Elf
John Winchester fuhr auf den Hof. Er hatte noch immer den Geruch von Weihrauch in der Nase. Es war ein schwieriger Kampf gewesen, aber seine Zauberformel hatte den Poltergeist endgültig vertrieben.
Ein Teil von ihm wäre gerne in Henderson geblieben, um eine gute Mütze Schlaf zu bekommen, aber er war jetzt schon viel zu lange von den Jungs getrennt. Er hatte sie in einer Schule in South Dakota eingeschrieben und den Singer-Schrottplatz als Adresse angegeben. Das Herbstsemester war fast vorüber. Wenn es erst einmal vorbei war, würde er Bobby Singers Gastfreundschaft nicht mehr länger strapazieren.
John fühlte sich nicht wohl dabei, sie so lange in Anspruch zu nehmen, aber er wusste auch, dass er den Jungs so viel Kontinuität bei ihren Schulbesuchen bieten musste wie möglich – besonders wegen des sechsjährigen Sammy.
Er würde sehen, wo ihn die Arbeit von hier aus hinführte.
Es gab auch einen anderen Grund, warum er sie gerne sehen wollte. Der Poltergeist hatte zwei junge Mädchen aufs Korn genommen und das hatte bei ihm einen Nerv getroffen. John wusste, dass seine Söhne in der Lage sein mussten, sich gegen alles zu verteidigen, was da draußen lauerte. Er hatte bereits mit Dean, Sammys zehnjährigem Bruder, angefangen. Dean war ein ausgezeichneter Schütze an Johns M1911 und konnte das Gewehr in einer flüssigen Bewegung mit Eisenkugeln laden und abfeuern.
Irgendwann müsste er das Sammy auch beibringen.
Aber noch nicht jetzt.
Er war die ganze Nacht gefahren und aus dem Motor des Impala drang ein merkwürdig klapperndes Geräusch. Er würde sich Bobbys Werkzeuge ausleihen müssen, wenn er erst mal eine Nacht – oder eher einen Tag – geschlafen hatte.
Als er auf den Hof einbog, ging im Osten die Sonne auf. Sie schien auf die Ansammlung von Autos, Lastwagen und Schrottkarren, die um Bobbys Haus herumstanden. Er kniff die Augen zusammen, als er aus dem Impala stieg, und ging steif auf die Veranda zu.
Sam kam rausgerannt, bevor er überhaupt die Tür erreicht hatte.
„Dad!“, rief der Junge und schlang seine Arme um Johns Beine.
John lächelte hilflos. „Hallo, Sammy!“
„Ich freue mich so, dass du zu Hause bist!“, sagte der Junge und spähte böse zu seinem Vater hoch. „Dean war gemein.“
Als er aufsah, standen Bobby und Dean in der Tür. Der erste sah aus wie immer: Flanellhemd, Baseballmütze und Jeans, dazu eine brummbärige Miene. Letzterer schmollte.
„Ich bin nicht gemein gewesen“, protestierte Dean, „Ich habe einfach nur den letzten Donut gegessen. Ist doch keine große Sache!“
„Aber Bobby hat gesagt, dass ich ihn haben darf!“, jammerte Sam, der immer noch die Beine seines Vaters umklammerte.
„Ich sagte, jeder von euch beiden darf zwei essen“, sagte Bobby mit leidender Stimme. Er hatte John mehrfach gesagt, dass es ihm nichts ausmachte, auf Sam und Dean aufzupassen, weil er keine eigenen Kinder hatte. Momentan wirkte er allerdings eher so, als hätte er es zu schätzen gelernt, keine Nachkommen zu haben.
John wollte auf das Haus zugehen, aber weil Sam immer noch an einem seiner Beine hing, war es mehr ein unbeholfenes Humpeln. Bevor er fünf Fuß weit gekommen war, brachen beide in lautes Gekicher aus, weil es so komisch war. Nach einer Sekunde fingen auch Bobby und Dean an zu lachen und nach ein paar Minuten saßen alle gut gelaunt an Bobbys Küchentisch.
Dean und Sam erzählten alles über die Abenteuer, die sie in seiner Abwesenheit erlebt hatten. An den Wochenenden hatten sie zwischen den Autos Verstecken gespielt – das war ein Paradies für die Jungs. Während der Woche gingen sie zur Schule, aber anscheinend wollte nur Sam darüber reden. Andererseits war er auch erst in der ersten Klasse und hatte viel weniger Stunden als Dean.
„Miss Roach hat gesagt, dass ich Aufgaben aus der dritten Klasse lösen kann“, sagte er stolz.
John war überrascht.
„Das ist, weil du ein Klugscheißer bist“, sagte Dean.
„Nein, das bedeutet, dass er klug ist, Dean“, sagte John. „Und das ist etwas Gutes. Ich bin stolz auf dich, Sammy.“
Sam streckte seinem Bruder die Zunge raus.
