Fünfzehn

Lin Sun liebte seinen Job.

Es war ein einfacher Job, bei dem man sich nicht so sehr anstrengen musste und der es ihm ermöglichte, mit vielen Leuten ins Gespräch zu kommen. Lin war stets jemand gewesen, den die Amerikaner als gesellig bezeichneten.

Als Junge war er mit seiner Familie nach San Francisco gekommen und hatte sofort angefangen, sich Freunde zu suchen. Anders als sein älterer Bruder und seine jüngere Schwester – die bestenfalls als reserviert durchgingen und schlimmstenfalls als chronisch schüchtern, genau wie Mutter, Vater und Großvater. Lin kam mit jedem gut aus.

Als er erwachsen war, wollte er einen Beruf ergreifen, bei dem er mit Menschen zu tun hatte. Vielleicht Bibliothekar oder etwas anderes, bei dem er sich für die Gemeinschaft einsetzen konnte.

Aber er merkte schnell, dass es keine Rolle spielte, was er sich erhoffte. Besonders, als er alt genug war, um zu verstehen, warum seine Eltern aus China weggegangen waren.

Die Triaden hatten Mutter und Vater einen Gefallen getan. Als Gegenleistung mussten sie nach San Francisco gehen und versprechen, dass alle drei Kinder einem Boss, der als ‚der Alte‘ bekannt war, dienen würden.

Das bedeutete für seine Schwester Lien, dass sie als Animierdame in einem Bordell arbeiten musste. Zur großen Erleichterung des Vaters musste sie sich nicht prostituieren, sondern lediglich Getränke servieren und sich hin und wieder von einem Gast einen ausgeben lassen.

Sein Bruder musste private Botengänge für den Alten erledigen.

Lin war froh, dass der alte Mann die Kinder tatsächlich kennengelernt hatte, bevor er ihnen eine Aufgabe in der Bande zuteilte. Schnell erkannte er, dass Lin eine Begabung dafür hatte, mit Leuten zu reden. Als er sechzehn Jahre alt wurde, kam er als Kellner in eines der Restaurants der Triaden und arbeitete sich schließlich zum Oberkellner hoch.

So war er den lieben langen Tag unter Menschen. Er begrüßte sie, brachte sie an ihren Tisch, versicherte sich, dass ihnen das Essen schmeckte und genoss es schlicht, andere Mitglieder der menschlichen Rasse zu treffen.

Jeden Tag dachte er, dass es viel schlimmer hätte kommen können. Sein Bruder Quan war im vergangenen Jahr aus einem fahrenden Auto heraus erschossen worden. Und auch wenn Lien nicht gezwungen wurde, mit ihren Kunden zu schlafen, führte sie ein trauriges Leben ohne Aussicht auf Besserung.

Lin hielt nicht sehr viel von Tommy Shin. Der Alte hatte die Dinge flüssig in Gang gehalten. Tommy dagegen änderte Dinge, nur um sie zu ändern – egal ob das gut war oder nicht. Es schien, als wäre seine einzige Sorge, alles anders zu machen als der Alte. Ob es richtig war oder nicht.

Noch schlimmer war, dass er solche Halbblüter wie diesen Albert Chao für sich arbeiten ließ und der sogar noch befördert wurde. Das war vielleicht für Amerikaner akzeptabel. Die hatten sowieso keine eigene Identität. Für echte Chinesen wie Lin und seine Familie kam das allerdings nicht infrage. Es wurde nicht unterstützt – und schon gar nicht, dass man Promenadenmischungen auf machtvolle Posten setzte.

Als Resultat hatte Lin sich nicht darum geschert, den Amerikaner mit den Stoppelbart, der mit aufgesetzten Kopfhörern zu Abend aß, ‚im Auge zu behalten‘. Er nahm an, dass der Mann sich anhörte, was die Amerikaner als Musik durchgehen ließen. Das war alles zu laut für seinen Geschmack. Er achtete gar nicht auf das, was um ihn herum geschah. Oder vielleicht war er einfach nur unhöflich. Lin hatte gelernt, genau das von Amerikanern zu erwarten, obwohl hier nicht so viele herkamen.

