Zweiundzwanzig

Albert prüfte die Konten mithilfe seines Computers und vergewisserte sich, dass alle seine Unternehmen – legal oder nicht – reibungslos liefen. Er wusste, dass einer der Buchhalter sich etwas abzweigen würde, wenn er nicht regelmäßig alles kontrollierte.

Es war bereits einmal passiert und Tiny hatte sich darum gekümmert.

Seitdem gab es keine Probleme mehr. Das war tatsächlich der Wendepunkt für ihn gewesen. Ihm war klar geworden, dass er das Herz des Drachen nicht brauchte, um Drecksarbeit erledigen zu lassen.

Er lehnte sich zurück und dachte nach.

Warum sollte er Doragon Kokoro denn eigentlich nicht an den Dämon ausliefern?

Nein, er gehörte zur Familie. Nakadai war sein eigenes Fleisch und Blut. Sollte das nicht etwas bedeuten?

Gary unterbrach seine Gedanken, als er ins Büro rannte.

„Boss!“

„Was ist denn?“

„Tiny ist zurück. Er wurde verletzt!“

Albert stand auf.

„Wo ist er?“, fragte er.

Gary führte Albert nach unten in den hinteren Bereich der Küche. Die Köche bereiteten sich gerade für die Stoßzeit zur Mittagsstunde vor, aber dort war ein kleiner Bereich, in dem Zhong sein Büro hatte.

Dort saß Tiny. Ronny drückte ihm eine Kompresse an die Stirn und Tiny hielt mit seiner rechten Hand ein blutiges Handtuch umklammert, das er auf seine linke Schulter presste.

„Was ist passiert?“

Tiny setzte Albert kurz ins Bild.

„Diese beiden Typen haben Jake die Knarre abgenommen. Sie haben ihn erschossen und mich getroffen“, sagte Tiny. „Ich hab Glück gehabt, dass ich da lebend rausgekommen bin.“

Albert fühlte Wut in sich aufsteigen – abgesehen von einigen anderen Sachen, war Jake ein ganz ordentlicher Knochenbrecher gewesen. Er machte sich aber noch mehr Sorgen wegen der beiden Männer.

„Hast du ihre Namen erfahren?“

„Der Kleinere heißt Dean.“ Tiny deutete mit dem Kopf in die Ecke des Büros und Albert wandte sich um. „Ich habe das Schwert bekommen.“

„Ausgezeichnet!“ Albert hatte immer gehofft, dass er John Winchester noch einmal begegnen würde, und hatte inständig dafür gebetet, dass diese beiden die Nachfahren des verfluchten Gaijin waren. Es war eine Sache, die er abschließen wollte.

Winchester selbst war vielleicht tot, aber Albert konnte die Söhne dieses Mannes vernichten. Familie bedeutet alles.

Aber das war später dran. Kein Zweifel, dass die Söhne nach dem Schwert suchen würden. Im Moment machte er sich mehr Gedanken um seine Verhandlungsmasse. Alles war anders, wenn es um den Handel mit einem Dämon ging.

„Hier sind die Leichen, Agent Seeger.“

Dean sah zu, wie der in Weisheit gealterte Leichenbeschauer sich streckte, um eine Schublade aus der Wand zu ziehen. Er bedauerte den Typen schon fast, der jetzt dreimal am Griff gerissen hatte und es dann endlich schaffte.

Es gab aber zwei Leichen, also würde er das Ganze noch einmal machen müssen. Jetzt griff Dean ein.

„Lassen Sie mich mal mit anfassen.“

Dem Arzt namens Friedrich entwich ein langer Atemzug.

„Ja, danke. Entschuldigen Sie, ich glaube, ich bin wohl nicht mehr so jung, wie ich mal war.“

„Ja, ist aber bei uns allen so“, sagte Dean ernst. Er erinnerte sich nur zu genau, wie es sich anfühlte, so alt zu sein. Seine Knie knackten gelegentlich immer noch. Das jagte ihm eine Heidenangst ein …

Dean zog die Schublade auf und der Geruch von verbranntem Fleisch schlug ihm entgegen.

Puh!“

„Ja, und das sogar, nachdem er die ganze Zeit in der Kühlung war.“ Friedrich schüttelte den Kopf. „Ich kann nicht glauben, dass das schon wieder passiert.“

Dean blickte den Gerichtsmediziner an.

„Wieder?“

Friedrich erwiderte den Blick.

„Ja, wieder. Ist das nicht der Grund, warum Sie hier sind?“

Mit der Leichtigkeit jahrelanger Übung begann Dean, sich wie üblich ranzutasten.

„Nun, ja. Aber wir haben das nicht an die große Glocke gehängt, wissen Sie?“

„Oh, also kennt ihr Jungs ja den Stand. Gut.“ Dann wandte er sich wieder der verkohlten Leiche zu. „Sehen Sie, als die erste verbrannte Leiche hier vor ein paar Wochen reinkam, habe ich den Bullen gesagt, dass das schon mal passiert ist. Die Blödmänner haben mir überhaupt nicht zugehört, wie gewöhnlich. Ich mache diesen Job seit fünfundvierzig Jahren und kann immer noch keinen dazu bringen, mich ernst zu nehmen.“

Dean unterdrückte ein Gähnen, von dem er wusste, dass er sich damit keine Freunde machen würde. Er griff nach dem Laken, das das weibliche Opfer bedeckte.

„Ja, lassen Sie uns mal sehen, …“

Er zog es zurück und sah das geschwärzte, verkohlte Fleisch.