„Dean macht auch Aufgaben aus der dritten Klasse!“
„Du kannst mich mal, Sammy!“, sagte Dean, der bereits in der fünften Klasse war.
John ahmte die Stimme seines Drill Sergeants in der Armee nach.
„Hey! Hört auf damit!“, sagte er streng. „Wenn das so weitergeht, wird euch nicht gefallen, was passiert.“
Beide Jungs verstummten abrupt und sahen beschämt nach unten.
„Entschuldigung, Sir“, sagte Dean.
„Entschuldigung, Dad“, sagte Sam.
„Das klingt schon besser.“
Nach einer Weile gingen die Jungs zum Spielen raus und John folgte Bobby ins Wohnzimmer. Sie saßen beide mit einer Flasche Budweiser auf der Couch und John berichtete Bobby von dem Poltergeist.
„Hört sich an, als hättest du alles gut hingekriegt“, sagte Bobby.
John schmunzelte über Bobbys Hang zur Untertreibung.
„Ja. Der Motor des Impala macht übrigens wieder Zicken. Ich muss mich erst mal von der Fahrt erholen, aber ich will ihn später noch aufbocken.“
„Kein Problem.“ Bobby war schon ein paar Jahre länger ein Mitglied der Gemeinschaft der Jäger und hatte inzwischen den Ruf, dass er jedes Auto reparieren konnte. Aber John war selbst ein guter Mechaniker und kannte den Impala-Motor besser als jeder andere.
John rieb sich die Augen, um besser sehen zu können, aber es verstärkte nur seine Müdigkeit. Das Adrenalin nach der Jagd hatte ihn auf der Straße angetrieben, aber jetzt, da er wieder bei seinen Jungs war, senkte sich die Müdigkeit auf ihn herab wie eine warme Flanelldecke.
„Gibt’s was Neues?“, fragte er.
Bobby hatte seine Finger näher am Puls der Jäger als jeder andere außerhalb von Harvelle’s Roadhouse. John wollte wissen, ob er irgendeine Information bekommen hatte, die ihn zu Marys Mörder führen könnte.
„Eigentlich ja.“ Das hielt John wach. Bobby stand auf und kramte in den Papieren, die auf seinem Schreibtisch vor dem Kamin verstreut lagen. „Doragon Kokoro ist wieder aufgetaucht.“
Der Name sagte ihm nichts.
„Wer ist das?“
„’n richtig fieser Geist. Vor zwanzig Jahren ist er in San Francisco aufgetaucht und hat Leute umgebracht. Jetzt ist er zurück und ich habe das Einzige, das ihn aufhalten kann.“
John begann unwillkürlich die Meilen im Kopf zu berechnen.
„San Francisco ist weit – insbesondere, wenn der Impala-Motor spinnt. Aber ich kann wahrscheinlich da rausfahren.“
Bobby hob die Hand.
„Ganz ruhig, John. Du hast selbst gesagt, dass du fertig bist. Und du hast seit einem Hundejahr keine Zeit mehr mit deinen Kindern verbracht.“
John stimmte ihm zu, aber die bloße Erwähnung einer neuen Jagd, eines weiteren Mörders, einer weiteren Möglichkeit vielleicht – vielleicht – herauszufinden, wer Mary auf dem Gewissen hatte … ließ die Müdigkeit von ihm abfallen wie Herbstlaub im November.
„Hast du jemand anderen dafür?“
Bobby zögerte und das sagte John alles, was er wissen musste.
„Du hast gesagt, dass dort Leute sterben, Bobby. Das ist alles, was zählt.“
Und Rache, aber das brauchte er nicht zu erwähnen.
„Was muss ich tun?“
Bobby griff hinter seinen Schreibtisch und hob ein Schwert vom Boden auf. John war erstaunt, dass es nicht in einer Scheide steckte. Dann sah er, dass es ein Hakenschwert von der asiatischen Sorte war. Diese Dinger passten nicht gut in eine Scheide …
Er sah ebenfalls, dass Kanji-Zeichen in die Klinge eingraviert waren.
„Magisches Schwert?“
Bobby schüttelte den Kopf.
„Nee, nur ’ne schicke Aufschrift. Die Zeichen heißen nur ‚Durchbohre das Herz des Drachen‘.“
„Woher weißt du das?“
Als Antwort ließ Bobby mehrere Phrasen ab, die wie Japanisch klangen.
„Oh“, sagte John lahm. Er hätte eigentlich wissen müssen, dass es nichts gab, was Bobby nicht wusste. „Du hast mir bestimmt gesagt, ich soll abhauen und verrecken“, fügte er hinzu.
„So was Ähnliches“, antwortete Bobby grinsend. „Und das ist auch schon alles – stoß das hier durch das Herz des Drachen, Ende – vorerst zumindest.“ Dann bröckelte sein Grinsen. Während du weg bist, mache ich mich an die Maschine des Impala. Das Baby wird so gut wie neu sein.“
„Wie soll ich denn da hinkommen?“ Er zeigte auf das Schwert.
