Vierzehn

Der zweitbeste Tag in Albert Chaos Leben war, als Tommy Shin die Geschäfte der Triaden in Chinatown übernommen hatte.

Der beste Tag war selbstverständlich der gewesen, als Moondoggy Verlander ihm den fehlenden Teil des Zauberspruchs gebracht hatte. Damit konnte er das Herz des Drachen erwecken. Nichts davor – und auch nichts mehr danach – war vergleichbar mit der puren Herrlichkeit solcher Macht.

Er musste diese Macht zurückgewinnen.

Der Geist hatte zwar weiterhin seine Wunden geheilt, aber ohne die Anwesenheit des Geistes selbst blieb ihm seine mächtigste Waffe ärgerlicherweise unerreichbar. Bis der Zauber, der den Geist verbannt hatte, verflog, blieb ihm die wahre Macht verwehrt.

Er konnte nicht verletzt oder getötet werden, obwohl er aus irgendeinem Grund weiter alterte. Der Zauber half ihm, jede Wunde zu heilen – aber je schwerer die Verletzung war, desto länger dauerte die Rekonvaleszenz.

Unverwundbarkeit war nicht das Gleiche wie die Fähigkeit, jemanden zu verletzen. Als er das erst einmal verstanden hatte, machte sich Albert die Kung-Fu-Welle in den frühen Siebzigern zunutze. Dojos waren wie Pilze aus dem Boden geschossen. Sie füllten sich schnell mit Schülern, die der nächste Bruce Lee werden wollten. Seine beschleunigte Wundheilung verschaffte Albert einen entscheidenden Vorteil und er hatte schnell die Fähigkeiten erlernt, auf die es ihm ankam.

Als Albert fand, dass er sie ausreichend verfeinert hatte, bot er seine Dienste den Triaden an. Zuerst wurde er abgelehnt, aber er gab nicht auf und fand eine Untergruppe, die ihn aufnahm.

Weil er in Chinatown aufgewachsen war, hatte er immer gewusst, wie viel Macht die Triaden auf die Gemeinschaft ausübten. Also hatte er die nächsten zwanzig Jahre seines Lebens dem Aufstieg in der Hierarchie der Triaden gewidmet.

Unglücklicherweise verbrachte er die meiste Zeit auf dem untersten Rang. Sein Status als Halbblut war ihm – wie gewöhnlich – ein frustrierendes Hindernis.

Irgendwann durfte er dann als Vollstrecker auf der untersten Ebene arbeiten. Er fungierte als Bodyguard für Prostituierte, war Türsteher vor den Klubs oder kümmerte sich gelegentlich um Leute, die ihr Schutzgeld schuldig blieben oder ihr Darlehen nicht zurückzahlten.

Allerdings durfte er niemals seine Meinung äußern. Meistens durfte er nicht einmal den Mund öffnen.

Das hatte sich geändert, seit Tommy Shin ans Ruder gekommen war.

* * *

Niemand wusste, warum der Alte sich zur Ruhe setzen wollte. Die Ankündigung kam aus heiterem Himmel und er schien selbst zutiefst unglücklich darüber zu sein. Es gab Gerüchte, dass der Alte etwas getan hatte, was das Missfallen der Oberen in China erregt hatte. Dass sie klargestellt hatten, dass jetzt junges Blut nachrücken musste.

Tommy betrachtete sich als Amerikaner, der zufällig in Chinatown wohnte, und nicht als Chinesen, der zufällig in Amerika lebte. Und er tat, was niemand aus den Triaden sonst getan hätte: Er sprach mit Albert.

„Das hier ist das Land der unbegrenzten Möglichkeiten“, hatte Tommy damals gesagt. Albert war sich ziemlich sicher, dass es Tommy verdammt egal war, mit wem er sprach – er liebte nur den Klang seiner eigenen Stimme. Aber das machte nichts. Was allerdings etwas ausmachte, war, dass es Albert war, der dort stand.

