Siebzehn
Tommy Shin verfluchte die Tatsache, dass der Alte recht gehabt hatte.
Mai-Lin hatte seine Befehle befolgt und alles besorgt, was er über das Herz des Drachen wissen musste. Tommy wusste nicht so viel, wie er gerne wollte, aber genug, um zu handeln.
Zu seinem größten Ärger war eine dieser Handlungen, erneut mit dem Alten zu sprechen. Als der Alte geäußert hatte, dass ein Geist für die Morde an seinen Vertrauten verantwortlich sein könnte, hatte Tommy das nicht einmal in Betracht gezogen. Jetzt musste er zu Kreuze kriechen.
Er konnte aber auch nicht leugnen, was er mit eigenen Augen gesehen hatte. Er hatte das Herz des Drachen in seinem Restaurant gesehen, wie es auf Lin losgegangen und durch einen Zauber verschwunden war.
Tommy musste also akzeptieren, dass dieses Wesen wirklich existierte. Das bedeutete, dass er wieder einmal den Alten um Hilfe bitten musste.
Der Joker im Spiel war der Amerikaner mit dem Schwert. Tommy wusste nicht, was er davon halten sollte – und das behagte ihm nicht. Einerseits hatte der Gaijin das merkwürdige Schwert in sein Restaurant mitgebracht. Andererseits hatte er sein Leben riskiert, um Lin zu verteidigen – einen vollkommen Fremden.
Warum sollte er so etwas tun?, fragte sich Tommy. Was springt für ihn dabei raus?
Außerdem schien er das Herz des Drachen erwartet zu haben. Warum sollte er sonst ein Schwert mit ins Shin’s Delight Restaurant bringen?
Dennoch, bis er mehr über den Mann in Erfahrung gebracht hatte, gab es nichts, was Tommy gegen ihn unternehmen konnte. Andere Vorbereitungen konnten hingegen getroffen werden – und waren es auch schon.
Tommy rief Benny und Al in sein Büro und beide kamen sofort herein.
„Setzt euch“, sagte er und zeigte auf die beiden Besucherstühle vor seinem Schreibtisch. „Ich habe jetzt einen Bericht über das Herz des Drachen bekommen – den flammenden Krieger, der unten im Restaurant aufgetaucht ist.“
Al schien unruhig zu werden.
„Das habe ich auch“, sagte er, ohne gefragt zu werden. „Und ich glaube es war der Ga…, äh, Ausländer, der ihn heraufbeschworen hat.“
Benny wandte sich ihm zu und starrte ihn an.
„Warum glaubst du das?“, fragte er. „Jeder, mit dem ich gesprochen habe, sagte, dass der gegen ihn gekämpft hat.“
„Das ist doch offensichtlich!“ Al starrte Benny an, als wäre er ein Idiot. „Der Ausländer hatte ein Schwert bei sich. Leute tragen kein Schwert, wenn sie es nicht benutzen wollen. Ich wette, dass er den Dämon heraufbeschworen hat, damit er ihm dabei hilft, irgendeinen verzwickten Plan auszuführen.“
„Warum hat er ihn dann bekämpft?“
Al zuckte mit den Schultern.
„Wer weiß. Vielleicht hat er die Kontrolle verloren. Das würde auch erklären, warum er hinter Lin her war. Ich meine, Lin ist immerhin nicht von Bedeutung.“ Er drehte sich zu Tommy um. „Nein, ich glaube er war hinter dir her und der einzige Grund, warum er sich zu erkennen gegeben hat, war, dass er die falsche Person angegriffen hat.“ Er sah sehr zufrieden mit seiner Begründung aus.
Tommy nickte und dachte über Als Worte nach.
„Das ist keine schlechte Theorie, Al“, gab er zu.
Es klopfte am Türrahmen. Sie war offen und Mike Zhang – einer der Bodyguards von unten – stand da.
„Entschuldigen Sie, Boss. Wir haben da jemanden.“
Tommy winkte Mike herein.
„Komm rein, komm rein“, sagte er eifrig.
