17. Kapitel

Sie hatten ihm seine Uhr weggenommen, so daß er nicht sagen konnte, wie lange er schon hier war - was immer Hier auch bedeuten mochte. Er wußte nicht, wo er war, und er erinnerte sich nicht einmal wirklich, wie er hierhergekommen war. Er erinnerte sich vage an ein Zimmer, in dem er aufgewacht war, nachdem die Wirkung der Spritze nachließ, die ihm der Arzt im Krankenwagen gegeben hatte, aber es war nicht dieses Zimmer gewesen. Dieses andere Zimmer hatte Fenster gehabt und eine Klingel, die er betätigen und damit nach der Schwester rufen konnte.

Das Zimmer, in dem er sich jetzt befand, hatte keine Fenster. Und es hatte auch keine Klingel, ebensowenig wie einen Schrank, eine Waschgelegenheit oder wenigstens eine Toilette. Der Raum war sehr klein und enthielt nichts als das breite, aber trotzdem unbequeme Bett, auf dem er lag, und eine wuchtige Tür, der man trotz der neutralen weißen Lackierung ansah, daß sie aus massivem Stahl gemacht war, schwer genug, jedem Tresor Ehre zu machen. Oh ja, und noch etwas: Unmittelbar über dieser Tür war ein glänzendes rundes Glasauge, das ihn beständig anstarrte. Das Objektiv einer Videokamera. Wenn er hier in einem Krankenhaus war, dann in dem sonderbarsten, von dem er jemals gehört hatte.

Aber Hansen glaubte nicht, daß es sich um ein Krankenhaus handelte. Er war mit einem Krankenwagen hergebracht worden - wenigstens vermutete er das -, und die wenigen Menschen, die er bisher zu Gesicht bekommen hatte, trugen ausnahmslos weiße Kleidung und helle Turnschuhe; außerdem hatten sie eine unangenehme Vorliebe für Spritzen, von denen sie ihm schon eine ganze Anzahl verabreicht hatten, ohne daß sich irgend jemand die Mühe machte, ihm etwa zu sagen, was sie ihm da spritzten. Er hatte ein paarmal gefragt, aber keine Antwort bekommen. Eigentlich hatte bisher noch niemand wirklich mit ihm gesprochen - wenn man unter gesprochen nicht verstand, daß nur einer der Gesprächspartner redete und der andere schwieg oder Fragen beantwortete, die er gar nicht gestellt hatte.

In diesem Punkt war er allerdings nicht ganz sicher. Seine Erinnerungen spielten ihm einen Streich - nicht nur, was den Weg hierher anging, sondern auch die Zeit danach. Er hatte das Gefühl, daß es mehrere Stunden gewesen sein mußten, war aber nicht sicher. Vielleicht lag es an den Spritzen, vielleicht an dem, was in der vergangenen Nacht geschehen war - auch daran erinnerte er sich nur unscharf, weniger wie an etwas Selbsterlebtes, das erst ein paar Stunden zurücklag, sondern wie an einen Film, den er vor vielen Jahren einmal gesehen und schon zum Großteil wieder vergessen hatte -, aber seine Gedanken verwirrten sich immer wieder. Dreimal war er allein hochgeschreckt und hatte sich gefragt, wo er überhaupt war, und einmal gar, wer er war. Seine Erinnerungen setzten immer gleich darauf wieder ein, aber vielleicht war das gerade das Schlimme: Er war sich der Tatsache bewußt, daß er Blackouts hatte, und daß sie immer schneller kamen und immer länger dauerten. Was in Gottes Namen geschah mit ihm?

Hansen richtete sich auf dem Bett auf. Die Bewegung verlangte große Kraft von ihm und noch mehr Konzentration. Nicht nur sein Erinnerungsvermögen hatte gelitten, er fühlte sich auch körperlich schlecht - so schwach wie ein Baby und schwindelig. Sein rechter Arm war taub von den vielen Spritzen, die er bekommen hatte, und als er versuchte, sich weiter aufzusetzen und die Beine vom Bett zu schwingen, hätte er es fast nicht geschafft. Um ein Haar wäre er nach vorne gekippt und hätte kaum die Kraft gehabt, sich zu halten.

Er stöhnte leise. In einer kraftlosen Bewegung sank er nach vorn, stützte die Ellbogen auf die Knie und verbarg das Gesicht in beiden Händen. Das Schwindelgefühl zwischen seinen Schläfen war jetzt so schlimm, daß er es nicht wagte, die Augen zu öffnen, aus Angst, daß ihm übel werden konnte.

Wo war er hier? Was hatten sie nur mit ihm getan?

Es war einer seiner lichten Momente, wie ihm mit grausamer Deutlichkeit bewußt wurde. Nicht der erste. Und es war auch nicht das erste Mal, daß er sich genau diese Frage stellte und vielleicht sogar eine Antwort darauf gefunden hatte, aber er hatte sie ebenso vergessen wie die davor und die vor ihr, und die davor.

Plötzlich hatte er Angst. Eine Angst, die in Bruchteilen von Sekunden beinahe zur Panik wurde und ihn hätte aufschreien lassen, hätte er nur die Kraft dafür gehabt. Hansen war kein Feigling; eigentlich hatte er das Gefühl der Angst nur sehr selten kennengelernt und niemals in dieser Ausprägung. Aber natürlich gab es auch in seinem Leben etwas, das er fürchtete, vor dem er mehr Angst hatte als vor allem anderen - wie bei jedem Menschen. Bei Hansen war es die Angst, wahnsinnig zu werden.

