8. Kapitel

In all den Jahren, die er jetzt hierherkam, hatte sich dieser Raum nicht verändert. Das Antlitz der Klinik befand sich in einem sehr langsamen, aber beständigen Wandel: Türen und Fenster waren in freundlichen Farben gestrichen worden, verschlissene Teppiche ersetzt, das eine oder andere Bild aufgehängt oder abgenommen, das eine oder andere Gesicht ausgetauscht worden. Aber an diesem speziellen Zimmer waren sämtliche Veränderungen spurlos vorübergegangen. Tapeten und Mobiliar waren ebenso geblieben wie die beiden geschmackvollen Drucke an der dem Fenster gegenüberliegenden Wand. Auf dem Tisch stand noch immer der gleiche Aschenbecher aus weißem Carrara-Marmor wie vor vier Jahren, ja selbst die Zeitschriften, die säuberlich aufgestapelt auf einem kleinen Tischchen neben dem Fenster lagen, schienen die gleichen zu sein wie immer.

Natürlich wußte Mark, daß das nicht stimmte. Das Titelbild der obersten Illustrierten hatte er am Morgen in der Auslage des Bahnhofskioskes gesehen, und wahrscheinlich wären ihm noch mehr Veränderungen aufgefallen, hätte er nur danach gesucht. Die Wahrheit war, daß er es nicht wollte. Sein Leben, das während des zurückliegenden halben Jahrzehnts aus praktisch nichts anderem als Warten bestanden hatte, war innerhalb der letzten vierundzwanzig Stunden derart - und derart schnell - in Bewegung geraten, daß er sich plötzlich fast verzweifelt an jede noch so kleine Konstante klammerte, die er fand. Selbst wenn sie in Wirklichkeit gar nicht da war.

Er hörte Schritte draußen auf dem Flur, und fast im gleichen Moment wurde die Tür geöffnet. Mark wappnete sich gegen den Anblick, der sich ihm bieten würde, obwohl er wußte, daß er nicht dramatisch oder auch nur erschreckend war. Aber er war nervös. Auf seiner Zunge lag ein pelziger Geschmack, den er wider besseres Wissen auf seine Übermüdung schob, und er fragte sich, was er eigentlich hier wollte. Hätte er nur einen Moment mehr Zeit gehabt, wäre er vielleicht aufgestanden und wieder gegangen, ohne auf seine Mutter zu warten. Aber auch das gehörte zu diesem Zimmer. Es erging ihm fast jedes Mal so, wenn er hier war.

Mark hatte einen Pfleger erwartet, doch es war niemand anders als Schwester Beate, die seine Mutter hereinführte. »Herr Sillmann - Ihre Mutter. Aber bitte: nur eine halbe Stunde. Sie bringen sonst den ganzen Ablauf hier durcheinander.«

»Selbstverständlich«, antwortete Mark. Er hatte nicht vor, lange zu bleiben. Konkret hatte er es noch nie länger als zwanzig Minuten hier ausgehalten, meistens nicht einmal das. Er stand auf, eilte um den Tisch herum und schloß seine Mutter in die Arme. Sie ließ es einen Moment lang zu, dann schob sie ihn mit sanfter Gewalt ein kleines Stückchen von sich fort und sah kopfschüttelnd zu ihm hoch.

»Mark! Was ist denn los? Du tust ja geradeso, als hätten wir uns monatelang nicht gesehen!«

Es waren genau sechs Monate, aber Mark ersparte es sich, das auszusprechen. Seine Mutter lebte in ihrer eigenen Zeit, die anderen Gesetzen gehorchte als die der restlichen Welt. »Ich freue mich nur so, dich wiederzusehen«, sagte er, dann wandte er sich mit einer entsprechenden Geste an die Schwester.

»Es ist gut«, sagte er. »Ich sage Ihnen dann Bescheid, wenn wir fertig sind.«

»Eine halbe Stunde«, erinnerte sie, schloß dann aber die Tür hinter sich und ging. Mark wartete ganz automatisch darauf, einen Verschlußmechanismus einrasten zu hören oder einen Riegel. Das geschah niemals. Sie befanden sich in einem Teil des Instituts, in dem es keine verschlossenen Türen gab, keine Gummizellen, keine Gitterstäbe und keine Sicherheitsvorkehrungen - zumindest keine, die man sah. Die Mauern dieses Gefängnisses waren unsichtbar und körperlos. Sie existierten nur in den Köpfen seiner Insassen. Er hätte hinausspazieren und seine Mutter vielleicht sogar mitnehmen können, ohne daß es aufgefallen wäre.

Mark wartete, bis seine Mutter sich gesetzt hatte, bevor er ihr gegenüber Platz nahm und sie jetzt das erste Mal aufmerksam ansah. Sie hatte sich sehr verändert, seit er das letzte Mal hiergewesen war. Trotz der frühen Stunde und des fast schäbigen Morgenmantels, den sie trug, wirkte sie wie immer sehr gepflegt - perfekt frisiert und mit sorgfältig manikürten Nägeln. Und vor allem ihre Haltung: jeder Zoll die Grande Dame, die sie einst gewesen war. Vielleicht war dies das Grausamste an ihrer Krankheit überhaupt, daß sie ihr Äußeres vollkommen unangetastet gelassen hatte. Sie war mittlerweile vierzig, aber noch immer eine sehr attraktive Frau und noch immer eine - scheinbar - starke Persönlichkeit. Trotzdem war irgend etwas anders an ihr. Sie wirkte auf eine unbestimmte Weise traurig. Ihre Bewegungen waren ein wenig gedämpfter, ihre Stimme eine Spur leiser, der Glanz ihrer Augen nicht ganz so intensiv wie sonst. Aber Mark fragte sich, ob sie sich tatsächlich verändert hatte - oder er sie vielleicht nur anders sah.