Mike trat ins Büro, gefolgt von Jack Wu und einem unrasierten Weißen in einer Bomberjacke. Jack war gut zwei Meter fünf groß und breitschultrig.
Er erhob eine Hand und zeigte ein Hakenschwert.
„Schön, schön, schön“, sagte Tommy und ging um seinen Schreibtisch, um den Ausländer zu betrachten. „Zum Tatort zurückgekehrt, oder?“
Jack hatte riesige Hände, mit denen er den Ausländer an den Schultern festhielt. Trotzdem war der weiße Mann unbeeindruckt.
„Ich bin nicht der einzige Verbrecher hier“, sagte er voller Überzeugung.
„Wer bist du?“, fragte Tommy.
„Mein Name ist John Winchester – und ich bin nicht hier, um Ihnen Schwierigkeiten zu machen.“
Dabei stand Al auf und stellte sich neben den Boss.
„Du lügst!“, sagte er mit einer Stimme, die ein bisschen zu hoch klang. „Du versuchst, die Triaden zu zerstören, angefangen bei Tommy, nicht wahr? Du glaubst, er sei schwach, aber da liegst du falsch!“
Winchester lächelte ihn an. Es war ein beunruhigendes Lächeln, weil es einerseits irre und andererseits beunruhigend vernünftig wirkte. Das, bemerkte Tommy, war jemand, der in den Abgrund geblickt hatte.
Er hatte diesen Blick schon einmal gesehen – beim Alten.
„Es gibt nur eines, was ich zerstören will, Junge, und das ist nicht hier im Raum.“
Al wandte sich an Tommy.
„Du solltest ihn umbringen, bevor er dich fertigmacht.“
Jetzt war es an Tommy zu lächeln.
„Oh, vielleicht werde ich ihn wirklich umbringen, Al“, sagte er ruhig. „Aber nicht, weil er das Herz des Drachen heraufbeschworen hat.“
„Wovon redest du?“, fragte Al, dem das gesamte Blut aus dem Gesicht gewichen war.
Tommy begann zwischen den Filmpostern und der Wand auf und ab zu gehen.
„Mai-Lins Nachforschungen haben eine ganze Menge über das Herz des Drachen zutage gebracht. Inklusive einer Sache, die du in deinem kleinen Bericht weggelassen hast“, sagte er. „Siehst du, das Wesen ist der verwunschene Geist des alten Kriegers Yoshio Nakadai. Und John Winchester hier kann ihn unmöglich zurück ins Land der Lebenden geholt haben. Nein, das kann nur ein Blutsverwandter getan haben – ein Nachfahre des alten Ronin.“
Er drehte sich um und starrte Al an.
„Ihre Informationen waren sehr spezifisch. Und weil Yoshio Nakadai Japaner war, gibt es nur eine Person, die dafür infrage kommt. Jemand, der Halbjapaner ist und einen Ausländer Gaijin nennt, bevor er sich schnell verbessert. Jemand, der selbst Ambitionen hat, in den Triaden aufzusteigen. Jemand, der nie mit Lin klargekommen ist.“
Zuerst zeigten Als Gesichtszüge Panik und er blickte sich auf der Suche nach einem Ausweg im Zimmer um.
Dann senkten sich seine Schultern und er schaute seinen Boss an.
„Sehr gut, Tommy. Du hast mich.“
Bevor jemand reagieren konnte, begann er leise etwas zu murmeln.
Tommy fühlte sofort, wie ihm die Hitze ins Gesicht schlug.
Da, in der Mitte des Raumes, stand das Herz des Drachen und sah genauso aus wie unten im Restaurant.
„Wie zur Hölle …?“, sagte Benny, stand auf und wich instinktiv zurück. Er zog seine Beretta.
Tommy und seine Bodyguards waren starr vor Schreck. Winchester, der sich immer noch in Jacks Griff befand, schien der Einzige zu sein, der einen klaren Kopf behielt.
„Er muss die Zauberformel gesprochen haben, bevor er hier hereinkam“, rief er. „Was er gerade gesagt hat, muss es vollendet haben.“
„Sehr gut“, lächelte Al, wie ein Lehrer, der einen klugen Schüler lobt.
