Sieben

Eine der wichtigsten Lektionen, die Deanna ihre Tochter lehren wollte, war, dass die beste Waffe eines Jägers nicht die Feuerwaffe war. Auch kein Weihwasser. Es war nicht einmal das Claymore-Schwert, das Vampire, Dämonen oder eine Gruppe Ghouls killen konnte.

Es war ein Büchereiausweis.

Aber ihre fünfzehnjährige Tochter, eine begabte Kämpferin, davon zu überzeugen, war ein harter Kampf.

Am frühen Morgen ihres zweiten Tags in San Francisco nahm Deanna Mary in das riesige weiße Gebäude der öffentlichen Bibliothek von San Francisco mit. Das Hauptgebäude lag an der Ecke Larkin und Grove Street und gehörte zum Gemeindezentrum der Stadt.

Es war ein kühler Tag und das änderte sich auch nicht, als sie das Gebäude betraten.

„Mom, weißt du, wir könnten das selbst machen – Jack und ich, meine ich“, sagte sie leise während sie durch die Lobby gingen. „Du könntest mit Dad gehen.“

„Nein, danke“, sagte Deanna. „Du weißt doch, wie sehr ich es hasse, zu schauspielern. Dein Vater soll sich ruhig verkleiden, er ist gut darin.“

„Stimmt schon“, sagte Mary enttäuscht.

Samuel war in der letzten Nacht lange in Verkleidung eines FBI-Agenten unterwegs gewesen, also ließen sie ihn ausschlafen. Der Besuch beim Gerichtsmediziner hatte nicht so viele nützliche Informationen zutage gefördert. Wenn er sich erst mal ausgeruht hatte, würde er sich daran machen, sie auszuwerten und den gemeinsamen Nenner bei den vier Opfern zu finden.

Deanna lächelte. Sie konnte ihre Tochter nur zu leicht durchschauen – sie wollte Zeit mit dem jungen Mr. Bartow verbringen. Sie konnte ihr das nicht gerade verübeln, wenn man alles bedachte. Trotzdem würde sie keineswegs ihre fünfzehnjährige Tochter ohne Aufsicht mit einem achtzehnjährigen Jungen allein lassen. Klar, er kam aus einer Jägerfamilie, aber es handelte sich immerhin um Teenager.

Mary blickte nach unten, weil es ihr wohl peinlich war, dass man sie so leicht durchschauen konnte.

Dann hellte sich ihre Miene auf, als sie Bartow entdeckte, der sich am Eingang auf seine Krücke stützte.

„Wollen wir?“

„Selbstverständlich“, sagte Mary und ein Lächeln glättete ihre gerunzelte Stirn.

Deanna schmunzelte und sie gingen geradewegs auf den Empfangsschalter zu. Dort saß eine junge Frau mit langen, glatten Haaren, einer großen Nase und einem breiten Lächeln auf einem hohen Stuhl. Sie trug ein dunkelblaues Sommerkleid und eine hellblaue Strickjacke.

„Wie kann ich Ihnen helfen?“

Deanna setzte ihr strahlendstes Lächeln auf und antwortete mit einem überbetonten Akzent aus dem mittleren Westen.

„Hi, Miss – das hoffe ich doch sehr! Wir hatten gerade so viel Spaß in Chinatown und wollten etwas mehr über die Leute dort erfahren. Können Sie uns einige Bücher empfehlen?“

Die Bibliothekarin nickte lebhaft.

