprach.

„Seht mal, mir ist klar, dass ich mit meinem schlimmen Fuß nicht viel ausrichten kann, aber ich kenne mich in der Bibliothek aus und ich kenne diese Stadt. Ich kann helfen.“ Dann begann er mit Messer und Gabel sein Kalbfleisch Parmigiana in ordentliche Rechtecke zu schneiden.

Samuel ignorierte sein Essen und starrte Jack an.

„Es ist auch der schlimme Fuß, der mir Sorgen macht, Jack. Ich will ehrlich mit dir sein – es gefällt mir nicht, dass ich jemandem vertrauen soll, der sich in den Fuß geschossen hat.“

Jacks Mund war voll, und Mary, die ihre Spaghetti Pomodoro um ihre Gabel wickelte, sprach, bevor er schlucken und sich verteidigen konnte.

„Dad, was ist nur mit dir los“, fragte sie. „Warum bist du so ein Arsch?“

„Ich bin kein A…“

„Er hat sich nicht selbst in den Fuß geschossen!“

„Das sagt er!“

„Und ich sage es auch, weil er mir das letzte Mal, als wir hier waren, die Wunde gezeigt hat. Der Winkel ist falsch – das kann er sich unmöglich selbst zugefügt haben.“

Deanna konnte nicht anders, als stolz zu lächeln. Sie hoffte nur, dass ihr Mann nicht darauf einging, dass Mary und Jack in einer so intimen Situation gewesen waren, ohne dass er davon wusste.

„Warum hast du das nicht vorher gesagt?“, fragte Samuel.

„Warum hast du mir nicht vertraut?“, schoss Mary zurück.

„Oder mir?“, fragte Jack, als er endlich zu Wort kam. „Sehen Sie, ich verstehe, dass Sie mich nicht mögen, Mr. Campbell, aber Sie kannten meine Eltern. Und ich verstehe die Szene, glauben Sie mir. Ich kann helfen.“

Samuel blickte Deanna an, was ihr zeigte, dass er sich zahlenmäßig unterlegen fühlte.

Deanna schob einfach nur ihre Gabel tief in ihre Pasta Primavera, um ihm zu zeigen, dass er da allein durchmusste.

Samuel spießte endlich seine Gabel in sein Osso Bucco, was ihr ein weiteres Lächeln entlockte. Er würde nie zugeben, dass er im Streit unterlegen war, aber wenn er nicht das letzte Wort beanspruchte, war das gewöhnlich ausreichend.

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