»Es ist schön, daß du kommst«, sagte sie. »Ich habe mich gestern sehr gelangweilt. Ich weiß natürlich, daß ich nicht von euch verlangen kann, mich jeden Tag zu besuchen. Manchmal habe ich das Gefühl, daß die Zeit hier stehenbleibt, wenn niemand kommt. Hast du deinen Vater nicht mitgebracht?«

»Er weiß nicht, daß ich hier bin«, antwortete Mark.

»Ein Überraschungsbesuch? Du hast dich ganz spontan dazu entschieden? Das ist nett. Aber trotzdem -«, sie sah auf ihre Armbanduhr und runzelte demonstrativ die Stirn, »- was tust du hier? Solltest du um diese Zeit nicht eigentlich in der Schule sein?«

»Ich gehe nicht mehr zur Schule, Mutter«, sagte Mark geduldig.

»Nicht mehr zur Schule? Was soll das heißen? Sind denn schon Ferien?«

»Bald«, antwortete Mark. »Noch ein paar Wochen. Aber das ist nicht der Grund, weswegen ich hier bin.«

»Oh, ich verstehe«, unterbrach ihn seine Mutter, indem sie ihm spielerisch mit dem Zeigefinger drohte. »Du hast einfach blaugemacht! Geschwänzt, um deine arme Mutter im Krankenhaus zu besuchen. Das ist lieb gemeint, aber nicht besonders klug von dir. Es ist wichtig, zur Schule zu gehen, hörst du! Außerdem wird dein Vater nicht besonders erfreut sein, wenn er hört, daß du die Schule geschwänzt hast. Ich fürchte, ich werde es ihm sagen müssen, wenn er kommt. Kommt er heute?« Sie legte den Kopf auf die Seite und runzelte erneut angestrengt die Stirn. »Ich weiß gar nicht... War er gestern da, oder vorgestern?«

»Vater war nicht vorgestern hier, Mutter«, sagte Mark, so ruhig er konnte. »Und er war auch gestern nicht hier, und er wird heute nicht kommen und auch morgen nicht. Er war seit fünf Jahren nicht mehr hier, und er wird dich auch in den nächsten fünf Jahren nicht besuchen.«

Seine Mutter blinzelte verwirrt. »Was redest du da?«

»Und ich gehe auch nicht mehr zur Schule«, fuhr Mark fort. »Weder heute noch morgen oder nach den Ferien.«

»Nicht?«

»Ich habe die Schule abgebrochen«, sagte Mark. Natürlich war es sinnlos. Sie hörte seine Worte vielleicht, aber sie bedeuteten nichts für sie, denn das, worüber er sprach, gehörte zu jenem Teil des Universums, der auf der anderen Seite des Abgrundes lag, hinter dem sich ihr Bewußtsein verschanzt hatte. Trotzdem glaubte er einen Moment lang - nein: redete es sich ein -, so etwas wie Begreifen in ihrem Blick aufflackern zu sehen.

»Ich habe die Schule abgebrochen und bin aus dem Internat ausgezogen. Ich weiß noch nicht genau, wie es jetzt weitergeht, aber ich werde erst einmal hier in der Stadt bleiben, und ich verspreche dir, daß ich mich in Zukunft mehr um dich kümmern werde als bisher.«

»Das ist wirklich lieb von dir«, sagte seine Mutter, »aber nicht nötig. Die Ärzte hier sind wirklich gut, und das Personal ist sehr zuvorkommend. Die paar Tage, die ich noch hierbleiben muß, gehen auch noch vorbei. Dein Vater -«

»Mein Vater«, unterbrach Mark sie so scharf, daß nur noch eine Nuance fehlte, und er hätte geschrien, »ist schuld daran, daß du hier bist, Mutter. Er hat dich hierhergebracht. Aber ich werde dafür sorgen, daß das nicht mehr lange so bleibt. Bisher konnte ich nichts tun, aber jetzt hat er keine Macht mehr über mich. Ich weiß noch nicht, wie, aber irgendwie hole ich dich hier heraus. Das verspreche ich dir.«

Ein Versprechen, das er nicht halten konnte. Und er wußte es auch selbst. Die Worte waren nicht mehr als Ausdruck seiner Hilflosigkeit und der Wut, die immer noch tief in ihm schlummerte und immer wieder neu aufflammte, wenn er hierherkam und sah, was aus seiner Mutter geworden war. Er konnte es nicht einhalten, und er war nicht einmal ganz sicher, ob er es wollte. Ganz gleich, wie sehr er seinen Vater auch für das haßte, was er ihr angetan hatte - sie war nun einmal, was sie war, und mit Sicherheit war sie hier am besten aufgehoben. Mit ausreichend Energie, Zeit und einem Bataillon gewiefter Rechtsanwälte würde es ihm vielleicht sogar wirklich gelingen, sie hier herauszuholen. Aber mit ziemlicher Sicherheit würde er sie damit auch umbringen.