„Ich werde mal sehen, was ich tun kann. Wissen Sie, die meisten unserer Bücher über orientalische Kultur sind in chinesischer Sprache und befinden sich in unserem Chinatown-Anbau. Wir haben aber ein paar Bücher über chinesische Kultur hier und einige sind auf Englisch. Gibt es einen bestimmten Aspekt, der sie interessiert?“

„Es ist komisch, dass Sie das fragen. Überall, wo wir gingen und standen, hat meine Tochter etwas über das ‚Herz des Drachen‘ gehört. Und wir sterben geradezu vor Neugier herauszufinden, was das wohl sein könnte.“

„Oh, da haben wir ja einen Ausgangspunkt“, sagte die Bibliothekarin und stieg von ihrem Sitz herunter. „Nun, der Drache ist ein sehr wichtiger Teil der chinesischen Kultur. Schauen wir mal, was wir da haben.“

Sie brachte sie zu einem riesigen Schrank mit Dutzenden kleinen Schubladen – dem Katalog, in dem die Titel nach Themen abgelegt waren. Geschickt wählte sie bestimmte Schubladen, die mit einem System nach Nummern und Kategorien beschriftet waren. Sie begann mit „180 – Orientalische Philosophie“ und innerhalb weniger Augenblicke hatte sie mehrere Bücher gefunden, die historische Referenzen auf Drachen enthielten.

Alte chinesische Geheimnisse, hm?, dachte Deanna bewundernd. Diese Frau versteht wirklich ihr Geschäft.

Mehrere Stunden des Lesens später – nachdem sie alle möglichen Kategorien von „Paranormale Phänomene“ bis „Paläozoologie“ durchsucht hatten – hatten sie nur wenig gefunden, was für diese spezielle Jagd relevant erschien. Sie hatten viel über Drachen herausgefunden, aber nichts passte zu dem, was die Indizien vorgaben.

Als sie das Letzte der Bücher schloss, das die junge Bibliothekarin ihnen gebracht hatte, sah Mary ihre Mutter und Jack an.

„Viele Referenzen zu Leuten, die von einer Riesenechse filetiert worden sind, aber nichts erklärt die Art, auf die diese Leichen aufgeschlitzt wurden“, sagte sie. Vielleicht suchen wir ja keinen Drachen, sondern jemanden, der von einem Drachen besessen ist. Jemanden mit einem Schwert?“, fragte sie skeptisch.

Deanna schüttelte den Kopf, um ihre Gedanken zu klären. Jede Abbildung eines Drachen hatte Wesen mit Krallen wie Adler oder Bären gezeigt. Nichts passte zu den präzisen Schnitten, die Samuel beschrieben hatte.

„Ich weiß nicht“, sagte sie. So etwas ist in den Büchern, die ich gelesen habe, nicht zu finden. Aber es ergibt genauso wenig Sinn wie alles andere.“

Schlimmer war, dass sie keinen einzigen Hinweis auf das Herz des Drachen gefunden hatten, außer einem kleinen Hinweis im entferntesten Sinne. Einem Mensch mit dem „Herz eines Drachen“ wurde große Charakterstärke nachgesagt – was nicht gerade dazu passte, durch Frisco zu rennen und Leute in Scheibchen zu schneiden.

Deanna schloss ihr Buch mit einem Rumms. Dann brachten Mary, Jack und sie ihre Bücher zu dem Handwagen, der unter einem Schild geparkt war, auf dem mit sauberen Blockbuchstaben „Rückgabe“ stand.

„Nun, das war Zeitverschwendung“, sagte Mary seufzend.

„Hey, komm schon“, protestierte Jack. „Manchmal hilft es dir auch zu wissen, was du nicht jagst, um herauszufinden, was du jagen solltest.“ Aber nicht einmal er selbst sah besonders überzeugt von seinen Worten aus. Trotzdem ging Mary darauf ein.

„Meinst du?“, fragte sie.

Deanna warf dem jungen Mann einen dankbaren Blick zu. Sie hatte das Gleiche in den vergangenen Stunden immer wiederholt, aber Mary hatte es nicht hören wollen, als es von ihrer Mutter kam. Also half es eine Menge, wenn sie es von jemandem hörte, der nur etwas älter als sie war. Es war auch nicht schlecht, dass es ein niedlicher Junge sagte.