„… was wir hier haben.“

„Sehen Sie, es ist genau das Gleiche, wie vor vierzig Jahren. Das war 1969 – ich erinnere mich, weil es in diesem ganzen Zodiac-Killer-Quatsch untergegangen ist. Sie erinnern sich, oder? Nein, Sie sind zu jung dafür. Sie müssen ja noch ein Baby gewesen sein.“

Dean war versucht zu sagen, dass selbst ein Blinder sehen konnte, dass er dafür eine ganze Dekade zu jung war. Er hielt sich aber zurück.

„Ich vermute, dass die Todesursache Verbrennungen sind?“, fragte er.

„Ja, das ist aber nicht, was das Ganze interessant macht. Schauen Sie mal.“ Der Mediziner deutete auf den Torso. Obwohl die Haut uneben, vernarbt und verkohlt war, konnte man mehrere gerade Schnittwunden erkennen.

„Das ist genau das Gleiche wie vor vierzig Jahren. Damals kam hier auch ein Bundesagent vorbei. So’n Glatzkopf – weiß den Namen nicht mehr. Er sagte, er wollte Nachforschungen anstellen, aber ich habe dann keinen Mucks mehr von ihm gehört.“

Dieses Mal musste Dean sich ein Grinsen verkneifen. Ein Glatzkopf, der behauptete, Bundesagent zu sein? Das musste sein Großvater gewesen sein. Offensichtlich war das hier eine Familienangelegenheit …

„Konnte ’89 auch nicht gelöst werden“, fuhr Friedrich fort. „’türlich haben wir heute bessere Spielzeuge. Jetzt kann ich mit Sicherheit sagen, dass in den Wunden Metallspuren sind. Und die sind ante mortem.“

Das überraschte Dean. Der bevorzugte Modus Operandi des Herzens des Drachen war verbrennen und gleichzeitig mit dem Schwert zuschlagen.

„Warum?“, fragte er.

„Der Körper ist zu zerbrechlich. Wenn ich jetzt eine Klinge an dieser Stelle des Körpers einbringe, würde das arme Mädchen in Stücke zerfallen.“

Dean nickte.

„Dann gibt es da noch andere Probleme“, fügte Friedrich hinzu. „Solche Schnittwunden bluten wie verrückt, richtig? Aber den Tatort-Genies zufolge war dort kein Blut außer dem, das aus der Nase des Typen stammte.“ Er zeigte auf die andere Leiche. „Und das ergibt keinen Sinn.“

„Vielleicht ist beides gleichzeitig passiert“, schlug Dean vor und zeigte auf den verbrannten Körper. „Wenn die Frau verbrannte, während sie verletzt wurde, könnte das Blut verdampft sein.“

Friedrich kniff die Augen zusammen und sah Dean an.

„Hm. Das ist tatsächlich gar keine so schlechte Theorie. Nun ja, es ist keine Theorie, sondern eine Hypothese – es nervt mich immer, wenn Leute Hypothesen als Theorien bezeichnen. Dann sagen sie immer ‚Oh, das ist nur eine Theorie‘, als wäre das bedeutungslos. Aber Theorien beruhen auf Daten und …“ Friedrich schweifte ab. „Wo war ich?“

„Das Blut verdampft“, half Dean ihm weiter.

„Richtig, ja, okay, vielleicht. Aber das beantwortet noch lange nicht die Frage nach dem wie. Ich meine, so eine Art Feuerblitz könnte dort nur entstehen, wenn sie, keine Ahnung, auf einem Magnesiumstreifen oder so etwas gestanden hätte. Aber diese Genies haben das geprüft und nach allem möglichen Brandstifter-Quatsch gesucht. Was sagt Ihnen das?“

Es sagte Dean eine ganze Menge, aber das war nichts, was er mit dem schlecht gelaunten alten Sack bereden wollte.

„Bin mir noch nicht sicher“, sagte er. „Aber es ist eine laufende Ermittlung.“

„Ja, klar – beim ersten Mal hatten alle ihre Nasen in der Zodiac-Sache stecken. Und das letzte Mal – Scheiße, das war das Jahr mit dem Erdbeben. Das hat wohl alle abgelenkt oder so, schätze ich. Ich weiß nicht, aber das hier hat schon etwas Schräges.“

„Da kann ich nicht widersprechen.“ Dean zog das Laken über der andern Leiche zurück.

„Da gibt es noch etwas Seltsames“, sagte Friedrich und zeigte auf die Mundwinkel des Mannes. „Sehen Sie mal. Wissen Sie, was das ist?“

„Schwefel“, sagte Dean mit einem Seufzer.

„Ja, Schwefel“, bestätigte der Doktor beeindruckt. „An der anderen Leiche war auch etwas. Wäre mir fast entgangen bei all den Verbrennungen. Ich meine, krass, oder?“

Dean nickte einfach. Plötzlich passte die zweite Leiche doch ins Bild.

„Die merkwürdigste verdammte Gehirnblutung, die ich je gesehen habe. Meistens ist es nur ein einziges Blutgefäß. Bei dem hier sind die Hälfte seiner Adern im Gehirn geplatzt. Als hätte jemand eine Bombe oder so was gezündet, trotzdem hatte er keine weiteren Verletzungen.“

Ja, das bedeutete, dass dieser arme Hund von einem Dämon besessen gewesen war – und was immer ihm der Dämon angetan hatte, hatte sein Gehirn explodieren lassen. Dean dachte an Castiels Worte: „Ein Geist kehrt auf diese Ebene zurück – einer, den die Dämonen im Kampf gegen die Engel benutzen können.“ Offensichtlich steckte ein Dämon seine Nase hier rein.

Sam und Dean mussten verdammt vorsichtig sein.

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