Sie war nicht unbegründet. Er selbst hatte niemals an seiner geistigen Gesundheit zweifeln müssen, aber er hatte einen Bruder gehabt - er war vier Jahre älter gewesen als er und im vergangenen Jahr (endlich) gestorben -, der geistig zurückgeblieben war. Hansen war zusammen mit einem Bruder aufgewachsen, der stets größer und sehr viel kräftiger als er gewesen war, für eine Weile älter, für eine kurze Weile ebenso alt wie er und für lange, qualvolle Jahre jünger; ein fünfjähriges Kind im Körper eines Mannes, das niemals richtig gelernt hatte zu denken, sich zu artikulieren und sich zu bewegen, und ein durch und durch böses Kind noch dazu. Hansen hatte notgedrungen viel über geistige Behinderungen gelernt, und ihm war nicht verborgen geblieben, daß die meisten Schwachsinnigen erstaunlich friedfertig waren; wenigstens die, die man frei herumlaufen ließ. Sein Bruder nicht. Er war nicht direkt gefährlich; nicht so, daß es einen Grund gegeben hätte, ihn einzusperren oder unter irgendeine besondere Aufsicht zu stellen, aber er machte Hansen und seiner ganzen Familie das Leben zur Hölle. Die vierundzwanzig Jahre, die er alt geworden war, hatten das Leben seiner Eltern zerstört und das seines jüngeren Bruders zu einer Qual gemacht. Als er schließlich gestorben war, hatte die ganze Familie aufgeatmet - und in Hansen war die tiefverwurzelte, unauslöschliche Angst zurückgeblieben, eines Tages genauso zu werden.

Vielleicht war es mehr als bloße Furcht gewesen. Vielleicht eine Ahnung, vielleicht hatte er instinktiv gespürt, daß das gleiche, grausame Etwas, das den Geist seines Bruders zerstört hatte, auch schon in ihm war: ein unsichtbares Krebsgeschwür, das lautlos und im verborgenen wucherte und auf den Moment wartete, auszubrechen.

War es jetzt soweit? War das der Grund, weshalb er hier war? Weshalb dieses Krankenhaus keinem Krankenhaus ähnelte, das er je gesehen hatte, weil es kein Kranken-, sondern ein Irrenhaus war?

Hansen spürte, daß er dabei war, sich selbst in eine Furcht hineinzusteigern, der er vielleicht nicht mehr würde Herr werden können, und zwang sich mit einer gewaltigen Anstrengung, den Gedankengang abzubrechen. Er nahm die Hände herunter, hob den Kopf und öffnete mit einem Ruck die Augen. Wie er erwartet hatte, wurde ihm schwindelig, aber nicht so schlimm, wie er gefürchtet hatte. Für einen Moment schwankte das kleine, fensterlose Zimmer vor seinen Augen auf und ab, aber er brachte den Effekt mit einer bewußten Anstrengung zum Erliegen. Er wußte nicht, wo er war, aber eines konnte er mit großer Sicherheit sagen: Dies war keine Irrenanstalt. Die berühmte Gummizelle - deren Wände übrigens in den seltensten Fällen tatsächlich aus Gummi bestanden - sah anders aus. Sie hatte zum Beispiel keine Tresortür, und es gab auch kein Videoauge in der Wand, das jede Bewegung ihres Insassen mißtrauisch überwachte. Wo also war er?

Vielleicht lag die Antwort auf diese Fragen in den Ereignissen der vergangenen Nacht. Hansen hatte immer noch Schwierigkeiten, sich zu erinnern, aber nun versuchte er das Problem mit Logik anzugehen. Eine der ersten Lektionen, die er während seiner Ausbildung zum Polizeibeamten gelernt hatte, beinhaltete, daß es zwar richtig war, ein Problem in seiner Gesamtheit zu betrachten, der genau entgegengesetzte Weg aber ebenso zum Erfolg führen konnte: den Blick auf die Details zu lenken und jedes einzelne sorgsam zu prüfen. Er war mit Bremer auf Streife gewesen, und ihre Schicht war schon beinahe vorüber. Er erinnerte sich, sehr müde gewesen zu sein und alles andere als begeistert, als der Einsatzbefehl über Funk kam. Es ging um einen...

An diesem Punkt setzten seine Erinnerungen aus. Er... glaubte, daß es um einen Selbstmörder gegangen war, war aber nicht sicher. Irgend etwas war danach geschehen. In seinem Kopf waren ein paar zusammenhanglose Bilder: ein Hochhaus, Menschen, die zusammengelaufen waren und die Köpfe in den Nacken legten, eine winzige weiße Gestalt, die mit weit ausgebreiteten Armen wie ein bleicher Vogel ohne Schwingen hoch durch die Luft flog, dann ein Schrei und ein dumpfer Aufprall; irgend etwas hatte ihn getroffen, danach kam wieder eine Lücke, die mit vagen, aber zusammenhanglosen Bildern und Empfindungen gefüllt war. Dann der Krankenwagen. Er hatte nicht gewollt, daß man ihn hineinlegte, sich zugleich aber auch nicht wirklich dagegen wehren wollen. Wieder eine Lücke: ein Blackout, das diesmal seine Erinnerungen betraf und total war. Das nächste, woran er sich erinnerte - daran aber sehr klar -, war das Krankenhaus gewesen, in dem er das erste Mal aufgewacht war. Anders als dies ein ganz normales Krankenhaus mit einem ganz normalen Bett und ganz normalem Personal. Eine Schwester war gekommen und hatte ihm zu trinken gebracht, und danach...