Die Frau in der blauen Strickjacke war fort und eine ältere Dame mit dunklen Haaren, die zu einer Bienenkorb-Frisur aufgetürmt waren, saß jetzt am Informationsschalter. Sie sah aus, als wäre sie orientalischer Abstammung und war inzwischen die dritte Bibliothekarin, die seit heute Morgen dort Platz nahm. Anders als die jüngere Frau von heute Morgen war diese etwas formeller gekleidet: weiße Bluse, grauer Pullover und ein rostfarbener Rock.

„Haben Sie gefunden, was sie suchten, Ma’am?“, fragte die Bibliothekarin.

„Nicht alles, leider“, sagte Deanna und übertrieb die Enttäuschung mit ihrem Tonfall. Sie vergaß beinahe, ihre „Mutter aus dem mittleren Westen“-Stimme einzusetzen, bekam aber gerade noch die Kurve. Wie sie schon zu Mary gesagt hatte, Schauspielerei war eher Samuels Ding. Deanna recherchierte lieber nach etwas oder schoss darauf.

„Oh, das tut mir leid“, sagte die Bibliothekarin und es hörte sich so an, als ob sie es ernst meinte.

„Ist schon in Ordnung, denke ich“, antwortete Deanna mit einem freundlichen Lächeln. „Wir haben eine ganze Menge über chinesische Kultur und Drachen gelernt, was wirklich toll war. Ich wünschte nur, ich wüsste, was die Leute mit ‚Herz des Drachen‘ meinen.“

Da runzelte die Bibliothekarin die Stirn.

„Was für ein interessantes Thema“, sagte sie neugierig. „Sind Sie sicher, dass das aus der chinesischen Kultur stammt?“

Die Frage ließ Deanna stocken.

„Warum fragen Sie?“

„Nun, obwohl es viele Hinweise auf Drachen in chinesischen Überlieferungen gibt, steht der einzige Hinweis, den ich je im Zusammenhang mit ‚Herz des Drachen‘ gehört habe, mit einem japanischen Krieger von vor hundert Jahren in Verbindung“, erklärte die Frau. „Tatsächlich nannte man ihn Herz des Drachen.“

Mit erwachtem Interesse drängte Deanna auf mehr Informationen.

„Ich weiß nicht“, sagte sie langsam. „Das haben wir in Chinatown gehört und nicht in Japantown.“ Dann schmunzelte sie. „Sagen sie mal, gibt es so etwas wie Japantown überhaupt?“

Mary stieß ihr den Ellbogen in die Rippen.

„Mom, komm schon, das könnte sein, was wir suchen.“ Sie zupfte nervös an ihrem allgegenwärtigen Bettelarmband.

„Ja, Schatz“, sagte Deanna. Sie rieb sich die Seite und warf der Bibliothekarin einen verschwörerischen Blick zu. „Teenager – was soll man machen?“

„Die können auf alle Fälle sehr ungeduldig sein“, stimmte die Frau zu. „Aber um ihre Frage zu beantworten, es gibt tatsächlich einen Abschnitt der Stadt, den wir Japantown nennen – dort leben meine Eltern.“

„Haben Sie zufällig Bücher über den Krieger, den Sie erwähnten?“, fragte Deanna. „Ich fürchte meine Tochter lässt mich erst in Ruhe, wenn wir etwas finden.“

„Es gibt mindestens eines, an das ich mich erinnere – aber das wird ihnen nicht viel helfen, fürchte ich. Sehen Sie, der Text ist auf Japanisch. Ich kann es herschicken lassen, aber wenn Sie die Sprache nicht lesen können …“ Sie brach mit einem Schulterzucken ab. Jack trat vor.

