Dreizehn

John sah sich in dem Zimmer um, das man ihm in der Emperor Norton Lodge an der Ellis Street gegeben hatte. Es war wohl mal ein nettes Hotel gewesen, aber die Einrichtung sah aus, als stammte sie direkt aus den Sechzigern. Wäre John noch ein Teenager, wäre das wohl in Ordnung. Aber die Zeiten hatten sich geändert und Flower-Power-Tapeten sowie grelle Teppiche kamen einfach nicht mehr so gut.

Der Laden hatte sogar noch Telefone mit Wählscheibe. John war nicht bewusst, dass es die überhaupt noch gab.

Trotzdem, es war billig und das war alles, was zählte.

Es war zuerst alles gut gelaufen. Er und Mary hatten viel Geld gespart – okay, eigentlich wollten sie das College für Dean und Sammy davon bezahlen, aber das hatte jetzt eine geringere Priorität. Nachdem sie gestorben war, hatte er mit dem Geld seinen Rachefeldzug finanziert.

Er hatte nicht gedacht, dass das so lange dauern würde. Ein Jahr oder vielleicht zwei und nicht die sechs Jahre, die er jetzt schon dauerte.

Und es war kein Ende in Sicht. Das bedeutete, dass er fortwährend seine Ansprüche im Hinblick auf Hotels herunterschrauben musste. Nebenbei war man in billigen Absteigen wie dieser nicht so aufdringlich und stellte weniger Fragen.

Das Geld, das er bei der Unterkunft sparte, ging für Waffen, Munition und andere Ausrüstungsgegenstände drauf. Ohne auch nur Essen, Benzin für den Impala und den Lagerraum mit einzurechnen, für den er Miete zahlte.

Früher oder später würde sein Bankkonto leer sein. John hatte allerdings schon ein paar Tricks drauf, die es ihm ermöglichen würden, weiterzumachen.

Ein Vorteil genau dieser Bruchbude war die Nähe zu Chinatown, wo die Morde sich ereignet hatten.

Wie versprochen wartete Bobbys Paket bei seiner Ankunft bereits auf ihn und er legte es auf dem klapprigen Schreibtisch ab, der an der anderen Seite des Zimmers an der Wand stand.

Nur einen Tag zuvor hatte Dean ihm geholfen, das Paket zu schnüren. Dean schwang Bobbys Paketband gerne so, als wäre es eine Waffe. John fand das zwar niedlich, aber unpraktisch. Er wusste, dass die Jungs lernen mussten, sich selbst zu verteidigen. Selbst wenn er das Ding finden sollte, das Mary getötet hatte, bezweifelte er, dass damit alles beendet wäre. John wusste zu viel darüber, wie die Welt funktionierte. Dean fing auch gerade an, das zu begreifen – nicht mehr lange und dann würde auch Sammy es herausfinden. Obwohl John immer noch hoffte, dass der Sechsjährige vielleicht einmal so etwas wie ein normales Leben hätte.

Wenn er nur bald Marys Mörder finden würde.

Als er das schwere Paket in sein Zimmer trug, fragte er sich, ob die Jagd jemals enden würde.

Er dachte über das Herz des Drachen nach, während er das Paket aufriss und darüber, dass Bartow – dieser Typ, der es schon einmal aufgehalten hatte – gestorben war. John konnte nicht mehr herausfinden, was er gewusst hatte. Und das ließ eine verstörende Möglichkeit offen, über die er lieber nicht so genau nachdachte.

Was wäre, wenn ein anderer Jäger das Ding tötete, das ihm Mary weggenommen hatte? John würde es nicht einmal erfahren. Es war ja nicht so, als ob es einen Jäger-Rundbrief oder so etwas gäbe. Die Leute an Orten wie dem Roadhouse berichteten auch nicht gerade detailliert über ihre Jagden. Angeberei, ja. Große Geschichten, sicher. Aber an echte Informationen kam man nur schwer ran.