»Hast du eigentlich daran gedacht, den Videorecorder zu programmieren?« fragte seine Mutter plötzlich. Ihre Stimme klang ein bißchen alarmiert. »Du weißt, wie sehr ich Dallas liebe. Ich möchte keine Folge verpassen!«

»Dallas läuft seit fünf Jahren nicht mehr, Mutter«, murmelte Mark. Laut und mit einem erzwungenen Lächeln sagte er: »Natürlich. Es ist alles auf Band. Du versäumst nichts, keine Angst.«

»Ich weiß, daß es albern ist«, antwortete seine Mutter mit einem kleinen, verlegenen Lächeln. »Dein Vater wird immer ganz zornig, wenn er sieht, daß ich mir diese Serie anschaue. Aber ich mag sie nun einmal. Und jetzt erzähl mir von der Schule. Hast du immer noch so große Schwierigkeiten mit der Mathematik? Ich hoffe doch, du gehst weiter regelmäßig zum Nachhilfeunterricht - auch wenn ich nicht da bin, um auf dich aufzupassen.«

Mark resignierte. Er hätte nicht enttäuscht sein dürfen - für seine Mutter war er noch immer zwölf Jahre alt und würde es auch immer bleiben -, aber er war es, so sehr, daß es beinahe körperlich weh tat. Manchmal, wenn er hier war, fragte er sich allen Ernstes, ob er es vielleicht aus dem einzigen Grund immer wieder tat, um sich für irgend etwas zu bestrafen. Trotzdem sagte er noch einmal: »Ich gehe nicht mehr zur Schule, Mutter. Ich bin seit gestern achtzehn. Ich bin volljährig und lebe jetzt mein eigenes Leben. Vater hat mir nichts mehr zu sagen. Und ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um dich hier herauszuholen.«

Damit endete sein sinnloses Aufbegehren gegen die Wirklichkeit aber auch. Er blieb noch fünfzehn Minuten, aber er schlüpfte mit jeder Minute mehr in die Rolle, die er für sie ohnehin spielte, seit er gekommen war: die des Zwölfjährigen, der seine Mutter im Krankenhaus besuchte, in dem sie seit einigen Tagen lag und aus dem sie in wenigen Tagen entlassen werden würde, wegen einer - wie sie es dezent ausdrückte - Frauengeschichte. Die Ärzte hatten es ihm damals erklärt. Ihr Bewußtsein war in einer temporären Schleife gefangen, die drei oder vier Tage zurückreichte und dann immer wieder aufs neue begann. Sie konnte sich nie erinnern, worüber sie bei seinem letzten Besuch gesprochen hatten. Oder wie lange er hier war. Sie konnte sich nicht wirklich erinnern, warum sie hier war, und erst recht nicht, weshalb man sie eingeliefert hatte. Sie hätte all dies gekonnt, aber sie wollte es nicht. Etwas in ihr wollte es nicht. Und keine Macht der Welt, kein ärztliches Können und kein Medikament waren bisher stark genug gewesen, diese Weigerung zu durchbrechen. Manchmal fragte sich Mark, ob sie überhaupt das Recht hatten, es zu tun. Ihr Geist hatte sich in ein winziges Schneckenhaus zurückgezogen, in dem er sicher und behütet war - und mit welchem Recht maßten sie sich eigentlich an, ihn dazu zu zwingen, sich den Schrecken zu stellen, vor denen er geflohen war?

Jetzt jedenfalls versuchte er es nicht mehr. Er spielte seine Rolle perfekt, erzählte von einer Schule, auf der er nie gewesen war, von Klassenkameraden, die es nicht gab, und Lehrern, deren Namen er sich im gleichen Moment ausdachte, in dem er sie nannte. Er erzählte von einem Zuhause, das längst nicht mehr existierte, und von einer Familie, die es vielleicht nie gegeben hatte. Schließlich begann seine Mutter unruhig zu werden. Auch das gehörte zu ihrer Krankheit. Sie konnte sich kaum länger als zehn oder fünfzehn Minuten auf eine bestimmte Tätigkeit oder ein Gespräch konzentrieren, und er wollte sich selbst den Moment ersparen, in dem sie begann, ihre Fragen vom Beginn des Gespräches zu wiederholen. Er umarmte sie noch einmal zum Abschied, dann drehte er sich mit einem Ruck herum, stürmte regelrecht aus dem Zimmer und die ersten Schritte den Flur hinunter. Erst auf halbem Wege zum Aufzug wurde er wieder langsamer, und auch sein Atem beruhigte sich.

Er blieb einen Moment stehen, um sich vollends zu beruhigen, ging aber dann doch schnell weiter und steuerte den Aufzug an. In wenigen Augenblicken schon würde die Schwester oder auch einer der Pfleger kommen, um seine Mutter abzuholen, und er wollte ihr nicht noch einmal begegnen: Nicht jetzt. Er hätte es nicht ertragen, wenn sie ihn voller Überraschung begrüßt und in die Arme geschlossen hätte, als wäre er seit Tagen nicht mehr hiergewesen. Mark gestand sich jetzt ein, daß es ein Fehler gewesen war, überhaupt herzukommen.

Der Aufzug ließ auf sich warten. Das kleine Licht neben der Tür blieb eine ganze Weile auf Rot, was bedeutete, daß die Kabine irgendwo unter oder über ihm stillstand, und er war schon fast so weit, aufzugeben und die Treppe nehmen zu wollen, als die Farbe endlich von Rot zu Grün wechselte und er hören konnte, wie eine Etage unter ihm die Lifttüren zuglitten. Einen Moment später setzte sich die Kabine in Bewegung. Mark trat ganz automatisch einen Schritt zurück, als sie wieder anhielt und die Türhälften sich vor ihm teilten, aber der Lift war leer, niemand trat heraus, dem er hätte Platz machen müssen. Mit einem schnellen Schritt trat er in den Lift hinein, sah hoch - und hätte um ein Haar laut aufgeschrien.