„Das sollte keine Problem sein“, sagte er knapp. „Wie schnell wird das Buch geliefert?“

Die Bibliothekarin zuckte erneut mit den Schultern. „Gewöhnlich dauert es eine Stunde oder so, aber ich fürchte, wir können es heute nicht mehr vor Ende der Öffnungszeit bekommen.“

„Können Sie es für uns reservieren, sodass wir es morgen ansehen können?“, fragte Jack eifrig.

„Selbstverständlich!“, sagte die Bibliothekarin, von seinem Enthusiasmus angesteckt. „Ich brauche nur ihren Namen.

„John Riet. R-I-E-T.“

„Sehr gut, Mr. Riet, ich schicke die Anforderung gleich los und lege das Buch für Sie auf die Seite, damit Sie es morgen ansehen können. Kommen Sie einfach an diesen Schalter und sagen Sie ihren Namen.“

„Groovy.“ Er drehte sich zu Deanna um. „Ich habe einen Freund, der Orientalistik in Berkeley lehrt. Er schuldet meinen Eltern einen Gefallen und er kann uns bestimmt helfen.“

Als alles geregelt war, gingen sie in die Lobby und traten durch die Tür in den klaren Nachmittag von San Francisco. Die Sonne schien hell vom Himmel und die Luft war jetzt warm. Eine angenehme Brise wehte. Was Deanna schon beim letzten Besuch gefallen hatte, war das konstante Wetter. Es schien, als wäre die Stadt im ewigen Frühling gefangen.

Mary spähte neugierig zu Jack hinüber.

„John Riet?“

„John ist mein richtiger Name, aber weil mein Vater auch so hieß, nannten mich alle Jack“, erklärte er. „Weißt du, wie Jack Kennedy. Und ‚Riet‘ ist holländisch und heißt ‚Stock‘.“

„Oh“, sagte sie. „Groovy.“

Deanna unterbrach die beiden.

„Mary, du und ich müssen jetzt zurück ins Hotel gehen und nachsehen, ob Samuel wach ist.“ Dann drehte sie sich um. „Jack, wir können dich anrufen, wenn wir wissen, wie wir weiter vorgehen.“

„Sehr gut“, sagte er. „Eigentlich kann ich sogar mit euch kommen und wir essen etwas zu Mittag. Ich kenne ein tolles Lokal …“

Marys Gesicht hellte sich auf, aber Deanna wusste, was Samuel dazu sagen würde. Neben der Tatsache, dass er sicher war, dass Jack mit Mary allein sein wollte, war seine Abscheu anderen Jägern gegenüber nahezu legendär. Er würde sich sicher weigern, schon wieder eine Mahlzeit mit dem jungen Mann einzunehmen, besonders nach so kurzer Zeit.

„Es tut mir leid, Jack“, sagte sie bestimmt. „Aber nicht heute. Wir rufen, dich an, in Ordnung?“

„Sicher.“ Jack klang genauso enttäuscht, wie Mary aussah. Deanna griff nach der Hand ihrer Tochter und zog sie in Richtung Bushaltestelle. Es war genauso, wie sie zu der Bibliothekarin gesagt hatte.

Teenager – was will man machen?

* * *

Samuel hatte nicht auf große Unterstützung in Chinatown gehofft, so lange er sich als FBI-Agent ausgab. Tatsächlich sprach schon die bloße Tatsache, dass er Kaukasier war, gegen ihn. Vielleicht würde er später Mary schicken und sie den weltoffenen Hippie spielen lassen, der versucht, die orientalische Kultur zu verstehen, und sie so beschatten lassen.

Nachdem er ein Nickerchen gemacht hatte, wollte er an den ersten Tatort in Inner Mission gehen, an dem Michael ‚Moondoggy‘ Verlander zu Tode gekommen war.

Er war immer noch nicht glücklich darüber, dass Deanna ihn überzeugt hatte, Bartow hinzuzuziehen. Samuel hatte seine Anwesenheit toleriert. Ja, er war derjenige gewesen, der sie gerufen hatte, aber Samuel war einfach ungern in der Nähe anderer Jäger. Sie nahmen immer an, dass man das Gleiche dachte wie sie. Aber was Samuel betraf, war ein Blödmann eben ein Blödmann – und viele von ihnen hatten sich als Blödmänner erwiesen.