Benny zog den Abzug dreimal, aber die Kugeln verdampften sofort in den Flammen.
Das Herz des Drachen erhob sein Katana.
Benny war kurz davor, Al anstelle der Kreatur zu erschießen, aber bevor er etwas tun konnte, begann Winchester einige japanische Worte zu murmeln.
Während er das tat, begannen die Schriftzeichen auf der Klinge des Schwerts in Mikes Hand zu leuchten.
Ohne Vorwarnung warf der feurige Geist den Kopf zurück und schrie, während er das Katana immer noch erhoben hielt. Es war ein hohler, qualvoller Schrei – kaum menschlich zu nennen. Das Feuer begann heller zu brennen und Tommy musste seine Augen vor dem grellen Licht schützen. Dann züngelten die Flammen ins Nichts und der Geist war verschwunden.
Al schrie wütend auf.
Tommy machte Benny ein Zeichen, der sofort verstand und die Beretta auf Al richtete.
Winchester bewegte sich schnell. Er stieß Jack kräftig den Ellbogen in den Bauch und schlug ihm mit der Rückseite der Faust ins Gesicht. Ein Tritt mit seinem Stiefelabsatz traf ihn in den Schritt und als der Bodyguard sich nach vorne beugte, holte er aus, um Mike zu schlagen. Ein Faustschlag reichte.
Er hatte schon immer ein Glaskinn, dachte Tommy abwesend. Als Mike auf den Boden fiel, hob der Kaukasier sein Schwert auf.
Tommy trug nie eine Waffe bei sich – dafür hatte er ja Typen wie Mike und Jack. Weil Benny auf Al zielte, konnte Winchester zur Tür rennen.
„Boss?“, fragte Benny und nahm seine Augen nicht von Al.
„Lass ihn gehen“, sagte Tommy, der seine Fassung noch nicht vollständig zurückgewonnen hatte. „Er ist nicht unser Feind. Wenn er zurückkommt, kümmere ich mich um ihn.“ Dann fuhr er mit der Hand durch sein hochstehendes Haar und drehte sich zu Al um.
„Du, allerdings, um dich kümmere ich mich sofort.“
Aufmüpfig bis zuletzt, aber ohne annähernd die Überzeugung, die Winchester an den Tag gelegt hatte, antwortete Al.
„Mach ruhig das Schlimmste mit mir, Tommy. Sag Benny, er soll mich erschießen.“
„Wenn du nicht die Klappe hältst, werde ich dich erschießen, du halbblütiges Stück Dreck“, sagte Benny.
„Wie ich schon sagte, ich habe dir nichts mehr zu sagen.“
Tommy überlegte.
„Das glaubst du vielleicht, Al, aber ich nicht. Siehst du, du könntest sehr wertvoll für mich sein. Immerhin weißt du, wie man das Herz des Drachen beschwört.“
„Nicht mehr“, sagte Al bitter. „Dieser Gaijin hat den Geist gebannt. Er ist fort.“
Tommy zuckte die Schultern und gab Benny ein Zeichen.
„In Ordnung, dann erschieße ihn.“
Grinsend drückte Benny dreimal ab und leerte sein Magazin in Als Brust. Er fiel auf den Boden und Blut strömte aus seinen Wunden.
Tommy richtete seine Aufmerksamkeit auf Jack und Mike.
„Geht es euch beiden gut?“
Jack nickte und wurde rot vor Scham, aber Mike lag immer noch am Boden. Benny schüttelte den Kopf, nahm das Magazin aus seiner Beretta und ersetzte es durch ein neues. Es rastete mit einem hörbaren Klicken ein.
Tommy dachte, er müsste Mai-Lin auf diesen John Winchester ansetzen. Sie sollte herausfinden, wer er war und wo er herkam. Er hatte eindeutig beachtliches Wissen und Hilfsmittel von der Sorte, die sich Tommy vielleicht gern zunutze machen wollte.
Er blickte Jack an, der neben Mike kniete.
Mike begann, sein Bewusstsein wiederzuerlangen und stöhnte laut.
