16. Kapitel

Petri nahm die beiden Gläser, aus denen er und sein Vater zuvor getrunken hatten, und trug sie mit übertrieben langsamen Bewegungen zur Bar. Ebenso langsam und umständlich füllte er das seines Vaters wieder auf, schenkte ein zweites ein und reichte es Mark.

»Danke«, sagte Mark. »Aber ich trinke keinen Alkohol.«

»Blödsinn«, erwiderte Petri. »Du bist alt genug, und es redet sich besser so. Außerdem ist es kein Alkohol, sondern Medizin, und die verordne ich dir jetzt.«

Mark griff widerwillig nach dem Glas, hielt es aber nur in der Hand. Er hatte nicht vor, zu trinken, aber Petris theatralisches Gehabe beunruhigte ihn noch mehr. Es hatte keinen anderen Sinn als den, Zeit zu gewinnen. Warum?

»Wozu? Glauben Sie, daß ich es nötig habe?«

»Doktor, bitte«, sagte Marks Vater. »Ich glaube nicht -«

»Ich«, unterbrach ihn Petri mit einer Schärfe und Bestimmtheit, die Mark niemals an ihm vermutet hätte, »glaube, daß Sie schon viel zu lange gewartet haben. Wenn Sie schon nicht auf meinen freundschaftlichen Rat hören wollen, dann hören Sie auf meine Erfahrung als Arzt. Es gibt Dinge, die müssen sein, auch wenn sie weh tun. Sie werden nicht besser, wenn man nur lange genug wartet.«

Er wandte sich wieder an Mark. »Du haßt deinen Vater, nicht wahr? Weil du glaubst, daß er deine Mutter auf dem Gewissen hat.«

»War es denn nicht so?« fragte Mark.

»Nein«, sagte Petri. »Er kann nichts dafür. Er am allerwenigsten.«

»Ach«, sagte Mark. »Wieso?«

Petri zögerte. Man mußte nicht unbedingt telepathisch begabt sein, um zu erkennen, wie schwer es ihm fiel, weiterzusprechen. »Es ist... nicht seine Schuld«, sagte er zum wiederholten Mal. »Er hielt es nur für besser, dich in dem Glauben zu belassen, daß es so ist.«

»Wie bitte?« fragte Mark fassungslos. Er starrte seinen Vater an, aber der wich seinem Blick aus.

»Es war besser«, fuhr Petri fort. »Wenigstens für eine Weile. Aber ich denke, daß es jetzt an der Zeit ist, dir die Wahrheit zu erzählen.«

»Besser für wen?« fragte Mark. »Was soll das alles überhaupt?«

»Besser für dich«, sagte Petri. »Weißt du - manchmal ist es leichter, einen Schmerz zu ertragen, wenn jemand da ist, dem man die Schuld daran geben kann.«

»Und jetzt -«

»Jetzt«, unterbrach ihn Petri betont, »bist du alt genug, um die Wahrheit zu erfahren. Es ist schade, daß es so geschehen muß, aber wahrscheinlich geht es nicht anders.«

»Was muß ich erfahren?« fragte Mark. »Eine neue Lüge? Ich will sie nicht hören.«

Es war nicht Petri, der antwortete, sondern sein Vater. Er sah Mark noch immer nicht an, und er sprach sehr leise, mit einer Stimme, die Mark noch nie zuvor von ihm gehört hatte. Plötzlich klang er wie ein alter, schwacher Mann. »Die Wahrheit, Mark. Aber sie wird dir nicht gefallen.«

»Das glaube ich kaum«, antwortete Mark. »Ich glaube nicht, daß mir irgend etwas weniger gefällt als das, was ich bisher erlebt habe.«

Petri und sein Vater tauschten einen langen Blick, und diesmal war es Petri, der das Gespräch fortsetzte.

»Du warst zwölf Jahre alt, als du ins Internat gekommen bist, nicht wahr?« fragte er.

»Ja«, antwortete Mark. »Was soll diese Frage?«

»Und was war vorher?«

»Vorher?« Mark blickte verwirrt von seinem Vater zu Petri und wieder zurück. »Was soll das?«

»Ich frage dich, was vor deiner Zeit im Internat war«, beharrte Doktor Petri. »Du wolltest eine ganz normale Jugend - das hast du jedenfalls gerade selbst gesagt. Erzähl mir etwas davon. Von der Zeit vor deinem zwölften Geburtstag. Bevor du ins Internat gekommen bist.«

»Aber das ist doch lächerlich!« sagte Mark.