Als er die Guerrero Street entlangging, sah er eine Ansammlung von Jugendlichen, die Slogans riefen. Einer von ihnen stand auf einer Milchkiste in der Mitte und hielt eine Rede. Einige der Kids trugen Schilder bei sich, auf denen Sachen wie FRIEDEN und LIEBE STATT WAFFEN standen. Mehr als die Hälfte von ihnen trug Batikshirts, bei deren bloßem Anblick Samuel Kopfschmerzen bekam. Die meisten hätten einen Friseurbesuch nötig – die Frauen eingeschlossen. Einige waren barfuß, einige trugen Sandalen.

Neben einem Lautsprecher saß ein Junge und zupfte an seiner Gitarre, man konnte ihn aber durch die lauten Rufe nicht hören.

Einerseits verstand Samuel die, die nicht nach Südostasien in den Krieg ziehen wollten. Nachdem er in beiden Kriegen, dem Zweiten Weltkrieg und in Korea gedient hatte, wusste er, dass es da einen großen Unterschied gab. Der erste musste ausgefochten werden – letzterer war hauptsächlich eine Entschuldigung dafür, gute Menschen ohne vernünftigen Grund umbringen zu lassen. Vietnam schien nicht viel anders zu sein als Korea. Aber Samuel konnte den Beatles nicht guten Gewissens zustimmen, wenn sie sangen: „Give peace a chance.“

Wenn man das tat, hatte man schon verloren.

Der Feind war nicht der Vietcong und nicht die Chinesen, Sowjets oder Nordkoreaner, verdammt, es waren nicht einmal die Nazis. Der wahre Feind lauerte größtenteils unsichtbar und unerkannt und war viel schlimmer.

Der einzige Weg, den wahren Feind aufzuhalten, war zu kämpfen. Die einzige Alternative war verlieren und sterben. Und Samuel hatte nicht die Absicht, in nächster Zeit zu sterben.

Trotzdem, er konnte den meisten ihre Einstellung zum Krieg nicht übel nehmen, dachte er, als er die Guerrero runter- und auf das Apartment-Gebäude zuging. Wenn man nicht wusste – tatsächlich wusste –, wie die Welt wirklich war, konnte man glauben, dass es vorzuziehen wäre, dem Frieden eine Chance zu geben. Anstelle des Todes in einem weit entfernten Dschungel, der niemandem etwas bedeutete.

Sie hatten trotzdem einen Besuch beim Friseur nötig.

Als er den dritten Stock des Apartment-Gebäudes erreichte, sah er, dass das Tatort-Absperrband immer noch an einer Seite des Türrahmens befestigt war und auf den Boden hing. Es bewegte sich in einer kaum wahrnehmbaren Brise. Wenn man sah, dass der Flur nicht gewischt und die Fenster nicht geputzt worden waren, seit der Zeit, bevor die Japaner Pearl Harbour bombardiert hatten, konnte einen dieser Mangel an Sorgfalt nicht mehr überraschen.

Er wollte gerade an die Tür klopfen, die mit Peace-Stickern und anderen Aufklebern verziert war, als sie sich öffnete und dahinter ein sehr wütendes Gesicht erschien. Eine riesige Nase wurde von winzigen Augen und einem schmalen Mund eingerahmt, der etwas von dem breiten Schnurrbart des Mannes aufgepeppt wurde. Unglücklicherweise war er feuerrot, während seine Haare und Koteletten – die dringend gestutzt werden mussten – dunkelbraun waren. Der Kontrast sah komisch aus und einzig Samuels Erfahrung mit Verkleidungen bestätigte ihm, dass diese Gesichtsbehaarung echt war.