Der Fernseher war eingeschaltet und eine Nachrichtensendung lief. Leute in Ostdeutschland kletterten über die Berliner Mauer. Die Grenzsoldaten, die sie vor wenigen Monaten noch alle erschossen hätten, unternahmen nichts dagegen.

„Wir können uns nicht erlauben, uns von den alten Geschäftstraditionen fesseln zu lassen“, fuhr Tommy fort. „Schau dir das an – der Eiserne Vorhang ist gefallen. Wer von uns hätte je geglaubt, dass wir das erleben würden? Also, ja, Albert, ich will hören, was du zu sagen hast. Weil die Tatsache, dass deine Mutter Japanerin war, nicht ausreicht, um dir nicht zuzuhören.“

Das war alles, was er hören musste.

Jetzt, einen Monat später, war Albert ein paar Ränge aufgestiegen. Tommy hörte auf ihn und – widerwillig – taten das auch die anderen, weil der Boss es so machte.

Das war gut, aber es war nur ein Teil seines Plans.

Teil zwei startete beim vorletzten Neumond des Jahres, dem 28. November. Das war der Tag, an dem der Zauber, den dieses blöde blonde Gaijin-Mädchen gesprochen hatte, enden würde. Albert konnte dann erneut über das Herz des Drachen befehlen.

Er sprach die Worte noch einmal und wieder brachen die Flammen aus – Flammen, die die Umgebung nicht verbrannten und trotzdem Energiewellen aussandten. Albert sonnte sich im Glanz dieser Macht und überdachte seinen nächsten Schritt.

Eigentlich hatte er geplant, einfach jeden umzubringen, der ihm im Weg stand und dann die Kontrolle über die Triaden zu übernehmen. Allerdings hatte er nicht damit gerechnet, dass sein Aufstieg innerhalb der Organisation so lange dauern würde.

Die lange Zeit, während der er für den Alten gearbeitet hatte – und für Tommy –, hatte ihm vor Augen geführt, dass mehr dazu gehörte als die bloße Macht. Ja, es half, eine so glorreiche Waffe zu besitzen, aber ein wahrer Anführer war eine Respektsperson. Und das konnte kein Zauber erreichen.

Albert wurde von Gleichgestellten nicht respektiert, auch nicht von den Herren der Triaden in China. Er würde niemals als neuer Anführer respektiert werden, egal über welche Zauberkräfte er jetzt verfügte.

Er konnte allerdings Tommys System eliminieren und dem Triaden-Boss nur einen einzigen verlässlichen Mann lassen: Albert Chao. Wenn dieser Tag käme, würde nur noch Tommy zwischen Albert und dem Thron der Macht stehen. Es wäre dann nur noch eine Frage der Zeit, bis er diese Gruppe und irgendwann alle Triaden kontrollierte.

Er musste nur Geduld haben und methodisch vorgehen. Bei seinem Training im Dojo hatte er das verinnerlicht.

Tommy hatte ihn um ein Treffen gebeten, also kam er durch das Restaurant herein. Albert hoffte, dass es um seinen Vorschlag zum Eintreiben der Schutzgelder ging. Die Ladenbesitzer versuchten immer, sich vor der Zahlung des Schutzgelds zu drücken. So einfach Alberts Lösung auch war, sie würde das Problem beheben.

Er hatte nur den Zeitpunkt schlecht gewählt.

Als er in das Restaurant kam, suchte er aus alter Bodyguard-Gewohnheit die Tische mit den Augen ab. Die Mehrheit der Gäste waren Leute aus dem Viertel, dazu kam noch eine Handvoll rundäugiger Touristen, die sich die Mühe gemacht hatten, nach authentischer chinesischer Küche zu suchen.

Dann war da der Mann mit dem Stoppelbart. Er trug einen Sony-Walkman und aß seine Teigtaschen mit bewundernswerter Geschicklichkeit mit Stäbchen. Als Albert näher hinsah, entdeckte er, dass er Hundemarken um den Hals trug. Seinem Alter nach zu urteilen, hatte er wahrscheinlich in Vietnam gedient und dort gelernt, mit Stäbchen umzugehen.