Shin’s Delight stand nicht in den Reiseführern, weil es eher Einheimische als Touristen bewirtete. Darum fanden nur wenige Amerikaner den Weg in diese Straße. Die Amerikaner, die sich die Mühe gemacht hatten, nach diesem Ort zu suchen, hatten gewöhnlich bessere Manieren.

Egal ob Chao wollte, dass Lin den Mann im Auge behielt, es war mit Sicherheit Zeitverschwendung.

Außerdem hatte er Wichtigeres im Kopf. Weil Shins engste Vertraute umgebracht worden waren, fürchtete er, dass Chao in den Rängen der Triaden noch höher aufsteigen würde. Das konnte nichts Gutes bedeuten. Er konnte selbstverständlich nichts dagegen tun – Tommy würde nicht auf einen niederen Oberkellner hören.

Lin konnte sich nur still und heimlich darüber ärgern, während er an seinem Pult in der Nähe des Eingangs stand.

Plötzlich fing er an zu schwitzen. Das war noch etwas, das ihn an Tommy ärgerte. Er bestand darauf, dass die Heizung angemacht wurde, sobald die Temperaturen draußen nur geringfügig sanken. Dann genoss Lin seinen Standort am Pult, weil ab und zu eine kühle Brise hereinwehte, wenn jemand die Tür öffnete.

Aber selbst das war wärmer als Tommy es gernhatte. Lin wunderte sich, wo diese ungewöhnlichen Hitzewellen herkamen, drehte sich um …

… und stand dem grauenerregendsten Anblick gegenüber, den er je zu Gesicht bekommen hatte.

Ein Mann stand in einer Feuersäule, die hoch zur Decke aufragte, sich aber nicht ausbreitete. Der Mann war nur noch ein paar Fuß von ihm entfernt und bewegte sich auf ihn zu. Er erhob ein in Feuer getauchtes Schwert.

Lin konnte nicht schreien.

Konnte nicht atmen.

Konnte sich nicht bewegen.

Er war von dem Feuer, das den Mann umgab, vor Schreck wie hypnotisiert. Und von seinen furchtbaren Augen …

Das Hakenschwert in Bereitschaft lief John die Treppe zwei Stufen auf einmal nehmend hinunter und ins Restaurant. Er registrierte mehrere Dinge auf einen Blick.

Als Erstes sah er, dass die Gäste schrien, auf etwas zeigten, riefen und Tische und Stühle auf der Flucht umwarfen. Die Quelle ihrer Furcht versperrte ihnen den einzigen Ausgang.

Das zweite war, dass der Oberkellner vor Schreck wie erstarrt dastand, obwohl um ihn herum Panik ausbrach.

Das dritte war ein Samurai der von Flammen umgeben war und ein brennendes Katana schwang.

Das ist mal etwas Neues, dachte er. Der Samurai – der Johns Meinung nach nur das Herz des Drachen sein konnte – ging geradewegs auf den Oberkellner zu, der wie angewurzelt dastand.

John musste sich durch die in Panik flüchtenden Gäste schieben, um zum Eingang zu gelangen. Die Tische standen viel zu dicht beieinander und die Menschen traten buchstäblich aufeinander, um wegzukommen.

Als er vorne ankam, trat Doragon Kokoro bereits dem Oberkellner buchstäblich auf die Füße.

John stand hinter dem Wesen, sodass der Haken den Ronin traf, als wäre er ein Spazierstock, der einen schlechten Künstler von der Bühne eines Vaudeville-Theaters zieht. Er konnte aber keinen Halt finden.

Der Geist bemerkte es nicht einmal.