Er war da.

Die Aufzugkabine bestand ganz aus mattiertem Chrom, auf dem sich seine eigene Gestalt als verzerrter Schemen widerspiegelte - aber er war nicht allein. Hinter seinem Spiegelbild war ein zweites, ein wehender, weißer Schatten ohne Gesicht, der lautlos näher kam.

Er war da.

Der Engel aus seinem Traum.

Er hatte die Grenzen zur Wirklichkeit durchbrochen und war jetzt hier, um ihn zu holen.

Mark fuhr mit einer entsetzten Bewegung herum.

Er war tatsächlich nicht mehr allein, doch hinter ihm stand keine Schimäre, sondern die Schwester vom Empfang. Sie mußte gelaufen sein, um den Aufzug noch zu erwischen, denn sie war ein bißchen außer Atem, und irgendwie wirkte sie auch erschrocken, ihn zu sehen. Vielleicht nicht einmal ihn. Vielleicht war da etwas in seinem Gesicht, das sie erschreckte. Mark hatte den Schrei, der aus seiner Kehle entweichen wollte, gerade noch unterdrücken können, aber sein Herz raste jetzt wie wild, und er war nicht sicher, ob er sein Gesicht weit genug unter Kontrolle hatte, um das Entsetzen zu verbergen, das ihn gepackt hatte.

Sonderbarerweise erleichterte es ihn im ersten Augenblick überhaupt nicht, statt eines zum Leben erwachten Alptraums die junge Krankenschwester zu sehen. Ganz im Gegenteil hämmerte sein Herz plötzlich noch wilder, und seine Hände begannen so heftig zu zittern, daß er sie zu Fäusten ballte, um sie überhaupt ruhig halten zu können.

Schwester Beate blickte ihn einen Moment lang irritiert an, dann drehte sie sich mit einer hastigen Bewegung um und drückte einen Knopf auf der Schalttafel neben der Tür. Der Lift setzte sich in Bewegung.

Marks Gedanken rasten. Was geschah mit ihm? Was um alles in der Welt geschah mit ihm?!

Vielleicht hatte er ein Geräusch gemacht, vielleicht spürte sie seine Nervosität aber auch einfach, denn plötzlich drehte sich Schwester Beate herum und sah erneut und auf die gleiche erschrockene Art irritiert zu ihm hoch. Mark fiel erst jetzt auf, wie klein sie war, und wie zerbrechlich - allerhöchstens ein Meter sechzig und so schlank, daß sie ohne die weiße Schwesterntracht und das dazugehörige Häubchen wie ein Kind ausgesehen hätte.

»Na - immer noch sauer?« fragte er. Seine Stimme zitterte so sehr, daß aus dem beabsichtigten lockeren Tonfall eher das Gegenteil wurde.

»Sauer? Warum sollte ich das sein?«

»Wegen vorhin.« Mark machte eine erklärende Geste zur Tür. »Es tut mir leid. Ich war vielleicht ein bißchen grob zu Ihnen.«

»Das macht nichts«, antwortete sie; zu schnell und mit zuviel Nachdruck, um ihn zu überzeugen.

»Ich möchte mich entschuldigen. Ich war einfach...« Er suchte nach Worten und rettete sich schließlich in ein Achselzucken. Nichts von dem, was er bisher gesagt hatte, klang irgendwie überzeugend. Offenbar war er schon wieder dabei, es noch schlimmer zu machen. Vielleicht sollte man an Tagen, die damit anfingen, daß man von einem Gespenst gejagt wurde, besser mit überhaupt niemandem reden.

»Ist schon gut«, sagte Beate. Sie sah ihn weiter ernst, aber jetzt auch beinahe ein wenig mitfühlend an. »Es muß sehr schlimm gewesen sein.«

»Was?« fragte Mark.

»Ihre Mutter«, erklärte sie. »Es scheint Sie sehr mitgenommen zu haben, sie so zu sehen.«

Obwohl das nicht der Grund für seine Blässe und das Zittern seiner Hände war, verspürte Mark doch ein heftiges Gefühl von Dankbarkeit. Dieses Mädchen war vielleicht keine gute Menschenkennerin, aber offenbar ein sehr mitfühlendes Wesen, und im Augenblick konnte er jedes bißchen Mitleid gut gebrauchen.

»Es ging«, sagte er ausweichend. »Es war schon schlimmer. Aber heute...«

Der Lift hielt an, und Mark wartete, bis sie die Kabine verlassen hatten, ehe er fortfuhr: »Mein grober Ton tut mir wirklich leid. Kann ich irgend etwas tun, um es wiedergutzumachen?«

Beates Antwort überraschte ihn. Sie blieb stehen und sah ihm eine Sekunde lang ernst in die Augen, dann lächelte sie plötzlich und nickte. »Ich habe in zehn Minuten Pause. Sie könnten mich in die Cafeteria begleiten und mich zum Frühstück einladen.«

Das überraschte ihn noch mehr. Es war nur eine rhetorische Frage gewesen, auf die er natürlich eine ebenso rhetorische Antwort erwartet hatte. Aber warum eigentlich nicht? Er brauchte jetzt einen Menschen, mit dem er reden konnte; vielleicht nicht einmal über seine Probleme, sondern einfach so, nur jemanden, der da war und zuhörte, und vielleicht war ein Fremder dazu besser geeignet als jeder andere.