Als Albert vorbeiging, blickte der Mann scharf nach oben. Dann hielt er das Band an seinem Walkman an und spulte zurück.

Albert machte einen kleinen Umweg zu Lin, dem Oberkellner.

„Behalte den Mann an Tisch sieben im Auge“, flüsterte er ihm zu. „Der gefällt mir nicht.“

Lin starrte ihn an.

„Das ist ein zahlender Kunde.“

„Ja, aber er sieht aus wie ein Cop“, sagte Albert. Er wusste, dass das SFPD nur so von Typen wimmelte, die vom Militär kamen.

„Sind viele Bullen hier, seit Jack, Mike und Johnny gestorben sind“, beharrte Lin. „Vielleicht mag er einfach nur die Teigtaschen.“

Albert starrte ihn finster an und ging in den hinteren Teil, um mit Tommy zu sprechen.

Er hatte schon überlegt, wer das nächste Opfer des Herzens des Drachen werden sollte. Jetzt war er ziemlich sicher, dass es Lin sein würde.

Während er die hölzerne Treppe zu Tommys Büro hinaufstieg, begann er den Spruch zu murmeln.

John verfluchte sich, weil er so leicht zu durchschauen gewesen war. Er konnte aber nicht anders, als scharf nach oben zu sehen, als sein elektromagnetischer Feld-Detektor – der wie ein normaler Sony-Walkman aussah – anfing auszuschlagen.

Die Person, auf den der EMF anschlug, war ein Mann mit einer spitzen Nase, der das Haar zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden hatte. Er hatte John bereits merkwürdig angesehen und es war noch schlimmer geworden, als John ihn so plötzlich anblickte.

Er hoffte, dass das nur die Standardreaktion auf einen Amerikaner in einem Restaurant war, das hauptsächlich von Chinesen besucht wurde. Er hatte in Vietnam ähnliche Erfahrungen gemacht und auf die harte Tour gelernt, dass er besser Lokale besuchte, die amerikanische Soldaten bedienten. Aber bei diesem Ausschlag konnte er kein Risiko eingehen.

Aus dem Augenwinkel sah er den Typen mit dem Oberkellner sprechen und in Johns Richtung zeigen. Das machte es offensichtlich, dass er aufgeflogen war.

Das bedeutete, dass dieser Kerl sehr gut Albert Chao gewesen sein konnte, der für die Erweckung des Herzens des Drachen verantwortlich war. Bobby hatte weder ein Bild noch eine Personenbeschreibung gehabt, also konnte er sich nicht sicher sein.

Aber er würde es herausfinden.

Schnell schlang er die restlichen Teigtaschen herunter, zog seine Bomberjacke über und legte eine Zehndollarnote auf den Tisch, ohne auf die Rechnung zu warten. Er zog eine große Posterrolle unter dem Tisch hervor und ging zum Ausgang.

Der Oberkellner bemerkte nicht einmal, dass John gegangen war. Er war sich nicht sicher, ob das ein gutes Zeichen war oder nicht. Bobby hatte erwähnt, dass Chao ein Halbblut war und dass die von den Vollblutchinesen oft ignoriert wurden. Also hatte John vielleicht Glück gehabt.

Auf der Pacific Avenue angekommen, bog John in die Gasse ein, die zwischen Shin’s Delight und einem Souvenirladen lag. Erleichtert stellte er fest, dass es eine offene Gasse war. Viele Eigentümer hatten Tore aufgestellt, um die Obdachlosen fernzuhalten.

Er erreichte die Rückseite des Restaurants, an der drei Müllcontainer mit den Abfällen standen. Der Gestank von verrottendem Essen beleidigte seine Nase, aber das bremste ihn nicht. Er hatte in den vergangenen sechs Jahren weitaus Schlimmeres gerochen. Auf dem Weg trat er in eine Pfütze, die einen weiteren Fleck neben Dutzenden anderen unidentifizierbaren hinterließ, die bereits auf seinen Bergsteigerstiefeln prangten.