Ja, danach hatte er verlangt, mit seiner Frau telefonieren zu dürfen. Er kannte die Vorschriften. Sicherlich hatte man Angelika längst darüber informiert, daß er einen Unfall (Unfall?) gehabt hatte und ins Krankenhaus gebracht worden war, und sie würde sich Sorgen machen. Er mußte anrufen und sie beruhigen. Aber statt eines Telefons war ein Arzt in seinem Zimmer erschienen, und statt ihn zu entlassen, hatte er ihm mitgeteilt, daß noch einige Untersuchungen nötig seien. Er hatte nicht protestiert. Eine weitere Lektion, die er schon sehr früh gelernt hatte, war, daß es keinen Sinn hatte, sich mit Ärzten zu streiten. Sie hatten meistens recht, und wenn schon nicht das, waren sie doch fast immer in der stärkeren Position. Er hatte nicht einmal gefragt, welche Untersuchungen und warum, sondern sich in sein Schicksal gefügt und nur darum gebeten, daß man seine Frau benachrichtigte und ihr mitteilte, wo er war und daß ihm nichts Ernstes fehlte. Danach hatte der Arzt ihm eine Spritze gegeben, und er war eingeschlafen.

Das Mittel hatte nicht richtig gewirkt, oder etwas in ihm hatte sich gegen seine Wirkung gewehrt, denn er war schon nach kurzem wieder aufgewacht und hatte sich in einem Dämmerzustand zwischen Schlafen und Wachen befunden. Sein Bewußtsein war ständig von der einen Seite der Grenze auf die andere hinüber und wieder zurück geglitten, so daß er in Bruchstücken mitbekommen hatte, daß man ihn aus dem Zimmer und einige Augenblicke später in einen Krankenwagen brachte, der ohne Blaulicht und Sirene, aber trotzdem sehr schnell losgefahren war. Da hatte er das erste Mal Angst bekommen. Er war nicht verletzt, er hatte keine Schmerzen, Und mit Ausnahme seiner Benommenheit - die mit großer Wahrscheinlichkeit an der Spritze lag, die er bekommen hatte - fühlte er sich gut. Aber warum brachte man ihn dann weg? Und wohin?

Seitdem war er hier, in diesem unheimlichen Zimmer. Ein paarmal waren Männer in weißen Hosen und kurzärmeligen weißen Jacken gekommen, um nach ihm zu sehen oder eine Nadel in seinen Arm zu stechen, und das war alles, was er wußte.

Hansen richtete sich weiter auf und atmete ein paarmal bewußt tief ein und aus, um das leise Gefühl der Übelkeit zu bekämpfen, das sich in seinem Magen ausgebreitet hatte. Sein Blick suchte das starre Kameraauge über der Tür und fixierte es lange genug, damit er sicher war, daß, wer immer den dazugehörigen Monitor auf der anderen Seite beobachtete, es auch bemerkt hatte.

»Ich will mit einem Arzt sprechen«, sagte er, nicht sehr laut, aber mit schon fast überdeutlicher Betonung und allem Nachdruck, den er in die Worte legen konnte. »Hören Sie? Ich verlange, sofort mit jemandem zu reden, der mir sagt, was hier los ist.«

Natürlich bekam er keine Antwort. Er konnte nirgendwo einen Lautsprecher entdecken, aber wahrscheinlich hätte er auch keine bekommen, hätte es einen gegeben. Es spielte keine Rolle. Seine Worte waren mit Sicherheit gehört worden. Wer immer sich solche Mühe mit ihm gab, würde die Videokamera dort über der Tür nicht ausgeschaltet lassen. Und bei allen Ängsten, die ihn peinigten, hatte er doch immer noch Vertrauen in die Wissenschaft und die Ärzte. Er war zornig, daß ihm niemand etwas gesagt hatte, daß man ihm Spritzen gab, ohne ihm zu erklären, warum, und ihm ein einfaches Telefongespräch mit seiner Frau verweigerte, aber er unterstellte ihnen - wer immer sie waren - trotzdem noch immer die besten Absichten. Beschweren konnte er sich später, und das würde er auch hin, aber jetzt galt es erst einmal, sich über seine Situation Klarheit zu verschaffen.

Zeit verstrich. Hansen blieb aufrecht und reglos auf der Bettkante sitzen und bemühte sich auch, seine Hände und sein Gesicht unter Kontrolle zu halten, denn ihm war klar, daß er beobachtet wurde. Er versuchte, das Verstreichen der Zeit zu schätzen, dann begann er zu zählen: in einem langsamen, gleichmäßigen Rhythmus, der sich am Takt seiner Herzschläge orientierte. Zuerst bis hundert, dann bis fünfhundert.

Niemand kam.