„Was willst du, Mann?“

Samuel erinnerte sich an etwas aus Verlanders Akte und Bartows Bericht und setzte seine beeindruckende Stimme ein.

„Sind Sie Frederick Gorzyk?“

„Wer will das wissen?“

Während Samuel den gefälschten Ausweis hochhielt, sagte er autoritär: „Ich bin Special Agent Jones.“ Eines, was er sehr schnell gelernt hatte, war, dass das FBI sich niemals einfach als „Agent Soundso“ vorstellte. Und sie nannten sich auch nie „FBI-Agenten“. Das war ein kleines Detail, aber es konnte eine Tarnung vervollständigen oder platzen lassen.

Gorzyk blinzelte, etwas von seinem Ärger verflog.

„Okay.“

Samuel fuhr fort.

„Wenn Sie Frederick Gorzyk sind, habe ich einige Fragen an Sie wegen des Todes von Michael Verlander.“

„Und wenn ich es nicht bin?“

Samuel musste leicht grinsen.

„Dann muss ich Sie wegen unbefugten Betretens verhaften.“

Gorzyk entfuhr ein Geräusch, das an ein explodierendes Rohr erinnerte.

„Das ist kein unerlaubtes Betreten, Mann, ich bin Freddie Gorzyk.“ Samuel fiel auf, dass er das „Gore-tschik“ und nicht „Gore-zik“ aussprach.

„Bitte entschuldigen Sie, dass ich Ihren Namen falsch ausgesprochen habe, Mr. Gorzyk“, sagte er und deutete in die Wohnung. „Darf ich hereinkommen?“

„Klar, sicher.“ Gorzyk, der die ganze Zeit die Tür versperrt hatte, öffnete sie weit, drehte sich um und führte ihn in das kleine Wohnzimmer.

Zur Linken war eine Wand, in die unzählige Metallklammern geschraubt waren, die hölzerne Bücherregale stützten. Die meisten waren mit Büchern vollgestopft, aber auf einem stand ein Plattenspieler, unter dem Lautsprecher auf der Erde standen.

Zur Rechten stand eine Couch und mehrere fleckige Poster an der Wand priesen Konzerte, Festivals und Ausstellungen an. Samuel erkannte mehrere Bands von den Platten, die Mary sich zum Geburtstag oder zu Weihnachten gewünscht hatte.

Der Teppich war billig, schmutzig und ausgeblichen, aber er konnte genau erkennen, dass er kürzlich gesaugt worden war. Außerdem war ein rechteckiges Stück direkt vor der zerschlissenen Ledercouch herausgeschnitten worden. Samuel erinnerte sich, dass in Verlanders Akte erwähnt wurde, dass ein Couchtisch verbrannt war. Die Asche und den Teppich hatte man zur Analyse ins Labor gebracht. Das erklärte das Loch.

Nachdem er sich stumm das Wohnzimmer angesehen hatte, wandte Samuel sich an Gorzyk.

„Ich muss wissen, was Verlander in Ihrem Apartment wollte.“

„Durcheinander gebracht hat er alles! Schauen Sie, ich bin im August nach Osten, nach Woodstock gefahren, okay, Mann?“ Als Samuel nicht antwortete, fuhr er fort. „Als ich dort angekommen war, ist mir klar geworden, dass New York City der Ort ist, an dem es abgeht! Also bin ich dort geblieben. Ich hatte Moondoggy – das ist Mr. Verlander, okay? – gebeten, auf meine Wohnung aufzupassen, während ich auf dem Festival war. Also habe ich ihn angerufen und gesagt, er soll weiter aufpassen, während ich meinen großen Durchbruch versuche, okay?“

„Durchbruch?“

„Sie wissen schon, Gigs kriegen und so. Für meine Musik, Mann.“

„Und was ist passiert?“

Gorzyk begann, wild zu gestikulieren.

