31. Kapitel

Schließlich hatten sie doch noch einen Unfall gehabt. Es war eine Kleinigkeit, nicht mehr als ein paar Kratzer an Sillmanns schwerem Mercedes und ein eingedrückter Kotflügel an dem Golf, den sie gerammt hatten, und es war wohl eine der kleinen Ironien des Schicksals, daß es nicht einmal Sillmanns Schuld gewesen war; nach einem Dutzend Ampeln und Haltegeboten, die sie überfahren hatten, hatte ihnen schließlich der andere die Vorfahrt genommen. Sillmann hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, auszusteigen - er hatte zurückgesetzt die Scheibe heruntergelassen und dem noch völlig benommenen Fahrer des anderen Wagens einen Tausendmarkschein in die Hand gedrückt, um weiterzubrausen, ehe dieser überhaupt begriff, wie ihm geschah.

»Halten Sie das für klug?« fragte Petri.

»Was?« Sillmann fingerte schon wieder am Autoradio herum und sah zwischendurch unentwegt nervös in den Rückspiegel. »Soll ich anhalten und warten, bis die Polizei kommt?«

»Es war seine Schuld«, sagte Petri. »Ganz eindeutig.«

»Und? Heute ist sein Glückstag. Wenigstens einer.«

»Ja - und mit ein bißchen Pech denkt er jetzt, Sie wären betrunken oder der Wagen gestohlen oder sonst irgend etwas nicht in Ordnung, und ruft erst recht die Polizei.«

Sillmann sah ihn kopfschüttelnd an. »Ihre Sorgen möchte ich haben, Doktor.«

Das glaube ich kaum, dachte Petri. Oder vielleicht doch. Er wußte nicht wirklich, was in Sillmann vorging, aber immerhin kannte er ihn gut genug, um zu wissen, daß er nicht annähernd so hart war, wie er sich gerne gab. Er hatte diese Rolle so lange gespielt, daß er wohl irgendwann einmal begonnen hatte, selbst daran zu glauben. Aber es war nicht die Wahrheit.

»Ich dachte nur daran, daß Sie gerade noch so großen Wert darauf gelegt haben, möglichst schnell anzukommen«, sagte er. »Wenn jeder Streifenwagen in der Stadt unsere Nummer kennt und danach Ausschau hält -«

»- ändert das auch nichts mehr«, fiel ihm Sillmann ins Wort. »Wir sind gleich da.« Er sah wieder in den Rückspiegel, schaltete das Radio aus, wieder ein und gleich darauf wieder aus und hielt zum ersten Mal seit Beginn der Fahrt an einer Kreuzung an, um eine Lücke im Verkehr abzupassen. Er hatte recht - sie hatten die Fabrik beinahe erreicht. Sie lag...

Ganz in der Nähe, dachte Petri nervös. Was war mit seinem Gedächtnis los? Er war diesen Weg unzählige Male gefahren, und doch hatte er Mühe, sich daran zu erinnern. Sie waren nicht mehr weit entfernt, aber er konnte einfach nicht sagen, ob sie nun an der nächsten, der darauffolgenden oder erst der fünften oder sechsten Kreuzung abbiegen mußten.

Es war die nächste Abzweigung. Der Mercedes verließ die Hauptstraße und rollte eine von Pappeln gesäumte Zufahrt hinauf, die besser zu einem Gutshof oder einer großen Gärtnerei gepaßt hätte als zu einer pharmazeutischen Fabrik. Vor mehr als einem Menschenalter war es auch tatsächlich einmal ein großes Landgut gewesen, und Sillmann hatte stets Wert darauf gelegt, diesen äußeren Schein zu wahren. Hinter dem schmiedeeisernen Zaun, der das gesamte Areal umgab, erhoben sich noch immer die sorgsam restaurierten Originalgebäude aus dem vergangenen Jahrhundert. Die drei zusätzlichen Fabrikationshallen, die Sillmann hatte errichten lassen, duckten sich so geschickt hinter der ehemaligen Scheune und dem dreistöckigen Wohnhaus, das nun die Verwaltung und den Labortrakt beherbergte, daß sie von der Straße aus vollkommen unsichtbar blieben. Ein dichtstehender Ring aus fünfzehn Meter hohen Bäumen unmittelbar hinter dem Zaun schützte das Gelände zusätzlich vor neugierigen Blicken, und Petri wußte auch, daß es noch eine dritte, unsichtbare elektronische Barriere gab, die es so gut wie unmöglich machte, die Fabrik unbemerkt zu betreten. Früher einmal hatte er sich über diesen - seiner Meinung nach übertriebenen - Sicherheitstick Sillmanns lustig gemacht, aber die Zeit hatte Sillmann recht gegeben. Es war seit einigen Jahren nicht mehr in, sein Geld mit Chemie zu verdienen. Nicht einmal mit pharmazeutischer Chemie.

