Achtzehn

Als Nakadai der Tod durch die Hand des Dämons ereilt hatte, war das unvorstellbar schmerzhaft gewesen. Als die Flammen wüteten, ihm das Fleisch von den Knochen brannten und das Leben aus seinem Körper trieben, wusste er, dass der Dämon noch weitaus mehr mit ihm vorhatte, als eine friedliche Stadt in einen blutrünstigen Mob zu verwandeln.

Die Intensität des Schmerzes ließ ihn irgendwann ohnmächtig werden – zum letzten Mal, betete er. Als der Schmerz erst einmal vergangen war, gab es nichts, das ihn ersetzen konnte. Alles war einfach ein großes Nichts. Für eine Millisekunde glaubte Nakadai, dass er endlich den Frieden gefunden hatte, den er seit jenen dunklen Tagen suchte, in denen sein Meister in Ungnade gefallen war.

Dieser Moment der Hoffnung war flüchtig.

Die Feuer, die ihn getötet hatten, kehrten zurück. Obwohl er ihre Hitze und zerstörerische Kraft nicht spürte, brachten sie ihn zurück ins Land der Lebenden.

Als er dort ankam, stand eine alte, runzlige Frau vor ihm.

Ich bin Miko“, hatte sie gesagt. „Du bist mein Großonkel. Und du wirst tun, was ich sage.“ Sie hielt ein Hakenschwert in den Händen, in das die Runen „Durchstoße das Herz des Drachen“ eingraviert waren.

So sehr er es auch versuchte, Nakadai konnte nicht sprechen. Nicht einmal, um sich zu vergewissern, dass dieses verwitterte Weib ein Nachkomme seines pummeligen zweijährigen Neffen war, den er noch zu Lebzeiten kennengelernt hatte. Außerdem konnte er seinen Körper nicht kontrollieren.

Durch den Schleier der Flammen erzählte die Frau, die sich Miko nannte, dass sie den Zauberspruch kannte, mit dem der Dämon ihn verbannt hatte. Die Macht ihres Geburtsrechts erlaubte ihr, den Vorfahren zurück ins Land der Lebenden zu rufen.

Sie sprach von Ausländern, die kurz nach Nakadais Tod an ihre Küsten gekommen waren, und davon, wie ihr schlechtes Wesen Japan korrumpiert hatte. Sie erzählte ihm von ihrer Tochter, die einen Chinesen geheiratet hatte. Sie war über den Ozean in die Vereinigten Staaten gegangen und hatte einen Sohn geboren.

Das war die letzte Demütigung gewesen und hatte Miko zum Handeln gezwungen. Sie hatte ihre Tochter enterbt und ihr den Kontakt zur Familie verwehrt. Sie hatte die Familiengeschichte durchforscht, um etwas zu finden, dass ihr die Macht verleihen konnte, der Korruption ein Ende zu machen. Dabei hatte sie von Nakadai erfahren.

Sie hatte Meister des Okkulten aufgesucht und ihre Künste studiert. Sie hatten ihr geholfen, einen Gegenzauber zu schaffen, der ihn auf die Erde zurückbrachte und in eine Waffe verwandelte. Aber sie kannte die Gefahren, die in allem Bösen lauerten, und so hatte sie das Schwert schmieden lassen.

Es war als Sicherheit gedacht, falls der Dämon zurückkehrte und versuchte, die Kontrolle zurückzuerlangen.

Und jetzt wirst du mir helfen, das Land von der verfluchten Plage aus dem Westen zu befreien“, hatte die alte Frau gesagt und er merkte, dass ihr Geist längst dem Wahnsinn Platz gemacht hatte. „Zusammen werden wir Japan zurück in seine noble Glanzzeit führen.“

Aber die Jahre hatten sowohl an ihrem Körper als auch an ihrem Geist gezehrt, und bevor Nakadai eine von Mikos Aufgaben erledigen konnte, ergab sie sich ihrem hohen Alter und starb.