Dafür kehrte die Furcht zurück. Er hatte plötzlich einen absurden, aber gräßlichen Gedanken: Was, wenn er all das nicht wirklich erlebte? Was, wenn er nur glaubte, es zu erleben? Wenn er niemals in dieses seltsame Zimmer gekommen war, sondern noch immer im Krankenhaus lag, angeschlossen an eine Unzahl durchsichtiger Schläuche und bunter Drähte, in denen er sich verfangen hatte wie in dem verchromten Netz einer riesigen stählernen Spinne, deren Opfer er geworden war - und die es nicht auf sein Heisch, sondern auf seinen Geist abgesehen hatte? Was, wenn er -

Es hatte schon einmal geholfen, und er versuchte auch jetzt, den Gedanken mit einer bewußten Anstrengung abzubrechen. Die Angst blieb. Die Stimme der Logik war zu dünn und hatte nicht die richtigen Argumente, das böse Flüstern in seinem Kopf zum Verstummen zu bringen. Es wurde etwas leiser, aber es war noch da und gewann mit jedem Moment an Eindringlichkeit und Überzeugungskraft. Stöhnend schloß Hansen die Augen und preßte die Lider so fest zusammen, daß weiße Lichtblitze vor seinen Augen tanzten. Er schloß die Hände, ballte sie zu Fäusten und grub ganz bewußt die Fingernägel tief in sein eigenes Fleisch. Der Schmerz war wie ein dünner, heißer Draht, der in seine Hände schnitt, aber er lockerte seinen Griff nicht, sondern wandte im Gegenteil noch mehr Kraft auf. Schmerz - körperlicher Schmerz - war etwas Reales, ein Teil der Welt, in der er lebte und bleiben wollte, und er war nicht sein Feind, sondern die Rettungsleine, nach der er mit verzweifelter Kraft griff, um sich daran festzuklammern und nicht vollends hineingerissen zu werden in den Strudel aus Angst und Wahnsinn, auf den er immer schneller und schneller zutrieb.

Es half. Die Furcht verebbte ganz langsam. Der Sog wurde schwächer, er spürte, wie warmes Blut über seine Hände lief und zu Boden tropfte, aber es war ein köstliches Gefühl, ein Gefühl, das ihm bewies, daß er noch lebte und sich noch immer in einer Welt realer Dinge befand. Nicht in jenem unsichtbaren Gefängnis aus Infantilität und Irrsinn, das den Geist seines Bruders verschlungen hatte.

Als er die Augen öffnete, war er nicht mehr allein.

Er hatte nicht gehört, daß die Tür aufgegangen war, aber sie mußte es wohl, denn vor ihm stand ein sehr großer, schlanker Mann mit grauem Haar, einem asketischen Gesicht und der hier allgemein üblichen Kleidung: weiße Hosen, weißes Hemd und darüber ein weißer Kittel. Aber er war kein Pfleger, sondern Arzt. Hansen hätte das kleine Namensschildchen an seinem Kittel gar nicht sehen müssen, um das zu wissen. Er war in seinem Leben genug Ärzten begegnet, um sie sofort zu erkennen.

»Gott sei Dank«, murmelte er erleichtert. »Endlich. Ich dachte schon, es kommt überhaupt niemand mehr.«

Der Grauhaarige lächelte. Auch dieses Lächeln kannte Hansen zur Genüge. Er hatte es so oft gesehen, wenn er seinen Bruder und seine Mutter zum Arzt begleitete - ein Lächeln, das nichts bedeutete und allenfalls die eigene Unsicherheit verbarg.

»Wie ich sehe, geht es Ihnen endlich besser«, sagte der Arzt. »Wie fühlen Sie sich?«

»Nicht besonders gut«, gestand Hansen. »Mir ist schwindelig, und ich fühle mich sehr schwach. Was ist passiert? Wo bin ich?«

»Im Krankenhaus«, erwiderte der andere. »Aber das wissen Sie sicher selbst. Sie sind in guten Händen, keine Sorge, Ihnen wird nichts geschehen.«

, Allein der Umstand, daß er diese Versicherung für nötig hielt, beunruhigte Hansen schon wieder. »Was ist passiert?« fragte er. »Hatte ich einen Unfall?«

Der Arzt hob abwehrend die Hand. »Ich bin hier, um Ihnen alles zu erklären«, sagte er. »Ich bin Dr. Artner, der Leiter dieser Klinik, und ich nehme an, Sie haben tausend Fragen.«

»Vor allem möchte ich mit meiner Frau sprechen«, antwortete Hansen. Er kannte auch die Art Artners zu reden zur Genüge. So wie sein Lächeln bedeutete sie nichts. Er würde antworten, aber es würden wahrscheinlich Antworten sein, die keine waren.

»Ihr Frau wurde benachrichtigt«, sagte Artner, »machen Sie sich keine Sorgen. Sie weiß, daß es Ihnen gutgeht, wahrscheinlich besser, als Sie selbst.«

»Bestimmt sogar«, sagte Hansen und bekam einen Begleiter: Zorn.

»Bitte, Herr Doktor«, fuhr er in unhörbar schärferem, aber auch entschlossenem Tonfall fort, »ich möchte jetzt wissen, was überhaupt passiert ist.«

»Sie erinnern sich nicht?« fragte Artner.