Also hatte vielleicht schon jemand das Wesen umgebracht, das Mary auf dem Gewissen hatte, und niemand würde es je erfahren. Monster teilten für gewöhnlich vor dem Abtreten keine Lebensläufe mit den Namen ihrer Opfer aus.

Die Wahrscheinlichkeit war sehr hoch, dass Johns Suche vollkommen sinnlos war.

Aber das machte nichts. Er konnte nicht auf Basis einer bloßen Wahrscheinlichkeit aufgeben. Er musste herausfinden, was Mary getötet hatte, und es umbringen. Bis zu diesem Tag würde es keine Atempause geben.

Eine der wichtigsten Lektionen, die ihn Daniel Elkins gelehrt hatte, war, dass der erste Schritt einer erfolgreichen Jagd das Zusammentragen von Informationen war. Es war fast ein Wunder, dass John nicht in den ersten paar Monaten seiner Jagd dabei umgekommen war. Was er damals nicht wusste, füllte ganze Bände.

Also war sein erster Anlaufpunkt die Hauptstelle der Öffentlichen Bibliothek von San Francisco. Er nahm den Bus, weil sein Auto noch in South Dakota war. Das erlaubte ihm einen Blick auf die Stadt und die Bucht zu werfen.

Unglücklicherweise sah er vor allem Baustellen – bis hin zur Bibliothek, die selbst eine war. In der Bay-Area hatte es im Oktober ein schlimmes Erdbeben gegeben – ironischerweise mitten während des Baseball-World-Series-Spiels zwischen den Oakland A’s und den San Francisco Giants. Auch wenn es keineswegs so verheerend gewesen war wie das berühmte Beben 1906, war doch ein beträchtlicher Schaden entstanden, und die Stadt war noch mit dem Wiederaufbau beschäftigt.

Als die Erde bebte, war John im Roadhouse gewesen, um sich genau dieses Spiel, das dritte dieser Reihe, mit einigen anderen Jägern anzusehen. Die Besitzer des Roadhouse, Ellen und Bill Harvelle, hatten alles geplant. Für die Dauer der Saison 1989 sollte die Bar – zum ersten Mal – wie eine normale Sportbar betrieben werden. Männer sollten Bier trinken und über Mark McGwire und Jose Canseco fachsimpeln, über Will Clark und Rick Reuschel und den Tod des Commissioners. Alle möglichen anderen Sachen, für die Jäger normalerweise nicht genug Energie hatten.

Aber als sich die Spieler für die Begegnung aufwärmten, bebte der Boden. Die Sportreporter Al Michaels, Jim Palmer und Tim McCarver wurden plötzlich zu Nachrichtenmännern.

Sofort hatten die Gäste des Roadhouse versucht herauszufinden, was das für ein Omen sein könnte, um welche Zeichen es sich handelte und was sie vielleicht übersehen haben könnten. Aber schnell wurde klar, dass hier keine geheimnisvollen Kräfte am Werk waren. Der San-Andreas-Graben hatte lediglich einen Schluckauf.

Als er aus dem Bus stieg, wurde ihm klar, dass er keine Ahnung hatte, wer eigentlich die World Series gewonnen hatte.

Zu seiner großen Erleichterung war der Teil der Bücherei, der die Tageszeitungen enthielt, für den Publikumsverkehr geöffnet und nicht wegen Reparaturarbeiten geschlossen. Er wühlte sich sofort durch die neuen Zeitungen, um alles über die drei Morde herauszufinden.

Die Geschichten selbst gaben nicht viel her, obwohl es dem Chronicle gelungen war, Bilder der Opfer vor ihrem Tod zu beschaffen. Alle waren chinesische Amerikaner, die in Shin’s Delight Restaurant arbeiteten – und alle hatten Tätowierungen auf dem Unterarm.