»Gern«, sagte er. »Ich sage nur noch dem Taxifahrer Bescheid, daß es noch einen Moment dauert. Gehen Sie ruhig schon vor. Ich kenne den Weg zur Cafeteria.«

Schnell, ehe sie vielleicht ihren eigenen Mut bedauern und es sich anders überlegen konnte, durchquerte er die Halle und verließ das Gebäude. Er mußte einen Moment nach dem Taxi suchen - der Fahrer hatte den Wagen gewendet und am Ende der Einfahrt geparkt, und als er Mark im Rückspiegel mit weit ausgreifenden Schritten heraneilen sah, faltete er seine Zeitung zusammen und ließ den Motor an. Er war nicht besonders begeistert, als Mark ihm erklärte, daß er sich noch weiter in Geduld fassen müsse. Die Anzeige auf dem Taxameter hatte die fünfzig Mark, die Mark ihm gegeben hatte, bereits weit überschritten, aber seine Barschaft war so gut wie aufgebraucht. Er wollte schließlich nicht in die Verlegenheit geraten, die Schwester darum bitten zu müssen, das Frühstück zu bezahlen, zu dem er sie eingeladen hatte - und womöglich sein eigenes dazu. Also erklärte er dem Fahrer so selbstbewußt, wie er konnte, daß es noch eine Viertelstunde dauerte, und hoffte, daß die Adresse, die er ihm beim Antritt ihrer Fahrt genannt hatte, dessen Zweifel zerstreuen würde. Ganz gelang es ihm offensichtlich nicht, aber Mark gab ihm gar keine Chance, irgendwelche Einwände zu erheben, sondern drehte sich auf dem Absatz herum und ging wieder zurück zum Haus.

Dabei blieb sein Blick für einen Moment an einem Wagen hängen, der draußen auf der Straße geparkt war. Es war ein ganz normaler, durchschnittlicher Wagen; ein weißer Kombi, dessen Typ er nicht genau erkennen konnte - möglicherweise ein Japaner, vermutete er -, aber irgend etwas daran irritierte ihn. Genauer gesagt: darin. Er konnte die Gesichter hinter der Windschutzscheibe nicht erkennen, dazu war der Wagen zu weit entfernt, aber er sah sie als helle ovale Flecken, und das bedeutete, daß sie in seine Richtung blickten.

Beobachteten sie ihn?

Unsinn. Wer immer diese Männer waren - wenn es Männer waren -, sie saßen bestimmt nicht dort drüben im Wagen und observierten ihn. Er fing wohl allmählich wirklich an, Gespenster zu sehen. Mark schritt schneller aus, öffnete die Tür und schlüpfte so rasch hindurch, wie er konnte.

Die Cafeteria befand sich in einem Anbau auf der rückwärtigen Seite des Gebäudes, der fast vollkommen aus Glas und Chrom bestand. Mark war schon oft hiergewesen, aber noch nie so früh, und deshalb bot sie im ersten Augenblick einen ungewohnten, fast fremden Anblick. Er kannte diesen Raum voller Menschen - Patienten und Ärzte, Besucher und Schwestern, manchmal so viele, daß ›Die Reise nach Jerusalem‹ zu einem beliebten und manchmal ziemlich verbissen geführten Spiel zu werden schien, aber jetzt war es dort fast leer. Außer Schwester Beate befanden sich nur noch zwei stämmige Krankenpfleger in dem großen, hellen Raum. Mark kannte einen von ihnen. Er nickte ihm flüchtig zu und ging dann zu dem Tisch am Fenster, an dem Beate Platz genommen hatte. Sie hatte sich bereits einen Kaffee besorgt und studierte scheinbar interessiert die Karte, was Mark ein wenig wunderte. Er kam nicht oft hierher, doch selbst er kannte die Speisekarte bereits auswendig. Sie wechselte nie; von den Preisen vielleicht einmal abgesehen.

»Schon was gefunden?« fragte er, während er Platz nahm.

Sie ließ die in Plastik eingeschweißte Karte mit einer fast erschrockenen Bewegung sinken und schüttelte den Kopf. »Ich glaube, ich lasse es bei einem Kaffee«, sagte sie. »Mir ist gerade aufgefallen, daß ich gar keinen richtigen Appetit habe.«

Natürlich stimmte das nicht. Viel wahrscheinlicher war ihr aufgefallen, daß ihre impulsive Antwort auf Marks vielleicht nicht ganz ernst gemeinte Frage leicht als aufdringlich mißverstanden werden konnte, und sie versuchte jetzt, das Beste aus der Situation zu machen. Er könnte sie direkt darauf ansprechen, überlegte Mark, und sie damit ein bißchen in Verlegenheit bringen. Darin hatte er ja mittlerweile Übung.

Statt dessen griff er mit einer bewußt forschen Bewegung nach der Karte, überflog sie rasch und sagte: »Die Rühreier kann ich empfehlen. Sie sind wirklich gut.«

»Ich weiß«, antwortete sie. »Ich lebe seit drei Monaten praktisch davon. In den ersten vier Wochen haben sie sogar geschmeckt.«

»Und in den anderen?«

»Auch. Aber mittlerweile kommen sie mir zu den Ohren wieder raus. Lassen wir es bei dem Kaffee.« Und dabei, mich nicht noch weiter in Verlegenheit zu bringen, okay?