»Nein«, erwiderte Hansen. »Dann würde ich kaum fragen, oder?«

Artner seufzte und schien einen Moment intensiv nachzudenken, wie er antworten sollte. »Nun gut«, sagte er schließlich. »Ich denke, wir sollten uns wirklich unterhalten.«

»Das glaube ich auch«, antwortete Hansen, noch immer im gleichen, hörbar aggressiven Ton. »Es sei denn, Sie legen Wert darauf, daß ich jetzt aufstehe und hier herausspaziere.« Er deutete auf die Tür.

Artner machte sich nicht einmal die Mühe, seiner Geste zu folgen. Er sah ihn nur an. »Also gut«, sagte er. »Reden wir. Aber nicht über Sie.«

»Worüber sonst?«

»Oh, da fallen mir auf Anhieb eine Menge interessanter Themen ein«, sagte Artner. Etwas in seinem Lächeln veränderte sich. Hansen hätte nicht sagen können, was, aber was immer es auch war - es beunruhigte ihn.

»Zum Beispiel?«

»Zum Beispiel Ihr Bruder«, antwortete Artner.

Hansen erstarrte. Sein Bruder? Was um alles in der Welt -

»Er war schwachsinnig, nicht wahr? Ich meine: total verrückt, zurückgeblieben, ein Idiot.«

»Was hat das ... mit mir zu tun?« fragte Hansen stockend. Seine Hände zitterten plötzlich. Er sah an sich herab und stellte fest, daß sie nicht mehr bluteten. Das konnten sie auch nicht. Die winzigen sichelförmigen Wunden, die seine Fingernägel vorhin in seine Haut gegraben hatten, waren nicht mehr da.

»Nichts«, antwortete Artner. »Ich dachte nur, es wäre ein interessantes Thema. Eines, über das Sie gerne reden würden.«

»Wie... wie kommen Sie darauf?« murmelte Hansen. Jede Schärfe und jede Sicherheit waren aus seiner Stimme verschwunden. Sie zitterte jetzt ebenso heftig wie seine Hände, und er spürte, wie sich hinter seiner Stirn etwas Dunkles, Großes, Körperloses zu drehen begann.

»Stimmt das etwa nicht?« wollte Artner wissen, »Sie denken doch oft an Ihren Bruder zurück, nicht? Wie hieß er doch gleich? Gerd?«

»Fred«, antwortete Hansen.

»Fred, so.« Artner nickte ein paarmal. »Ein passender Name für einen Schwachsinnigen. Obwohl Gerd eigentlich auch paßt - aber das ist Ihr Vorname, nicht wahr?«

Hansen starrte ihn an. Er antwortete nicht mehr. Er hätte es gar nicht gekonnt, denn seine Kehle war zugeschnürt. Sein Herz schlug ganz langsam, aber sehr schwer.

»Aber keine Angst, Gerd«, fuhr Artner fort. »Ich bin nicht gekommen, um Ihnen schonend beizubringen, daß Sie verrückt geworden sind. Das sind Sie nicht.« Er lachte. »Jedenfalls nicht verrückter als die meisten dort draußen, die sich für normal halten.«

»Was... was soll das?« krächzte Hansen. »Ich verstehe nicht, was...«

»Na ja, das können Sie vermutlich auch nicht«, unterbrach ihn Artner. »Schließlich bin ich ja hier, um Ihnen alles zu erklären. Das ist meine Aufgabe, wissen Sie? Erklären und beruhigen - auch wenn es manchmal gar nichts zu erklären gibt und schon gar nichts zu beruhigen. Ich meine, sehen Sie mich an, ich bin der Leiter dieser Klinik. Das alles hier gehört mir. Zwanzig Ärzte, an die hundert Pfleger und Schwestern und Technik im Wert von etlichen zig Millionen - und was habe ich davon? Nichts.«

»Bitte, Dr. Artner«, sagte Hansen mit letzter Kraft. »Was immer Sie mir sagen wollen, sagen Sie es. Erklären Sie mir, was mit mir geschieht.«

»Aber das versuche ich ja gerade«, antwortete Artner in einem Ton resignierender Geduld. »Es hat überhaupt keinen Sinn, sich gegen das Schicksal aufzulehnen, wissen Sie? Früher habe ich das einmal geglaubt, aber es stimmt nicht. Wir können tun, was wir wollen, am Ende ist es stärker.« Er zog einen Schmollmund. »Schauen Sie mich an! Dieser ganze Laden hier hört auf mein Kommando, und was habe ich davon? Ich bin tot!«

Hansen riß ungläubig die Augen auf. »Wie?«

»Ja, ja«, sagte Artner. »Ich bin tot. Sehen Sie!« Er griff in die rechte Tasche seines Kittels, zog ein Skalpell heraus und führte es mit einer langsamen, sehr präzisen Bewegung über seine linke Wange. Das Fleisch klaffte auf und fiel herunter wie ein Stück losgerissener Tapete, und darunter kamen der blanke Knochen und rote Muskel- und Sehnenstränge zum Vorschein. Als er weitersprach, konnte Hansen sehen, wie sich die Zunge in seinem Mund bewegte wie ein kleiner fleischiger Wurm, der vergebens gegen die Stäbe eines Elfenbeinkäfigs anrannte.