Die Qualität der Schwarz-Weiß-Fotos war so schlecht, dass John nicht erkennen konnte, was die Tätowierungen darstellten. Er konnte allerdings erkennen, dass es sich bei allen um das gleiche Motiv – was immer es war – handelte und dass es an der gleichen Stelle angebracht war. Dieser Tage waren kunstvolle Tattoos Hinweise auf Biker, Marines und Gangster. John hatte das gleiche Tattoo auf dem Unterarm wie alle Mitglieder von Echo 2/1.

Rockerbanden, zu denen chinesische Amerikaner gehörten, waren auch nicht gerade die Norm.

Er sah auch im Sportteil von Ende Oktober nach. Die A’s hatten die Series nach vier Spielen gewonnen.

Go Team.

Als er zurück ins Hotel kam, rief er John Lucas Jackson an, einen seiner Freunde bei den Marines, der nach seiner Dienstzeit angefangen hatte, für die Veteranenorganisation VA zu arbeiten. Er hinterließ eine Nachricht, weil er wissen wollte, ob es Marines-Veteranen gab, die Jack Hsu, Michael Li oder Johnny Lao hießen.

Während er auf den Rückruf wartete, ging John in den Kraftraum des Hotels. Dort lagen eine bemitleidenswerte Ansammlung weniger Hanteln und es gab einen Stairmaster. Aber das würde genügen.

Einer der großen Vampirjäger, Daniel Elkins, war eine unschätzbare Informationsquelle in Bezug auf das Übernatürliche. Er hatte John gedrängt, es ihm nachzutun und ein Tagebuch zu führen. Wenn er also umkam, sollte es Dean und Sammy als Wegweiser dienen, damit sie seine Arbeit fortsetzen konnten.

Es war erstaunlich, wie wenig John über seine Vorgänger als Jäger wusste. Bobby hatte ihn in seinem Drang bestärkt, indem er ihm erzählte, wie er Jäger geworden war. Genau wie John, hatte Bobby seine Frau verloren. Und genau wie John, hatte Bobby keine Ahnung, was es war, das sie ihm entrissen hatte.

Aber wo Johns Instinkt ihm befahl zu kämpfen – ohne Zweifel rührte das von seiner Ausbildung als Marine her –, war es für Bobby ein Anstoß zu lernen. Er hatte geschworen, dass er niemanden mehr durch bloße Unwissenheit verlieren würde.

John hatte sich die Lektionen beider Männer zu Herzen genommen.

Er hatte allerdings ebenfalls seine Lektion bei den Marines gelernt. Das schloss die Idee ein, dass Nichtstun zu nichts nütze war. Sergeant Lorenzo hatte immer gesagt: „Du bist nur so stark, wie der Letzte, der dir in den Arsch getreten hat.“

Also trainierte er an den Gewichten und wartete, dass Lucas zurückrief.

Als er in sein Zimmer zurückkam – verschwitzt und mit schmerzenden Muskeln –, blinkte die Nachrichtenleuchte am Telefon. Er nahm den Hörer ab und wählte die Null.

„Rezeption.“

„Hier ist Zimmer 220. Sie haben eine Nachricht für mich?“

„Äh, ja, Sir.“ John hörte sie mit Papieren rascheln. „Sie ist von Lucas Jackson. Die Nachricht lautet ‚Keine Kamera‘.“

John lächelte.

Damals im Ausland war Lucas nie müde geworden, blöde Witze aus „Versteckte Kamera“ zu erzählen, und zwar hauptsächlich den neuen Rekruten. Das bewies, dass wirklich Lucas den Anruf erwidert hatte und dass er nichts über die drei Männer gefunden hatte.

Das war keine Überraschung. Trotzdem musste er auf Nummer sicher gehen.

Sie waren also Gangster.

Er zog das T-Shirt und die Shorts aus, die er beim Training getragen hatte, und duschte kurz. Dann zog er wärmere Sachen über, denn er musste raus und es war Dezember in San Francisco.

Es ist Zeit für ein leckeres Abendessen im Shin’s Delight, dachte er.

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