Mark zuckte mit den Schultern und bestellte für sich eine heiße Schokolade, und er gewann einen weiteren Moment, indem er scheinbar interessiert aus dem Fenster sah und den parkähnlichen Innenhof des Gebäudetrakts musterte. Wie die Cafeteria bot auch er einen ungewöhnlich verwaisten Anblick. Irgendwie schien heute alles anders zu sein, als er in Erinnerung hatte, nur weil er früher gekommen war. Es war erstaunlich, welchen Unterschied einige wenige Stunden machten. Offenbar gab es verschiedene Welten, die nebeneinander und am gleichen Ort existierten, nur durch die Tageszeiten getrennt.

»Ich möchte mich noch einmal in aller Form entschuldigen«, sagte er schließlich. »Mein Benehmen von vorhin -«

»War völlig in Ordnung«, unterbrach ihn Beate. »Ich bin es, die sich entschuldigen müßte. Für heute morgen, und für gerade.«

»Gerade?«

»Ich war, glaube ich, ein bißchen... aufdringlich«, sagte sie verlegen. »Aber irgendwie haben Sie mich überrumpelt. Ich hatte das Gefühl, etwas sagen zu müssen, und das mit der Einladung zum Frühstück war das erste, was mir einfiel. Ziemlich dumm, furchte ich.«

» ›Macht nichts‹ wäre auch nicht viel origineller gewesen«, antwortete Mark. »Außerdem ist es schon okay. Ich... bin ganz froh, mich ein bißchen unterhalten zu können.«

»Ich habe Sie nicht gleich erkannt«, fuhr Beate unbeeindruckt fort. »Wissen Sie, als ich Ihren Namen hörte, war ich einfach überrascht. Ich meine... wir alle kennen Ihre Mutter, und ich habe eine Menge von Ihnen gehört. Sie erzählt viel von Ihnen. Aber ich hatte Sie mir... nun ja - anders vorgestellt.«

»Anders?«

»Jünger«, gestand Beate, die immer mehr in Verlegenheit zu geraten schien, obwohl Mark nicht hätte sagen können, warum.

Er nickte. »Ich verstehe. Sie erzählt von ihrem zwölfjährigen Sohn, der vor einem Jahr aufs Gymnasium gekommen ist und Schwierigkeiten mit Latein und Algebra hat.«

»Ja«, gestand Beate. »Es tut mir leid. Ich habe einfach nicht richtig geschaltet. Natürlich hätte ich wissen müssen, wer Sie sind, aber als Sie plötzlich vor mir standen und behaupteten, ihr Sohn zu sein, da habe ich es einfach nicht kapiert.«

»Wahrscheinlich wäre es mir genauso gegangen«, sagte Mark, ganz impulsiv und nur aus dem Bedürfnis heraus, sie irgendwie zu trösten. »Es muß ziemlich verwirrend sein, einen Zwölfjährigen zu erwarten und mich dann zu sehen. Enttäuscht?«

Sie blinzelte verwirrt. »Wie?«

»Schon gut.« Mark lächelte und machte eine entsprechende Handbewegung. »Schwamm drüber. Einigen wir uns darauf, daß wir beide einen Fehler gemacht haben und quitt sind, okay?«

Ihr Lächeln wirkte immer noch ein bißchen schüchtern, und in ihren Augen zeichnete sich jetzt fast so etwas wie Angst ab. Wovor? Er vermochte nicht einmal zu erraten, was es war, aber er spürte plötzlich mit beinahe schon körperlicher Intensität, daß das Mädchen sich vor etwas fürchtete; als hätte sie einen Fehler begangen, der viel schlimmer war als der, den sie zugab, und weitreichende Konsequenzen haben mochte. Doch er sah in ihren Augen auch noch mehr. Da war etwas... Irritierendes. Ein Interesse, fast etwas Forderndes, das er sich noch viel weniger erklären konnte, aber das eindeutig da war.

»Sie kennen meine Mutter also?« fragte er, nur um überhaupt etwas zu sagen. Ihre Art, ihn anzusehen, verunsicherte ihn immer mehr.

»Sicher. Wir kennen sie alle. Und jeder hier hat sie sehr gern. Sie ist eine außergewöhnliche Frau.«

Das war sie einmal, dachte Mark. Heute ist sie nur noch ... Er gestattete sich nicht, den Gedanken zu Ende zu formulieren, sondern sagte laut: »Ja, das ist sie wohl.«

Die falschen Worte, und die falsche Betonung. Etwas in Beates Blick erlosch und machte dem Mitgefühl von vorhin Platz. Nur daß es nicht mehr das gleiche Mitgefühl war. Jetzt war es etwas, was ihn in Verlegenheit brachte.

»Es muß schlimm für Sie sein, sie so zu sehen«, sagte sie.

»Schlimm? Wie kommen Sie darauf?« Mark nippte an seinem Getränk und starrte an ihr vorbei ins Leere.

»Sie sehen ziemlich mitgenommen aus«, antwortete sie offen.