»Hoppla«, sagte Artner. »Das war vielleicht etwas übertrieben. Aber so ist das: Man wird leicht unachtsam, wenn man keine Schmerzen mehr fürchten muß.« Er entledigte sich des Skalpells, indem er es sich wuchtig in den linken Unterarm stieß, griff mit der freigewordenen Hand nach seinem Gesicht und klappte den Fleischlappen, der seine Wange gewesen war, wieder nach oben.

»Haben Sie Angst vor Schmerzen, Gerd?« fragte er.

Hansen schrie. Voller Panik wich er vor Artner zurück, stürzte nach hinten und begann rücklings über das Bett vor ihm davonzukriechen.

»Ich will Ihnen keine Angst machen«, fuhr Artner im Plauderton fort. »Ich frage nur, weil Sie wahrscheinlich eine gewaltige Menge Schmerzen ertragen werden müssen, dort, wo Sie hingehen. Und für ziemlich lange, fürchte ich.« Er lachte leise. »Oh ja, sehr lange. Wie lang ist die Ewigkeit?«

Hansen kreischte weiter. Der Schrei wurde von den gepolsterten Wänden zurückgeworfen und hallte schmerzhaft laut in seinen Ohren, und in ihm erwiderte eine lautlose Stimme den Schrei und fegte auch noch den letzten Rest von Beherrschung davon. Hinter seiner Stirn begann sich ein Druck aufzubauen, der binnen Sekunden die Grenzen des Erträglichen erreichte und überstieg und immer noch weiter und weiter wuchs, bis er das Gefühl hatte, explodieren zu müssen. Seine Furcht erreichte eine Intensität, die wirkliche körperliche Schmerzen freisetzte, aber diesmal war dieser Schmerz kein Freund, sondern ein Verbündeter der Panik, der mit scharfen Krallen an der immer dünner werdenden Barriere riß, die seinen Verstand noch von den Abgründen des Wahnsinns trennte. Und Artner kam näher. Er hatte das Bett erreicht und ging einfach hindurch - nicht wie ein Geist oder ein Trugbild, das einfach durch feste Materie hindurchglitt, sondern mit langsameren, mühevollen Schritten, wie ein Mann, der in knietiefem zähem Schlamm watete.

»Ich habe eine Überraschung für dich, Gerd«, sagte er. »Aber ich furchte, sie wird dir nicht gefallen.«

Seine Stimme. Etwas stimmte nicht mit seiner Stimme. Es war plötzlich nicht mehr die des Arztes. Das hieß - nicht eigentlich seine Stimme hatte sich verändert, sondern vielmehr seine Art, zu reden. Sie war... schleppender geworden. Monotoner. Kindlicher?

Die Tür zu Hansens Zelle wurde mit einem Knall aufgerissen, und zwei muskulöse Männer in weißen Pflegeruniformen stürmten herein, dicht gefolgt von einem dritten, etwas älteren Mann, dem man, ganz wie Artner zuvor, den Arzt ansah. Offenbar hatte die Videokamera doch ihren Dienst getan, und sie waren gekommen, um ihn zu retten. Sie würden Artner überwältigen und -

Sie ignorierten Artner.

Hansen schrie weiter aus Leibeskräften und schlug und trat mit Armen und Beinen um sich, aber er hatte keine Chance gegen die beiden Pfleger. Mit routinierten Bewegungen ergriffen sie ihn und rangen seinen Widerstand scheinbar mühelos nieder. Hansen schrie weiter, bäumte sich mit verzweifelter Kraft auf und brüllte, und Artner stand die ganze Zeit da, bis zu den Knien in seinem Bett versunken und lächelnd, und irgend etwas geschah mit seinem Gesicht. Es veränderte sich, ohne sich wirklich zu verändern. Etwas Bekanntes war mit einem Male darin, etwas auf eine furchtbare Weise Vertrautes, das nicht sein konnte, das einfach nicht sein durfte, denn es war unmöglich, absolut und vollkommen unmöglich.

»Beruhigen Sie sich, Hansen!« sagte der neu hinzugekommene Arzt. Er stand direkt hinter Artner auf der anderen Seite des Bettes, so daß Hansen sein Gesicht nur zum Teil sehen konnte. Er sah erschrocken aus und sehr besorgt - aber er sah Artner nicht. Sein Blick war fest auf Hansen gerichtet, obwohl er ihn doch sehen mußte. Er stand unmittelbar vor ihm!

»Ja, ja, du solltest auf meinen armen lebenden Kollegen hören«, sagte Artner fröhlich. »Beruhige dich. Es wäre wirklich klüger.« Er lachte meckernd. »Um dich aufzuregen, hast du noch viel Zeit. Viel, viel, viel Zeit.«

Etwas in Hansen zerbrach. Der Druck hinter seiner Stirn überstieg die Grenzen des Vorstellbaren, und es war wirklich wie eine kleine Explosion - er konnte fühlen, wie irgendein Widerstand in ihm nachgab, die Mauern einstürzten, die seinen Verstand bisher trotz allem noch irgendwie geschützt hatten. Er heulte auf, mobilisierte noch einmal alle Kräfte und schaffte es dann, seinen rechten Arm loszureißen. Der Pfleger auf der entsprechenden Seite des Bettes fluchte, versuchte seine Hand wieder zu ergreifen und taumelte im nächsten Augenblick einen Schritt zurück, als Hansen ihm die Faust mit aller Gewalt in den Leib trieb.