Er fiel zurück in glückselige Vergessenheit, bis zu dem Tag, an dem ihr Großenkel, Albert Chao, den gleichen Zauber nutzte. Das war das Halbblut, das Miko so in Rage versetzt hatte. Unter seinem Einfluss musste er armselige Rachefantasien ausführen, bis er glücklicherweise durch die Hand einer Frau aus dem Westen erneut gebannt wurde.

Als er zwanig Jahreszeiten später wieder zurückkehrte, war er wieder in den Händen von Albert Chao. Sein Nachkomme war weniger armselig, hatte aber immer noch eine gemeine Ader. Nur Mikos Schwert – das aus irgendeinem Grund von einem Ausländer geführt wurde – hielt ihn davon ab, noch mehr Schaden anzurichten.

Erneut entschwebte er in die Leere und hoffte, dass es diesmal für immer sein würde. Aber er wusste selbst nur zu gut, dass der Dämon das niemals zulassen würde.

* * *

Dean stand zwischen einem zappligen Sammy und einem geduldigen Onkel Bobby an der Gepäckausgabe des Flughafens von Sioux Falls.

Jedes Mal, wenn jemand durch die Tür kam, schlug sein kleines, zehnjähriges Herz etwas schneller. Und immer, wenn es nicht Dad war, war er ernüchtert.

Er wollte nur, dass Dad sicher nach Hause kam. Der Teil mit ‚sicher‘, das wusste er, war schon einmal der Fall.

Dad hatte Onkel Bobby letzte Nacht angerufen, als Dean eigentlich schon im Bett sein sollte. Aber anders als Sammy konnte er nicht schlafen. Als das Telefon klingelte, hatte er sich leise aus dem Bett zum Treppenabsatz geschlichen. Dann hatte er zugehört, was Onkel Bobby am Telefon in der Küche sagte.

„Gut … Ja, okay.“ Es gab eine Pause, während John am anderen Ende der Leitung sprach. „Ja, ich dachte mir schon, dass Wallace sein Geschäft versteht. Was? … Oh, ja, sicher. Das ist sinnvoll. Nun, schick das Schwert mit der Post. Du willst das Teil bestimmt nicht durch den Metalldetektor mitnehmen und den Volltrotteln, die sich um das Sperrgepäck kümmern, würde ich auch nicht trauen. Da hätten wir Glück, wenn das verdammte Ding nicht aus Versehen in der äußeren Mongolei landen würde.“

„Lass das einfach über mein FedEx-Konto laufen, um Himmels willen … In Ordnung. Ich packe es weg, wenn es ankommt. Falls wir es in zwanzig Jahren noch einmal brauchen. Ja, wir holen dich vom Flughafen ab – ich bringe sogar den Impala mit. Er läuft jetzt schön rund, brauchte nur ’nen Ölwechsel und musste ein bisschen eingestellt werden.“

„Was? … Ja, ich sagte ‚wir‘. Ich bringe die Jungs mit. Sie freuen sich auf dich … Warum sollte ich sie nicht mitbringen … Gut …“

„Okay, bis dann, John.“

Nachdem er das Piepen gehört hatte, als Onkel Bobby den Hörer auflegte, war Dean glücklich gewesen. Dad war am Leben – und so wie er mit Onkel Bobby geredet hatte, genauso störrisch wie immer.

Das bedeutete, es ging ihm gut.

Als er am Flughafen wartete, verstand er, warum es für Dad so wichtig war, viel unterwegs zu sein. Mehr als Sammy es jemals konnte. Sammy hatte Mom nicht richtig gekannt, er war noch ein Baby gewesen, als sie starb. Dean konnte sich nicht vorstellen, dass sein kleiner Bruder jemals verstehen konnte, was mit ihr passiert war.

Wenn er ehrlich war, verstand er es selbst nicht so ganz. Es gab Tage – auch wenn er das gegenüber niemandem zugeben wollte –, an denen er sich nicht mal mehr erinnern konnte, wie sie aussah.

Irgendein Monster hatte Mom umgebracht und Dad würde nicht ruhen, bis er es gefunden und erledigt hatte. Nebenbei tötete er andere Monster, die die Mütter von anderen Kindern umgebracht hatten.