»Das bin ich auch«, sagte Mark. »Aber es hat... andere Gründe.« Und für einen winzigen Moment war er nahe daran, ihr alles zu erzählen - die Geschichte der letzten Jahre, die die Hölle gewesen waren, die der vergangenen Nacht und vor allem seines Traumes, in dem sich diese Jahre zu einer gräßlichen Vision akkumuliert hatten, die ihn bis jetzt nicht ganz losgelassen hatte, und die dessen, was noch vor ihm lag. Auch das war ein Gedanke, dem er bisher erfolgreich ausgewichen war, aber in spätestens einer halben Stunde würde er sich dem bisher größten Hindernis auf seinem Weg in die Freiheit stellen müssen: seinem Vater. Und vielleicht - wahrscheinlich sogar - hätte er ihr sogar alles erzählt, denn plötzlich sehnte er sich nach nichts mehr als nach einem Menschen, der einfach nur zuhörte, hätte Beate in diesem Moment nicht etwas getan, worauf er vollends unvorbereitet war: Sie streckte die Hand aus und berührte seine Finger, und es war eine sehr warme, vertraute Berührung, in der etwas von dem war, was er auch in ihrem Blick gelesen hatte.

Er fuhr zusammen, und im gleichen Augenblick zog Beate erschrocken die Hand zurück. Sie sah ein bißchen betroffen aus, und auf die gleiche Art schuldbewußt wie gerade, so daß er nun hastig nach ihren Fingern griff und sie festhielt. Allerdings nur für einen Moment, denn plötzlich wurde ihm bewußt, daß die beiden Pfleger, die an einem Tisch am anderen Ende des Raumes saßen, schon seit einer geraumen Weile zu ihnen herüberblickten. Zum einen war ihm das peinlich, zum anderen wußte er, daß es hier sehr strenge - und sicher berechtigte - Vorschriften gab, was das Verhältnis des Personals zu den Patienten und deren Anverwandten anging. Das St.-Eleonor-Stift war eine der teuersten Privatkliniken der Stadt, wenn nicht des Landes. Niemand, der hierherkam und einen Verwandten besuchte, lebte von der Sozialhilfe, und der Institutsleitung war sicher bewußt, wie groß die Verlockung für eine junge Schwester oder einen gutaussehenden Pfleger sein mochte, sich einen Millionärssohn oder eine reiche Erbin zu angeln, und für einen ganz kurzen Moment kam ihm ein ketzerischer Gedanke: nämlich der, ob nicht ganz genau das der Grund war, weswegen Schwester Beate sich plötzlich so sehr für ihn interessierte.

Sofort wurde ihm klar, daß dieser Verdacht nicht nur absurd, sondern auch boshaft und ungerecht war. Sie hätte schon verdammt schnell schalten und außerdem ein ziemlich berechnendes Biest sein müssen, um so schnell zu reagieren. Und irgend etwas sagte ihm, daß keines von beidem zutraf. Die Wahrheit war sehr viel simpler. Sie hatte einfach gesehen, in welchem Zustand er sich befand, und wollte ihn irgendwie trösten. Einfach nett zu ihm sein.

Mark hatte mit einem Mal das völlig aberwitzige Gefühl, daß sie seine Gedanken erraten haben mußte - und ein daraus resultierendes sehr schlechtes Gewissen. Er hatte heute wirklich ein einmaliges Talent, jedem, der den Fehler beging, freundlich zu ihm sein zu wollen, einen Tritt zu verpassen.

»Wie alt sind Sie eigentlich?« fragte er, um seine Verlegenheit zu überspielen, aber auch aus wirklichem Interesse.

»Siebzehn - warum?«

Mark lachte. »Dann bin ich gerade mal ein Jahr älter. Warum lassen wir also das blöde Sie nicht? Ich heiße Mark.«

Wer baggerte jetzt eigentlich wen an? Zumindest war es ihm schon wieder gelungen, sie in Verlegenheit zu bringen. Möglicherweise hatte er mehr in ihren Blick und ihre vertraute Geste hineingedeutet, als darin war.

»Na ja - warum nicht?« sagte sie unsicher. »Eigentlich nennt mich sowieso jeder Schwester Beate. Kein Problem, das Schwester wegzulassen.«

»Du bist also seit drei Monaten hier?« fragte Mark.

Sie nickte verblüfft. »Stimmt. Aber woher - ?«

»Die Rühreier«, erinnerte Mark. »Ich bin ein aufmerksamer Zuhörer.«

»Das scheint mir auch so. Ganz im Gegensatz zu mir, fürchte ich. Sie sind - du bist - wirklich erst achtzehn?«

»Und auch das erst seit heute«, bestätigte Mark. Beates Überraschung wunderte ihn kein bißchen. Er sah sehr viel älter aus, als er war, was zum Teil an seiner Größe lag, zum weitaus größeren Teil aber an der Bitterkeit, die sich im Laufe der letzten Jahre tief in sein Gesicht eingegraben hatte. Und manchmal hatte er das Gefühl, nicht nur wie fünfundzwanzig auszusehen, sondern es auch schon seit mindestens zehn Jahren zu sein.

Er konnte sich kaum erinnern, jemals wirklich ein Kind gewesen zu sein. Sein Vater hatte ihm weit mehr angetan, als ihm sein Elternhaus und die Liebe seiner Mutter vorzuenthalten. Er hatte ihm seine Jugend gestohlen. Er war nicht erst heute morgen erwachsen geworden, sondern an dem Tag, an dem er ins Internat gekommen war, und das auf eine Art, die sehr bitter gewesen war.