„Jack, steh auf und hol Doktor Jiang. Wir brauchen ihn, um Als Leiche zu beseitigen.
„Auuuuu!“
Tommy wirbelte herum und erstarrte. Alle erstarrten.
Al stand auf.
Auf seinem Hemd waren immer noch Blutflecken, die sich um die Kugellöcher ausgebreitet hatten. Durch diese Löcher konnte Tommy nur glatte, unversehrte Haut erkennen.
„Was zur Hölle?“
Al glättete seine Kleider, so gut er konnte, und starrte ihn einfach nur an. Ein Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus.
„Du wirst Jiang wegen mir nicht brauchen, Tommy. Und du willst mich auch in deiner Nähe behalten. Erinnerst du dich, als ich sagte, das Herz des Drachen sei gebannt? Nun, eines habe ich dir nicht verraten. Ich habe nicht gesagt für immer.“
Aber bevor er fortfahren konnte, schoss Benny erneut auf ihn. Diesmal in die Schulter.
Al taumelte rückwärts gegen die Wand, knurrte und griff nach Bennys Waffe.
„Verdammt, Benny. Das tut weh!“
Als er Benny die Waffe aus der Hand genommen hatte, stand Jack auf und schoss Al zwei Kugeln in den Rücken. Daraufhin drehte er sich. Sie flogen wieder aus seinem Bauch heraus und Blut spritzte auf das Lethal Weapon II-Poster.
Diesmal fiel Al nicht zu Boden, obwohl er beim Umdrehen zusammensackte. Er zielte mit Bennys Beretta und schoss Jack zwei Kugeln in die Brust.
Jack dagegen fiel zu Boden.
Benny sprang vorwärts und versuchte, die Waffe zurückzuerobern. Vier Hände schlangen sich um den Griff der Beretta und probierten verzweifelt, sie in die eine oder andere Richtung zu drehen und den Finger auf der Suche nach dem Abzug zu bewegen.
Zuerst schien es unentschieden. Tommy wagte sich nicht näher heran, weil er Angst hatte, selbst einen Schuss abzubekommen. Einmal zielte der Lauf direkt auf ihn und er duckte sich hinter seinen Schreibtisch.
Irgendwann erlangte Benny die Oberhand und drückte den Lauf gegen Als Brust.
Die Waffe feuerte mit einem ohrenbetäubenden Knall und Al schrie auf.
Benny lächelte. Er fühlte sich als Sieger und lockerte den Griff um die Beretta.
Sobald er das tat, drückte Al die Waffe unter Bennys Kinn und betätigte den Abzug.
Hirnmasse und Schädelfragmente spritzten zur Decke und als der tote Körper zu Boden fiel, drehte Al sich zu Tommy um. Sein Hemd war jetzt zerrissen und vollkommen mit Blut getränkt. Aber an den Stellen, an denen die Haut verletzt war, heilten die Wunden so schnell, dass Tommy dabei zuschauen konnte.
Das Lächeln auf Als Gesicht jagte Tommy noch größere Angst ein als das von Winchester. Es war ein Wahnsinn darin zu erkennen, der vorher nicht da gewesen war.
„Du hättest mir nur mehr Autorität verleihen sollen“, sagte Albert grimmig. „Darum habe ich diese drei Idioten umgebracht – Hsu, Li und Lao. Und diese beiden hier.“ Dann wandte er sich zu Mike um, der immer noch halb benommen auf dem Boden lag.
„Und ihn.“
„Keiner von denen hätte dir helfen können. Ich hätte dir helfen können. Jetzt werde ich nur mir selbst helfen. Bis zu dem Zeitpunkt, an dem ich das Herz des Drachen wieder erwecken kann, werde ich der mächtigste Mann in Chinatown sein.“
Tommy blickte Al genauso verächtlich an, wie der Alte ihn immer ansah.
„Du glaubst, dass du etwas Besseres bist als ich. Aber du bist nur ein Narr, der Glück hatte.“
„Und ich werde gleich noch mehr Glück haben.“
Das Letzte, was Tommy Shin jemals hörte, war der Knall, mit dem sich eine Kugel auf den Weg in sein Gehirn begab.