John riss das Schwert zurück und holte noch einmal aus. Jetzt zielte er auf den Hals des Geistes.

Das weckte endlich die Aufmerksamkeit des Dämons. Er wirbelte herum und schwang sein Flammenschwert. John konnte sich gerade noch ducken und die Flammen versengten sein Haar.

Er verbrennt nicht nur seine Zielperson, wurde John klar. Er kann mich ebenso leicht grillen wie seine anderen Opfer.

Aber nach diesem einen kurzen Angriff wandte der Ronin sich wieder seiner Beute zu.

Anscheinend hatte die Störung durch John den Oberkellner aus seiner Starre befreit und ihn zum Wegrennen bewogen. Mit einem plötzlichen Aufschrei schoss er durch die Vordertür hinaus, so schnell seine Füße ihn tragen konnten.

John bewegte sich schnell zwischen Doragon Kokoro und den Ausgang.

„Du kommst an mir nicht vorbei“, sagte er und hielt das Schwert in Angriffsposition.

Durch die flackernden Flammen konnte John sehen, dass die Gäste sich weiter auf Chinesisch anschrien, während sie durch die Küche oder die Toiletten zu entkommen versuchten. Hinter ihnen, am Fuß der Treppe, stand Albert Chao neben einem jungen Mann mit spitz hochgekämmten Haaren.

Chao sah aus, als wäre er stinksauer.

Das Herz des Drachen erhob sein Katana und ließ es nach unten sausen.

John lehnte sich zurück und wich der flammenden Klinge nur um Haaresbreite aus. Der Geist konterte mit einem Seitenhieb. John parierte mit dem Hakenschwert. Als Metall auf Metall knallte, riss ihm die Erschütterung beinahe das Schwert aus der Hand.

Er fasste den Griff fester, holte noch einmal aus und zielte diesmal auf die Stelle, an der das Herz des Ronin schlagen würde, wäre er am Leben. Bobby hatte gesagt, dass sich die Inschrift mit ‚Durchstoße das Herz des Drachen‘ übersetzen ließ – und vielleicht bedeutete es genau das.

Unglücklicherweise richtete das nicht mehr aus als die beiden vorhergegangenen Angriffe. Das Hakenschwert schnitt durch den Geist hindurch, als wäre er nichts als Flammen. Trotzdem war der Schlag mit dem Katana ziemlich hart gewesen.

Und wieder schwang Doragon Kokoro seine Waffe und John hob sein Schwert, um zu parieren.

Er hatte in der Vergangenheit schon einmal ein Schwert geführt, während seines Trainings als Marine. Das war allerdings hauptsächlich zu zeremoniellen Zwecken gewesen. Dann hatte Caleb ihn einer Frau mittleren Alters mit Namen Lara vorgestellt. Sie war eine ausgezeichnete Schwertkämpferin mit erstaunlich schnellen Händen. Er hatte nie ihren wichtigsten Ratschlag vergessen.

„Verlass dich auf deinen Instinkt. Denk nicht daran, was du tun solltest, tue es einfach!“

Als das Herz des Drachen ihn attackierte, dachte John nicht.

Er handelte einfach.

Jeder Schwertstreich kam näher. Jede Parade von John kam später.

Die Stöße waren übermenschlich stark und variierten nie. John dagegen war nur ein Mensch und ermüdete während des Kampfes.

Er brauchte einen neuen Plan, da das Schwert offensichtlich nichts ausrichtete.

Dann verblassten auf einmal die Flammen, die den Geist umgaben.

John sah, dass Chao etwas murmelte.

Plötzlich verschwand der Geist. Der Boden unter ihm war nicht verkohlt.

Einige Menschen rannten immer noch herum und John sah, dass der Mann mit den hochgekämmten Haaren und Chao versuchten, sich den Weg durch das chaotische Treiben zu ihm zu bahnen.