Als er erst einmal an dem dritten Container vorbei war, entdeckte er eine große Metalltür. Sie war mit brüchiger brauner Farbe gestrichen, die fast so wie die Ziegel wirkte. Er nutzte die Deckung des Müllcontainers, um das Schwert aus der Posterrolle zu nehmen. Nicht dass dauernd Leute in die Gasse starrten, aber sicher war sicher.

Die Tür hatte zwei Schlösser, eins am Knauf und einen Riegel darüber. Er versuchte es am Knauf. Er ließ sich ganz herumdrehen, also war sie nicht verschlossen, aber die Tür öffnete sich nicht. Das bedeutete, dass der Riegel vorgeschoben war.

John griff in seine Innentasche und förderte das Einbruchwerkzeug zutage, das ihm Caleb vor zwei Jahren geschenkt hatte. Nun ja, nach eineinhalb Jahren hatte er den Dreh langsam raus.

Nach ein bisschen Fummelei rutschte der Riegel zurück.

John drehte den Knauf und musste die Tür aufreißen. Er fluchte leise, weil sie ein Geräusch machte. Dabei hielt er das Schwert bereit.

Aber es war niemand da. Nur ein dunkler Korridor, der an der Rückseite des Gebäudes entlangführte.

John trat langsam ein und verriegelte die Tür hinter sich. Es wäre nicht gut, wenn jemandem auffiele, dass etwas anders war. Dann wartete er, bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Er stolperte fast über einen Haufen Mülltüten, die noch niemand nach draußen zum Container gebracht hatte. Die Wände waren mit einer brüchigen Holztäfelung versehen.

Er konnte Gesprächsfetzen auf Chinesisch hören, die aus der Richtung des Lichts kamen, und das Geräusch von siedendem Öl. Er bewegte sich langsam und leise auf die Geräusche zu und sah den Kücheneingang und eine Wendeltreppe, die in den zweiten Stock führte.

Dutzende von Leuten in weißen Uniformen liefen in der Küche umher. Das Klappern und die Kochgeräusche bildeten eine konstante Geräuschkulisse, sodass das Küchenpersonal nicht hören würde, wenn John schnell die Treppe hinaufhuschte.

Die Treppe führte auf einen weiteren Flur mit ähnlicher Holztäfelung, die allerdings in besserem Zustand war. An einer Wand waren Fotos in Schwarz-Weiß und Farbe aufgehängt, die verschiedene Leute auf der Straße zeigten. Sie hätten sowohl in Chinatown aufgenommen sein können als auch in China selbst. Bei näherer Betrachtung erkannte er die blumengesäumten Biegungen und Wendungen der Lombard Street im Hintergrund.

An der anderen Wand befanden sich drei geschlossene und eine offene Tür. Als er vorsichtig den Flur entlangging und dabei auf knarrende Dielen achtete, hörte er zwei Stimmen. Zu seiner Überraschung sprachen beide englisch.

Als er näher kam, konnte John die Worte verstehen.

„Ich verstehe“, sagte einer von beiden. „Aber wir müssen immer noch in Betracht ziehen …“

„Im Moment, Al, ziehe ich einzig und allein in Betracht, den zu töten, der hierfür verantwortlich ist. Ich habe drei gute Vertraute verloren und jemand muss dafür bezahlen.“

„Natürlich, Tommy. Ich verstehe, aber wir müssen auch zusehen, dass die Geschäfte wie üblich weiterlaufen.“

John hatte den Verdacht, dass es Al war, der den EMF zum Ausschlagen gebracht und ihm den bösen Blick zugeworfen hatte. Das passte zu dem Vornamen, den Bobby ihm genannt hatte.

Bevor er handeln konnte, hörte er einen spitzen Schrei aus Richtung des Treppenhauses, gefolgt von einem Dutzend weiterer Schreie aus dem Restaurant im Erdgeschoss.

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