Aber eigentlich wußte er nicht einmal genau, was Sillmann hier produzierte. Er hatte es einmal gewußt, aber aus irgendeinem Grund hatte er es vergessen.

Die Erkenntnis ließ die schwelende Panik in ihm für einen Moment nun doch zu heißer Glut aufflackern. Es war völlig absurd: Er war Arzt, er hatte zahllosen Patienten genau die Medikamente verschrieben, die in dieser Fabrik hergestellt wurden - und er konnte sich nicht mehr erinnern, welche es waren.

Sillmann bremste den Wagen unnötig hart ab, als sie das Tor erreichten. In der Pförtnerloge neben dem geschlossenen Stahlgitter bewegte sich ein Schatten, und einen Moment später flammte über ihnen ein Scheinwerfer auf, der einen kreisförmigen Bereich unmittelbar vor dem Tor in weiße Helligkeit tauchte. Petri schloß geblendet für eine Sekunde die Augen.

Ein metallisches Summen und Rumpeln erklang, als das Tor gerade so weit auffuhr, um den Pförtner hindurchzulassen. Sillmann senkte die Fensterscheibe auf seiner Seite und wedelte ungeduldig mit der linken Hand. »Machen Sie auf, Bruno«, sagte er. »Wir haben es eilig!«

Der Pförtner, der die dünkelblaue Phantasieuniform einer Wach- und Schließgesellschaft trug und ganz so aussah, als hätten sie ihn grob aus seiner ersten Tiefschlafphase geweckt, kam näher und hob zusätzlich eine Taschenlampe, um in den Wagen zu leuchten.

»Herr... Sillmann?« fragte er verblüfft. Er klang verschlafen. Selbst die Überraschung in seiner Stimme war in Wahrheit wohl eher Erschrecken.

»Verflucht, nehmen Sie diese Scheiß-Lampe herunter«, schnappte Sillmann. »Was ist los? Haben Sie Ihr Hörgerät nicht dabei, oder habe ich Sie geweckt? Wenn ja, tut es mir leid.«

Die Lampe erlosch abrupt, und Petri konnte hören, wie sich der Pförtner nervös auf der Stelle bewegte. »Natürlich nicht«, versicherte er hastig. »Ich war nur... Entschuldigen Sie, Herr Sillmann. Niemand hat mir gesagt, daß Sie kommen, und...«

»Jaja, schon gut.« Sillmann gab sich hörbar Mühe, ruhig zu bleiben, wedelte aber zugleich ungeduldig mit der Hand. »Das hat schon seine Ordnung. Machen Sie das Tor auf, und sagen Sie niemandem, daß wir hier sind, verstanden?«

»Oh«, antwortete Bruno. »Ich verstehe. Eine kleine Überraschungsinspektion, wie?«

»Genau«, antwortete Sillmann. »Aber sie gilt nicht Omen, keine Sorge. Ist noch jemand im Labor?«

»Nein. Doktor Strecker war bis vor einer halben Stunde hier, aber er ist gefahren. Die Nachtschicht ist komplett angetreten.«

»Gut«, sagte Sillmann. »Sie sagen zu niemandem ein Sterbenswörtchen, verstanden? Und hoch etwas - lassen Sie das Tor auf. Ich erwarte noch jemanden.«

»Selbstverständlich«, antwortete der Pförtner eifrig. »Darf ich fragen, wen? Nur, damit...«

»Nein, dürfen Sie nicht«, unterbrach ihn Sillmann. »Lassen Sie ihn einfach durch, okay? Meinetwegen machen Sie einen Spaziergang, oder drehen Sie Ihre Runde - oder tun Sie, was Sie um diese Zeit immer tun, und legen sich hin und schlafen. Und jetzt machen Sie endlich dieses verdammte Tor auf, oder muß ich es selbst tun?«

Während der Pförtner hastig zu seinem verglasten Häuschen zurückeilte, um Sillmanns Befehl nachzukommen, fragte sich Petri nach dem Grund für Sillmanns Benehmen. Reagierte er nun wie ein Mann, der am Rande der Panik entlangbalancierte und sich kaum noch in der Gewalt hatte, oder wie jemand, dem es vollkommen gleich war, welchen Eindruck sein Benehmen hinterließ - weil er wußte, daß es keine Rolle mehr spielte? Vielleicht war er nicht der einzige, der nur eine schwarze Ebene vor sich sah, wenn er an morgen dachte.