Weil er keine Lust hatte, Fragen zu beantworten, folgte John dem Oberkellner nach draußen. Glücklicherweise war auf der Pacific Avenue mehr los als in dem Restaurant. Touristen aller Nationen drängten sich auf dem Bürgersteig und mischten sich unter die Einheimischen. Er konnte schnell in der Menge verschwinden und versuchte, sein Schwert unter der Bomberjacke zu verbergen.

Er arbeitete sich zu einer Bushaltestelle vor und bewegte sich vorsichtig, um sich nicht selbst zu erstechen. Das Erste, was er im Hotel machen wollte, war Bobby anzurufen und ihm zu erzählen, dass das Schwert eine Niete war.

Albert konnte es nicht glauben. Er konnte es einfach nicht.

Alles lief so gut und schon wieder kam so ein Gaijin und machte alles kaputt – genau wie diese Leute vor zwanzig Jahren. Der hier hatte sogar ein besonderes Schwert.

Schnell schickte Albert den Geist zurück. Hier gab es zu viele Zeugen und Lin war schon weggelaufen.

Dummerweise war das Unglück bereits passiert. Tommy war vorne rausgerannt, zusammen mit zwei Kellnern, um den Gaijin zu verfolgen.

Albert war zurückgeblieben und konnte den Schaden betrachten, den er angerichtet hatte. Er verfluchte sich, weil er so ein Narr gewesen war. Seine Abneigung gegen Lin hatte ihn seine Vernunft vergessen lassen. Es war wichtig, das Herz des Drachen subtil einzusetzen, um die auszumerzen, die ihm im Weg standen.

Lin stand Albert nicht im Weg, er war nur ein Idiot.

Albert würde niemals erfolgreich sein, wenn er weiter solche dummen Fehler machte.

Mit einem Seufzen ging er zurück durch das Restaurant. Glas und Porzellan knirschten unter seinen Füßen. Die Gäste begannen sich zu beruhigen. Einige untersuchten sich auf Verletzungen und alle flüsterten leise miteinander.

Nach ein paar Augenblicken fiel Albert auf, dass alle dasselbe sagten: Das Herz des Drachen war nach zwanzig Jahren zurückgekehrt.

Zuerst wollte er sie niederbrüllen, dass sie sich alle dem Aberglauben und Irrsinn hingaben. Dann ging ihm auf, dass das ein Fehler wäre. Immerhin konnte er nicht bestreiten, was sie mit ihren eigenen Augen gesehen hatten.

Außerdem, da er jetzt schon die Büchse der Pandora geöffnet hatte, konnte er die Situation zu seinem Vorteil nutzen.

Tommy stampfte zurück ins Restaurant und bellte wütend: „Was zur Hölle war das?“

„Es sieht so aus“, sagte Albert, „als wäre es das Herz des Drachen. Es hat versucht, Lin zu töten.“

„Das ist nicht, was ich gesehen habe“, sagte Tommy. „Es hat versucht, diesen Touristen mit dem Schwert umzubringen.“ Dann lächelte er. „Aus irgendeinem Grund will das Herz des Drachen uns beschützen.“

Dann verflog das Lächeln.

„Al, ich möchte, dass du alles über dieses Ding herausfindest, was du nur kannst – wo es herkam, was es will und warum es uns hilft. Und wen zur Hölle es töten wollte.“

Einer der Kellner, Albert konnte sich nicht an seinen Namen erinnern, erhob das Wort.

„Boss, ist das nicht das Ding, das Johnny und …“

„Hmm, daran hatte ich nicht gedacht.“ Tommy rieb sich das Kinn. „Wenn dem so war, hatte er vielleicht einen guten Grund. Wir brauchen mehr Informationen. Komm, Albert, du hast immer ganz gute Ideen – also, was ist dieses Ding und was will es von mir?

„Kannst du mir Antworten besorgen?“

Albert verbeugte sich respektvoll.

„Allerdings, Tommy.“

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