„Nimm ein Flugzeug“, sagte Bobby. „Ich schicke das Schwert per Post. Es wird dann in San Francisco auf dich warten.“
„Okay, das könnte gehen.“ Daran hatte John gar nicht gedacht. Aber andererseits hatte Bobby auch eine legale Einkommensquelle. Einfach ein Flugticket kaufen und Sachen nach San Francisco schicken, die man nicht durch die Sicherheitskontrollen am Flughafen bekam, lag außerhalb von Johns Budget. Er hatte schon Schwierigkeiten, den Impala zu halten, besonders, wenn das Benzin mehr als einen Dollar pro Gallone kostete.
Bobby erklärte, dass Doragon Kokoro der Geist eines Ronin war, den ein halb chinesischer, halb japanischer Mann namens Albert Chao erweckt hatte.
Ein Jäger hatte die magischen Worte gesprochen. Nach dem, was Bobby gehört hatte, hieß er Jack Bartow. Er hatte den Geist für zwanzig Jahre gebannt und das lag jetzt genau zwei Dekaden zurück.
„Was ist mit dem Jäger passiert?“
„Bartow? Er ist später ums Leben gekommen, als er ein altes Ehepaar vor einem Geist retten wollte. Ich habe ihn getroffen, gleich nachdem ich in dieses Geschäft eingestiegen bin, und er hat mir eine Menge Zeug hinterlassen – inklusive dem hier.“
Dabei wog er das Schwert in seiner Hand.
„Wo hat er es gefunden?“, fragte John.
„Hat es von einem Kerl aus Berkeley, aus der Abteilung für Orientalistik. Der Typ hat Bartow schon mal vor zwanzig Jahren geholfen, zusammen mit ein paar anderen Jägern. Dann ist ihm das hier in die Hände gefallen und er dachte, Bartow würde wissen, was er damit zu tun hätte, wenn Doragon Kokoro zurückkäme. Jetzt haben wir ein paar Tote in Chinatown, kross gebraten und in Scheibchen geschnitten.“
„Chinatown?“ Ich dachte, das wäre ein japanischer Geist.“
„Wie ich schon sagte – Chao ist ein Halbblut. Viel mehr weiß ich auch nicht.“ Dann sah er seinen Freund bedeutungsvoll an. „Bist du sicher, dass du das machen willst? Ich kann wahrscheinlich auch zu Harvelle’s gehen und jemanden finden, der sich darum kümmert. Ein paar Tage werden schon nicht so viel ausmachen.“
John antwortete zuerst nicht. Stattdessen sah er zu Dean und Sam, die im Esszimmer Fangen spielten.
Weihnachten stand vor der Tür und er wollte die Feiertage mit den Jungs verbringen …
Aber wenn das hier alles war, was er brauchte, um das Herz des Drachen zu durchbohren, dann ging es höchstens um ein paar Tage. Er wäre rechtzeitig wieder da und hätte noch jede Menge Zeit.
„Kross gebraten, sagst du?“
Dann kam ihm ein Bild zurück ins Gedächtnis.
Seine Frau Mary klebte an der Decke, Blut strömte aus ihrem Bauch und ein Feuer umgab sie, das sie gleichzeitig verzehrte.
Er hatte sein Leben der Jagd nach ihrem Mörder gewidmet. Sicher, er hatte auch andere Gründe zum Jagen. Menschen starben durch die Hand von Monstern. Die meisten Menschen weigerten sich zu glauben, dass so etwas überhaupt existierte.
Mit achtzehn war John Winchester vom U.S. Marine Corps eingezogen worden. Er war gern gegangen, weil er an das glaubte, was seine Vorgesetzten ihn lehrten: Dass er als Marine Leben retten konnte. Ein Jahr in Vietnam hatte ihn davon kuriert, aber das Bedürfnis war immer noch da.
Trotzdem war Leben zu retten nur ein schöner Nebeneffekt. Als er aus Vietnam zurückgekommen war, hatte er nur einen einzigen Gedanken im Kopf: Ich möchte den Rest meines Lebens mit Mary Campbell verbringen. Und das tat er auch jahrelang, bis dieses Ding – Dämon, Monster, was immer es war – sie ihm weggenommen hatte.
Nein, der wahre Grund für sein Leben als Jäger – für das, was ihn Tag und Nacht antrieb – war herauszufinden, was seine Frau umgebracht hatte, und es ein für alle Mal zu erledigen.
Vielleicht würde das Herz des Drachen einen weiteren Hinweis liefern, wo er das Monster finden konnte. Dann würde er endlich die Rache nehmen können, nach der sein Herz schon seit sechs Jahren dürstete.
John wandte sich mit frisch gefasster Entschlossenheit zu Bobby um.
„Also, wann geht mein Flug?“