»Heute?«

Er nickte. »Ich habe heute Geburtstag. Seit heute bin ich achtzehn. Ein richtiger, vollwertiger Mensch.«

»Na, dann herzlichen Glückwunsch!«

Mark schnaubte. »Da gibt es nicht viel zu beglückwünschen, fürchte ich«, sagte er. »Ich habe schon angenehmere Tage erlebt.«

»Wieso?«

Die Frage brachte ihn in Verlegenheit. »Ich schätze, ich habe ...ziemlichen Mist gebaut«, gestand er. »Ich war wohl...« Was? Ein bißchen vorschnell? Ein klitzekleines bißchen dumm? Er hob die Schultern und schloß nach einer hörbaren Pause: »Ich habe einen Fehler gemacht.«

»Aber Sie wollen nicht darüber reden.«

»Du«, korrigierte er sie. »Nein, das stimmt nicht. Nur jetzt nicht. Noch nicht.« Dabei stimmte das gar nicht. Wenn überhaupt etwas, dann hatte ihm dieses Gespräch mit Beate eines klargemacht: Er war hierhergekommen, um zu reden. Vielleicht nicht einmal mit seiner Mutter. Aber er hatte das, was er ihr gesagt hatte, einfach irgend jemandem erzählen müssen - bevor er es seinem Vater sagte.

»Vielleicht später«, fügte Mark mit einem Räuspern hinzu. Er sah auf und begegnete einem Lächeln, das vielleicht zum ersten Mal an diesem Morgen wirklich echt wirkte, auf jeden Fall nicht verkrampft. Er löschte es aus, indem er noch einmal den Kopf schüttelte und leise sagte: »Entschuldige. Ich... wollte nicht unhöflich sein. Es ist nur...«

»Schon gut. Das alles geht mich ja wirklich nichts an.«

»Das ist es nicht«, sagte er hastig. »Ich bin einfach nur durcheinander, das ist alles. Und anscheinend habe ich heute ein ganz besonderes Talent, jedem auf die Zehen zu treten, der freundlich zu mir sein will.«

Beate blickte ihn noch einen Moment lang sehr nachdenklich an, dann rettete sie sich in ein ausdrucksloses Lächeln und sah auf die Uhr. »Meine Pause ist vorbei«, sagte sie. »Ich muß zurück, bevor ich Ärger bekomme.«

»Selbstverständlich.« Mark stand auf, zahlte ihre Getränke und rannte fast, um vor Beate an der Tür zu sein und sie ihr aufzuhalten. Er benahm sich ziemlich linkisch, das bewiesen nicht nur der spöttische Gesichtsausdruck der beiden Krankenpfleger, die Beate und ihn jetzt ganz unverblümt anstarrten, sondern auch Beates irritierte Blicke - immerhin stolperte er beinahe über seine eigenen Füße, nur um vor ihr bei einer Tür zu sein, die er nun weiß Gott nicht aufhalten mußte. Anders als das große Portal draußen trug sie den speziellen Bedürfnissen der Bewohner dieses Gebäudes Rechnung und war so leichtgängig, daß selbst ein Kleinkind keine Mühe gehabt hätte, sie zu öffnen.

»Weißt du«, sagte er, während sie den Garten durchquerten und wieder das Hauptgebäude ansteuerten, »eigentlich hast du recht.«

»Womit?« fragte Beate.

Mark seufzte und machte eine flatternde, ausholende Geste. »Es ist ein Scheißtag, wenn man bedenkt, daß ich heute achtzehn werde. Eigentlich sollte man einen solchen Tag anders begehen.«

»Nicht mit einem Besuch im Krankenhaus, meinst du?«

»Zum Beispiel. Man sollte ihn feiern.«

»Und warum tust du es nicht?«

Er lächelte bitter. »Vielleicht, weil ich wenig Grund dazu habe. Und außerdem wüßte ich niemanden, der mit mir feiert.« Er blieb mitten im Schritt stehen und sah Beate mit gespielter Überraschung an. »He - warum feiern wir ihn nicht gemeinsam? Ich könnte dich abholen, wenn deine Schicht vorbei ist, und wir machen einen drauf.«

Einen Moment lang war er davon überzeugt, den Bogen überspannt zu haben. So ganz nebenbei - seine eigenen Worte überraschten ihn jetzt wirklich, denn er hatte eigentlich nur irgend etwas sagen wollen, um den peinlichen Moment zu überspielen. Beate wirkte fast erschrocken. Dann schüttelte sie den Kopf und sagte: »Ich ... glaube nicht, daß das eine gute Idee ist.«

»Ich verstehe«, seufzte er. »Du hältst mich für aufdringlich. Oder hast einen festen Freund.«

»Nein«, antwortete sie. »Keinen Freund. Aber ich... es geht nicht.«

»Warum?«

»Ich wohne hier«, sagte Beate. »Ich habe nur ein kleines Zimmer, zwar für mich allein, aber die Anstaltsleitung sieht es nicht gerne, wenn -«

»Schon kapiert«, unterbrach sie Mark. »Dann hole ich dich nicht ab. Wir können uns unten an der Kreuzung treffen, und wir gehen irgendwohin und trinken ein Bier. Oder essen etwas - keine Rühreier, Ehrenwort.«

»Bestimmt nicht?«

»Ganz bestimmt nicht«, versprach er lachend. »Und keine Angst - wenn du meinetwegen Ärger bekommst, sage ich meinem Vater Bescheid, und er kauft den Laden und schmeißt jeden raus, der dich auch nur schief ansieht.«

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