Weil Dad ein Held war. Und das war das, was Helden eben taten.

Endlich erschien ein bekanntes Gesicht hinter einem streitenden Pärchen. Dad überholte sie, und während er zügig auf sie zukam, erschien ein breites Grinsen zwischen seinen Bartstoppeln.

Sammy hatte nicht so gut aufgepasst, aber als Dad durch die Tür kam, sprang er auf und rannte los.

„Daaad!“

„Was für’n Baby“, sagte Dean und tat so, als wäre es keine große Sache, dass Dad wieder da war.

„Geht es euch gut, Jungs?“

„Uns geht es toll, Dad.“ Sammy sprang förmlich auf und ab. „Ich habe Dean beim Dame Spielen geschlagen und dann hat er beim Verstecken gewonnen. Das ist aber okay, ich habe ihn beim Yahtzee geschlagen!“

Dean wollte gerade klarstellen, dass Sammy lediglich eine Partie Yahtzee gewonnen hatte, aber Onkel Bobby legte die Hand auf seine Schulter und schüttelte den Kopf.

Widerwillig hielt Dean den Mund. Sam war so glücklich, Dad zu sehen und Bobby wollte nicht, dass Dean ihm den Spaß verdarb.

Also sagte er nur: „Schön dich zu sehen, Dad.“

„Ich freue mich auch, euch beide zu sehen. Oh, und ich habe euch etwas mitgebracht!“ Er griff in die Jackentasche und zog zwei winzige Rechtecke aus Plastik hervor, gab eines Sam und streckte die andere Hand aus, um Dean das Gegenstück zu geben.

Es war ein Miniatur-Nummernschild aus Kalifornien, auf dem an Stelle der Nummer DEAN stand.

Sam bekam große Augen – auf seinem stand SAM.

„Wow! Das ist so toll!“

„Die bekommt man nur in San Francisco“, sagte Dad lächelnd. „Ich musste euch doch etwas Besonderes mitbringen.“

Weil Sammy so glücklich über sein Geschenk war, sagte Dean nichts.

Er wusste aber, dass man solche Artikel an vielen Orten in Kalifornien bekommen konnte und dass sie besonders gern in Souvenirläden an Flughäfen verkauft wurden. Er war nur einmal geflogen und er hasste es wirklich, wirklich, wirklich sehr. Aber er erinnerte sich an diese Läden.

Das bedeutete, dass Dad sie wahrscheinlich schnell auf dem Weg zum Flieger besorgt hatte. Nach dem, was er von Onkel Bobbys Telefongespräch gestern Abend mitbekommen hatte, hatte er seine Söhne nicht einmal am Flughafen erwartet.

Dann zerstrubbelte Dad Sammys Haar und ging auf Dean zu. Er legte ihm die Hände auf die Schultern und sah ihn mit seinem ernstesten Gesichtsausdruck an. Den setzte er immer auf, wenn er etwas echt Wichtiges sagen wollte.

„Du hast gut auf Sammy aufgepasst, oder?“

Dean schluckte und fühlte sich plötzlich entsetzlich schuldig. Er erinnerte sich an das, was Dad in der Nacht, als Mom gestorben war, zu ihm gesagt hatte. Sie waren in sein Gedächtnis eingebrannt, aber gerade jetzt hallten sie laut.

„Bring deinen Bruder hier raus, so schnell du kannst! Los Dean, lauf!“

Also nahm er Haltung an und sah seinem Vater direkt in die Augen.

„Ja, Sir!“

Dad lächelte. „Das ist mein Junge!“

„Kommt mit“, sagte Onkel Bobby. „Lasst uns hier abhauen.“

Sie gingen zum Parkplatz. Dean wurde ein bisschen wütend, als Sam gar nicht mehr aufhören wollte, davon zu erzählen, wie er ihn das eine Mal im Yahtzee geschlagen hatte. Aber dann dachte er wieder an Dads Worte und ließ ihn gewähren.

Dad kämpfte zwar gegen die Bösen und rettete Menschen, aber er liebte seine Söhne.

Weil Dad ein Held war, und das war es, was Helden eben so taten.

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