„Er hat meine Katze weglaufen lassen, Mann! Hat meine Sachen kaputt gemacht, hat sogar meine LPs zerkratzt! Hat praktisch das Apartment niedergebrannt. Dann hat er sich noch umbringen lassen, sodass ich nicht mal Schadensersatz bekommen kann oder so.“

„Es tut mir leid, dass sie Probleme haben, Mr. Gorzyk“, sagte Samuel mit so viel Ernst, wie er nur aufbringen konnte – was allerdings nicht viel war –, dann fügte er hinzu: „Aber ich brauche Details. Wissen Sie, wen er möglicherweise empfangen hat, als er hier war?“

„Jeden, der ihm Gras besorgen konnte, den hat er empfangen.“ Gorzyk schluckte und sagte hastig. „Äh, nicht, dass ich was darüber weiß, Mann. Ist nicht mein Ding.“

Ein Blick auf die Küchenzeile zeigte eine Menge leerer Chipstüten und Samuel grinste in sich hinein.

„Ich untersuche einen Mord, mein Junge – es könnte mich nicht weniger interessieren, was Sie oder Mr. Verlander rauchen.“

„Ja, okay.“ Gorzyk hörte sich nicht so an, als würde er ihm glauben. Dann hellte sich seine Miene auf. „Oh, hey, Mann, wissen Sie, mit wem Sie reden sollten? Mrs. Holzaur. Sie wohnt nebenan in 3C und sieht immer alles. Ich habe sie gebeten, ein Auge auf Moondoggy zu haben, okay? Sie hat vielleicht was gesehen. Ich weiß nicht, ob die Bu– äh, Cops mit ihr gesprochen haben oder nicht.“

Erneut lächelte Samuel in sich hinein, aber er entschied, nichts zu der überspielten Bezeichnung zu sagen.

Stattdessen kauerte er sich neben das ausgeschnittene Teil auf den Teppich, wo er einige gelbe Kristalle bemerkt hatte.

Schwefel.

Nicht, dass Samuel zu diesem Zeitpunkt noch Zweifel gehabt hätte, aber Schwefelspuren bestätigten eindeutig, dass das hier etwas war, worum er und seine Familie sich kümmern mussten. Und zwar schnell.

Das kann ein Drache gewesen sein oder nicht, aber definitiv hatte es was mit einem Dämon zu tun.

Er stand auf und machte Anstalten zu gehen.

„Danke für Ihre Kooperation, Mr. Gorzyk“, sagte er. „Sie waren eine große Hilfe.“

„Sicher, Mann. Hoffe nur, dass Sie den Kerl kriegen. Moondoggy war ein Idiot, aber das hat er nicht verdient.“

Samuel trat hinaus in den Hausflur, ließ die Tür ins Schloss klicken und klopfte bei Apartment 3C an. Anders als die Tür zu Gorzyks Wohnung, 3B, war Mrs. Holzaurs Tür bis auf die polierte Messingnummer und den Buchstaben leer. Eine kleine, faltige Frau in einem ausgeblichenen Hauskleid öffnete ihm. Zwischen ihren Lippen klemmte eine angezündete Zigarette.

„Sind Sie Mrs. Holzaur?“

„Sie sind Polizist, Mister?“, fragte sie mit rauer Stimme.

„Bundesagent, eigentlich. Special Agent Jones.“

„Schade. Ich hatte gehofft, dass Sie Polizist sind, weil ich von denen noch nichts gehört habe.“ Sie nahm einen Zug aus ihrer Zigarette.