Das Tor setzte sich rasselnd in Bewegung, und Sillmann fuhr weiter, noch ehe es sich ganz geöffnet hatte. Der rechte Kotflügel des Mercedes schrammte mit einem in den Ohren schmerzenden Quietschen an einem der Torpfosten entlang, und Petri hörte Glas zerbrechen. Sillmann gab nur noch mehr Gas, jagte den Wagen mit einem regelrechten Satz über den Hof und brachte ihn unmittelbar vor dem Eingang des Hauptgebäudes mit einer Vollbremsung wieder zum Stehen.

»Haben Sie Ihre Tasche?«

Tasche? Welche Tasche? Petri sah Sillmann eine Sekunde lang verständnislos an, ehe er überhaupt begriff, was er meinte. Natürlich. Er war Arzt. Ein Arzt mußte immer seine Tasche bei sich haben. Er hatte sie...

»Auf dem Rücksitz«, sagte Sillmann. »Sie haben sie selbst dorthin gestellt.«

Aus einem Grund, den er selbst nicht wußte, war es ihm unangenehm, sich herumzudrehen und die kleine Arzttasche von der Rückbank zu nehmen. Etwas war mit dieser Bank. Sie ... war verschwunden.

Petri blinzelte. Sein Arztkoffer stand da, genau dort, wo er selbst ihn hingestellt hatte, aber die Rückbank war nicht mehr da. Wo sie sein sollte, war nichts. Nicht etwa Leere. Kein schwarzes Loch, sondern nichts. Er sah die beiden Türen und das abgedunkelte Heckfenster, aber die Bank war verschwunden, als hätte jemand mit einem scharfen Skalpell ein Stück aus dem Universum herausgeschnitten und die Ränder der Wunde zusammengezogen und so kunstvoll vernäht, daß nicht einmal eine Narbe zurückgeblieben war.

Petris Herz machte einen erschrockenen Sprung in seiner Brust. Er schloß die Augen, zählte in Gedanken bis drei, und als er die Lider wieder öffnete, war alles so, wie es sein sollte. Die Bank war da, wo sie die ganze Zeit über gewesen war. Es war eine Halluzination, nicht mehr. Ein böser Streich, den ihm seine überreizten Nerven gespielt hatten. Nicht mehr. Es durfte nicht mehr sein. Beinahe überhastet griff er nach der Tasche und nahm sie an sich.

Sillmann hatte mittlerweile das Handschuhfach geöffnet und griff hinein. Als er sich wieder aufrichtete, hielt er eine kleine, verchromte Pistole in der Hand. Petri starrte die Waffe vollkommen verständnislos an.

»Was... was haben Sie denn damit vor?« fragte er.

»Sie erschießen, wenn Sie weiter dumme Fragen stellen.« Sillmann schob die Pistole in die Manteltasche, öffnete die Tür und stieg aus. Er drehte sich einmal im Kreis, wobei sein Blick aufmerksam über den Hof tastete und auf jedem Schatten und in jedem dunklen Winkel einen winzigen Moment verharrte. In seinem Gesicht arbeitete es. Er hatte die Hand nicht wieder aus der Tasche genommen, mit der er die Waffe eingesteckt hatte. Wozu brauchte er eine Waffe? Sie waren hier, um... um...

Petri preßte stöhnend die Hand vor die Stirn und zwang sein Gedächtnis mit einer bewußten Anstrengung, ihm zu verraten, warum sie hier waren. Es gelang ihm, aber dieser Gedanke blieb nicht einfach da. Er mußte ihn festhalten wie einen zappelnden Fisch, den er gefangen hatte und der immer wieder zwischen seinen Fingern hindurchschlüpfen wollte.

Was geschah mit ihm? Sein Gedächtnis begann zu zerbröckeln. Es war, als stünde er vor einer gigantischen Wand, auf der jede Sekunde seines Lebens aufgemalt war, und jemand hätte damit begonnen, Steine aus dieser Mauer herauszubrechen. Er konnte hören, wie sie stürzten, und er konnte sehen, was hinter dieser Wand war.

Nichts. Nur Dunkelheit.

Загрузка...