»Nicht schlecht«, sagte Artner anerkennend. »Aber auch nicht gut. Jedenfalls nicht gut genug. Den beiden bist du nicht gewachsen, fürchte ich. Sie verstehen ihr Handwerk.« Er lächelte weiter, und diese furchtbare Vertrautheit nahm noch zu. Es war gar nicht sein Gesicht, das sich verändert hatte. Es waren seine Augen. Etwas in seinen Augen, das Hansen wiedererkannte. Etwas, das er beinahe zwanzig Jahre seines Lebens gesehen und fast die gleiche Zeit über gefürchtet hatte. Und gehaßt. Verzweifelt bäumte er sich auf und versuchte auch seinen anderen Arm loszureißen, aber es war so, wie das Artner-Ding gesagt hatte: Er war den beiden Pflegern nicht gewachsen. Die beiden waren viel stärker als er, und was die angeblich so absolute Kraft anging, die die Todesangst verleihen sollte, so war sie entweder nur eine Legende, oder die beiden Pfleger waren im Umgang mit ihr geübt. Er versuchte einen zweiten Fausthieb anzubringen, aber diesmal fing der Mann seinen Schlag mit einer fast spielerischen Bewegung ab, packte ihn und verdrehte seinen Arm. Ein grausamer Schmerz explodierte in seiner Schulter, und er schrie wieder, diesmal vor Qual.

»Seien Sie vorsichtig«, mahnte der Arzt. »Tun Sie ihm nicht unnötig weh.« Er griff in die Tasche, zog ein schmales Etui heraus und entnahm ihm eine bereits fertig aufgezogene Spritze.

»Keine Angst, Hansen«, sagte er. »Sie werden sich gleich besser fühlen. Wir wollen Ihnen doch nur helfen.«

»Das bezweifle ich«, sagte Artner fröhlich. »Ich meine: nicht, daß er dir helfen will. Aber daß du dich gleich besser fühlen wirst.«

Hansen kämpfte mit aller Kraft. Selbst den beiden Pflegern gelang es nur mit äußerster Mühe, ihn auf das Bett zurückzudrücken und so festzuhalten, daß der Arzt die Spritze ansetzen konnte, aber es gelang ihnen. Hansen spürte ein kurzes, aber heftiges Brennen in der Armbeuge und fast unmittelbar darauf ein taubes Gefühl, das sich wie eine warme, beruhigende Woge in seinem ganzen Körper auszubreiten begann.

»Ein Hoch auf die moderne Chemie«, sagte Artner. Er applaudierte spöttisch. Das Skalpell, das noch immer in seinem linken Unterarm steckte, bewegte sich rhythmisch wie der Zeiger eines höllischen Metronoms, und er hatte die Hand vom Gesicht genommen, so daß seine Wange wieder heruntergeklappt war und mit einem flappenden Geräusch gegen sein Kinn schlug.

»Gleich schläfst du ein, wetten wir?« fuhr er fort. »Aber bevor du es tust, habe ich noch eine Überraschung für dich. Paß auf - den Trick kann ich nur einmal vorführen, fürchte ich.«

Er trat einen Schritt zurück und damit halb durch den Arzt hindurch, der die Spritze aus Hansens Vene zog und besorgt und sehr aufmerksam auf ihn herabsah. »Sie fühlen sich gleich besser«, sagte er, »Sie werden einschlafen, und wenn Sie aufwachen, ist alles vorbei, das verspreche ich.«

»Unsinn«, fügte Artner hinzu. »Dabei habe ich ihm so oft gesagt, daß er keine Versprechungen machen soll, die er nicht halten kann. Aber manche lernen es nie.«

Er zog das Skalpell aus seinem Arm, drehte es herum und stieß sich die rasiermesserscharfe Klinge gute zwei Zentimeter in den Bauch. Die Wunde blutete nicht, aber sein Kittel, das Hemd und das weiße Fleisch darunter klappten auseinander und gaben Hansen den Blick auf das rote pulsierende Innere des Körpers frei. Das Ding, das darin hockte.

Hansen wollte schreien, aber er konnte es nicht. Das Medikament, das ihm der Arzt gespritzt hatte, entfaltete seine Wirkung immer rascher. Er war gelähmt, vollkommen hilf- und reglos, doch das Mittel war trotz allem nicht gnädig genug, ihn endlich das Bewußtsein verlieren zu lassen. Er schrie noch immer, aber jetzt war es ein lautloser Schrei, der nicht einmal seine Lippen zittern ließ. Wehrlos mußte er mit ansehen, wie Artner das Skalpell weiter bewegte und eine präzise gerade Linie über seine Brust zog, seine Kehle vertikal spaltete und dann Kinn, Lippen und Nase teilte, ehe die Klinge über seinem Scheitel verschwand und einen Winkel annahm, in dem er sie nicht mehr fuhren konnte. Achtlos ließ er das Messer fallen, griff mit beiden Händen nach oben und riß die Kopfhaut auseinander.

Sein Gesicht öffnete sich mit einem Geräusch wie ein fleischiger Reißverschluß. Artners Arme bewegten sich weiter und zogen Haare, Gesicht und schließlich Schultern und Brust auseinander, und darunter kam ein rotes, glitschiges Etwas zum Vorschein, ein grauenhaftes Ding wie eine übergroße Schlupfwespe, feucht und pulsierend und lebendig. Das Geschöpf streifte Artners Körper ab wie ein Taucher seinen Neoprenanzug, aus dem er sich mühsam herausarbeitete, ebenso langsam, aber auch mit der gleichen Zielsicherheit. Aber es war kein Geschöpf. Kein Monster.