„Es tut mir leid, Ma’am.“

Mrs. Holzaur blies Rauch in Samuels Gesicht und sagte: „Ich habe den Polizisten gesagt, dass der Mann ermordet wurde. Ich habe ihnen gesagt, dass sie mit mir reden sollten, weil ich Zeugs über die Yippies und Aliens, den Chingie und so was weiß.“

„Sie sprechen über den Mord an ihrem Nachbarn, Mr. Verlander, oder?“

„Der ist nicht mein Nachbar. Er hat auf die Wohnung meines Nachbarn aufgepasst. Wenn mein Mann noch am Leben wäre, hätte er die beiden erschossen, das können Sie mir glauben.“

„Kein Zweifel, Mrs. Holzaur“, sagte Samuel schnell. „Also, was ist das mit den Aliens und – und dem Chingie?“

„Die Aliens, wissen Sie, das sind die, die das Marie-juu-ana machen. Wenn man das Zeug raucht, wissen Sie, das verwandelt die Leute in Aliens und die übernehmen dann alles hier. Habe ich den Polizisten jedes Mal gesagt, wenn ich konnte, aber sie machen gar nichts.“ Sie zog noch einmal an ihrer Zigarette.

Eines hatte die Campbell-Familie schnell gelernt: Es lohnte sich, gerade den Verrückten zuzuhören – oft gab es ein gutes Körnchen Wahrheit unter all ihrem Geschwätz. Also wartete er, während Mrs. Holzaur etwas über Marihuana und die Verschwörung der Außerirdischen zur Zerstörung der amerikanischen Jugend schwadronierte. Als sie etwas Dampf abgelassen hatte, fing er an, ihr Fragen zu stellen.

„Und wie passt diese chinesische Person ins Spiel?“

„Das ist doch offensichtlich, nicht wahr? Dieser Yippie-Kerl hat mich gebeten, seinen Freund reinzulassen, während er sich mit seinen außerirdischen Kumpels getroffen hat. Er hat mich gebeten diesem Typen – Albert – etwas zu kauen zu geben.“

Samuels Miene hellte sich auf.

„Albert?“

„Ja, hat mir gesagt, ich soll Albert was zu kauen geben. Als ob ich ’nen Chingie-Koch füttern würde.“

„Haben Sie ihm was zu essen gegeben?“

Für diese Frage bekam Samuel noch mehr Rauch ins Gesicht.

„’türlich nicht! Albert kann in seiner eigenen Freizeit was futtern, wenn Sie mich fragen. Verdammte Chingies, die übernehmen hier alles! Wenn Sie nicht aufpassen, sind wir alle bald schlitzäugige Teufel, wie die. Und was machen wir dann, hä?“ Sie zog an ihrer Zigarette und ließ sie dann auf den Linoleumboden des Flurs fallen.

„Wenn mein Mann noch am Leben wäre, würde er auf all die mit dem Gewehr losgehen, und das ist nicht gelogen.“

Samuel nickte unverbindlich und passte auf, dass er mit keiner Regung die Euphorie verriet, die ihn überkam.

„Danke, dass Sie mir Ihre Zeit geschenkt haben, Mrs. Holzaur. Das FBI weiß Ihre Informationen zu schätzen und seien Sie versichert, dass wir Ihren Anschuldigungen unsere vollste Aufmerksamkeit widmen.“

„Ja, richtig – Sie sind doch wie alle Männer. Nur Worte, keine Taten, das ist euer Problem. Wenn mein Mann noch leben würde, würde er Ihnen ein Gewehr an den Kopf halten, das sage ich Ihnen, und das ganz kostenlos.“

Samuel drehte Mrs. Holzaur den Rücken zu, die weiter über Aliens, Yippies und den Chingie plapperte, und was ihr Mann mit einem Gewehr machen würde. Er hatte aber neuen Schwung in seinen Schritten, weil er jetzt einen Namen hatte.

Albert.

Er bezweifelte irgendwie, dass Moondoggy gewollt hatte, dass seine verrückte Nachbarin Albert was zu kauen servierte. Aber er hätte sie gebeten, jemanden namens Albert Chao reinzulassen.

Jetzt musste er nur noch herausfinden, wer Albert Chao war und was er mit Moondoggy zu schaffen hatte …

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