Es war sein Bruder.

»Hallo, Gerd«, sagte er lächelnd. »Schön, daß du wieder da bist. Ich wußte immer, daß wir uns wiedersehen.«

Hansen konnte spüren, wie seine Augen aus den Höhlen quollen. Er begann zu zittern. Ein leiser, wimmernder Schrei kam über seine Lippen.

»Da stimmt was nicht, Doktor«, sagte einer der Pfleger. Er und sein Kollege traten wieder näher und streckten die Hände nach Hansen aus, ohne ihn allerdings schon zu berühren.

»Hast du wirklich gedacht, du wärst mich los?« fragte Fred. Auf seinem rotweiß marmorierten Gesicht erschien ein furchtbares, blutiges Lächeln. Er sprach jetzt nicht mehr mit Artners Stimme, sondern mit dem monotonen Singsang, der Freds einzige mögliche Betonung gewesen war, aber seine Augen hatten sich abermals verändert. Etwas war darin, das Hansen niemals im Leben in den Augen seines Bruders gesehen hatte: Bewußtsein. Wille. Sein Bruder hatte die Fesseln endlich abgestreift, die seinen Geist zeit seines Lebens im Alter von vier oder fünf Jahren festgehalten hatten. Aber was da erwacht war, das war etwas Böses, etwas unvorstellbar Finsteres und Zerstörerisches.

»Du hast mich gehaßt, nicht wahr?« fuhr er fort. »Streite es nicht ab, ich weiß es. Du hast mich vom ersten Tage an gehaßt. Du hast den liebenden Bruder gespielt, und alle haben dir geglaubt, aber das war eine Lüge. Du hast mich mein Leben lang gehaßt, weil Mutter und Vater mich geliebt haben, viel mehr als dich. Du hast mich gehaßt, weil sie Mitleid mit mir hatten, wegen meiner Behinderung, und der Aufmerksamkeit, die alle mir geschenkt haben, und nicht dir. Hast du etwa gedacht, ich weiß es nicht? Ich wußte es, Gerd. Jeden Tag meines Lebens, jede Stunde, jede Sekunde hast du dir gewünscht, daß ich sterbe, und ich habe es jeden Tag, jede Stunde und jede Sekunde gespürt.«

Das Ding hatte sich jetzt bis zur Hüfte aus Artners Körper herausgearbeitet, aber es machte keine Anstalten, ihn vollends abzustreifen. Langsam kam es näher. Artners Haut schlabberte wie ein halb heruntergezogener Overall um seine Hüften und verursachte schreckliche nasse Laute, während sie über das Bett streifte. »Du warst froh, als ich endlich gestorben bin«, fuhr es fort. »Du hast den Trauernden gespielt, aber innerlich hast du jubiliert. Glaub nicht, daß ich es nicht wußte. Aber du bist mir nicht entkommen. Ich war die ganze Zeit bei dir, und weißt du was? Ich werde noch viel länger bei dir sein. Für immer. Wir werden für alle Ewigkeiten vereint sein, wie es Brüder doch sein sollen, oder?«

Sein Bruder beugte sich vor und streckte die Hände nach ihm aus, die noch bis zu den Unterarmen in den abgerissenen Artner-Handschuhen steckten, und die Vorstellung, von diesen grauenhaften Händen berührt zu werden, war mehr, als Hansen ertrug.

Er bäumte sich auf. Eine Woge reiner, weißglühender Panik schwemmte die Wirkung des betäubenden Medikamentes aus seinem Körper heraus, und die absolute Kraft, die er gerade vermißt hatte, war plötzlich da. Die beiden Pfleger versuchten ihn zu packen und festzuhalten, aber Hansen schüttelte sie einfach ab. Einer der Männer ging lautlos zu Boden, als ihn seine Faust traf, der andere stolperte schreiend zurück, prallte gegen die Wand und sank ebenfalls auf die Knie.

Das Ungeheuer kam noch immer näher. Hansen kreischte. Verzweifelt kroch er weiter vor ihm davon, stürzte vom Bett und rappelte sich ungeschickt wieder hoch. Sein Bruder stand vor ihm, die Arme ausgebreitet und die Hände weit geöffnet, aber nicht in einer zupackenden, sondern umarmenden Geste.

»Du kannst nicht vor mir davonlaufen, Gerd«, sagte er. »Du kannst es versuchen, aber es ist sinnlos. Wir gehören zusammen. Für alle Zeiten.«

Hansen stürzte mit einem gellenden Schrei los. Der Arzt versuchte nach ihm zu greifen und büßte zwei Fingernägel ein. Als er mit einem Schmerzensschrei zu Boden ging, sprang Hansen über das Bett und raste weiter, und obwohl die Zelle so winzig war, daß er nicht einmal zwei ganze Schritte Anlauf nehmen konnte, reichte die Wucht, mit der er seinen eigenen Schädel gegen den stählernen Türrahmen rammte, doch aus, um ihn auf der Stelle zu töten.

Загрузка...