»Erzähl mir davon«, verlangte Petri. »Irgend etwas. Es ist gleich, was.«

»Aber was soll denn das?« schnappte Mark. »Das ist... idiotisch!«

»Vielleicht«, sagte Petri. »Möglicherweise bin ich nur ein alter Idiot, wer weiß? Trotzdem - erzähl mir irgend etwas. Du wirst dich doch erinnern. Du hast bestimmt Freunde gehabt, ein Lieblingsspielzeug, irgendeine Serie im Fernsehen, die du besonders gemocht hast... irgend etwas.«

»Was soll ich schon erzählen?« fragte Mark verwirrt. »Ich... ich war hier.« Plötzlich raste sein Herz wieder, und er schloß die Hände so fest um den Cognacschwenker, daß das Glas knackte, nur damit Petri und sein Vater nicht sahen, wie sie zitterten. Er begriff noch immer nicht, worauf Petri hinauswollte - aber das änderte nichts daran, daß ihn die Fragen des Arztes regelrecht in Panik versetzten. Stockend fuhr er fort: »Ich habe hier gelebt. Mit... mit meinem Vater und meiner Mutter und... und Marianne. Da gibt es nichts Besonderes zu erzählen.«

»In zwölf Jahren? Es ist nichts passiert, woran du dich erinnerst? Gar nichts? Das kann nicht dein Ernst sein.«

Mark starrte den Arzt an. Er wollte lachen, einfach hysterisch losschreien oder ihn anbrüllen, aber er konnte nichts von alledem. Seine Gedanken überschlugen sich schier. Das war lächerlich. Grotesk. Wieso sollte er sich nicht an seine Jugend erinnern können? Er hatte hier gelebt, mit seinen Eltern und Marianne, und er kannte jeden Quadratzentimeter dieses Hauses, jedes einzelne Möbelstück, jedes Buch auf den Regalen. Er erinnerte sich an sein Leben hier, die Schule, an Mariannes Essen und die Fernsehabende mit seiner Mutter, die Weihnachtsfeiern und seine Geburtstage.

Und sonst an nichts.

Es war nicht etwa so, daß seine Erinnerungen erst mit seinem Umzug ins Internat begannen und davor ein schwarzes Nichts gewesen wäre. Es war alles da - aber die Details fehlten. Es war, als wäre sein ganzes Leben in einem Buch niedergeschrieben worden, das er nur durchgeblättert, nicht aber wirklich gelesen hatte, so daß er zwar die Handlung, nicht aber das eigentliche Leben zwischen den Zeilen mitbekommen hatte. Er wollte sich erinnern, mit aller Gewalt.

Aber er konnte es nicht.

Da war nichts, woran er sich erinnern konnte.

»Was... was bedeutet das?« fragte er stockend.

Petri atmete hörbar ein. »Weißt du, was man unter dem Wort Amnesie versteht? Sicher, du weißt es. Jedermann weiß so etwas heute.«

»Gedächtnisverlust«, antwortete Mark überflüssigerweise. Er versuchte zu lachen. »Wollen Sie mir gerade weismachen, daß ich unter einer Art Amnesie leide.«

»Einer ganz speziellen Art, ja«, bestätigte Petri. »Es gibt die verschiedensten Ursachen für einen Gedächtnisverlust, und er ist nicht immer total. Meistens verschwindet er nach ein paar Stunden oder allerhöchstens Tagen von selbst wieder. Aber manchmal dauert es auch Jahre, und manchmal kehren die Erinnerungen auch nie vollständig zurück.«

»Und manchmal hilft jemand nach«, fügte sein Vater ganz leise hinzu.

»Wie... bitte?« fragte Mark.

Er starrte abwechselnd seinen Vater und Petri an, bekam aber von keinem der beiden eine Antwort. Sein Vater blickte weiter starr ins Leere, während Petri jetzt noch betroffener aussah, irgendwie aber zugleich auch entschlossener, auf eine grimmige, ungute Art.

»Was soll das heißen?« fragte Mark.

Tief in ihm begann eine furchtbare Ahnung aufzukeimen - nein, keine Ahnung. Es war Wissen, klares, zweifelsfreies Wissen, das irgendwo in ihm vergraben war, unendlich tief und so sorgsam eingesperrt, daß er es selbst jetzt noch nicht wirklich erkennen konnte. Aber es war da. Eingesperrt, aber da. Nur war er mit einem Male gar nicht mehr sicher, ob er es wirklich befreien wollte. Was hatte Petri gesagt? Die Wahrheit wird dir nicht gefallen?

»Dein Vater sagt die Wahrheit«, sagte Petri schließlich. »Manchmal hilft jemand nach, um zu verhindern, daß die Amnesie zu schnell nachläßt.«

»Jemand?«

»Ich«, gestand Petri. »Ich war damals der Arzt, der die Diagnose gestellt hatte. Und ich habe auch dafür gesorgt, daß du dich nicht erinnerst, jedenfalls nicht gleich.« Er hob die Hand, als Mark widersprechen wollte. »Ich weiß, was du sagen willst, aber du irrst dich. Es gibt durchaus Mittel und Wege, ganz bestimmte Erinnerungen aus dem Gedächtnis eines Menschen zu löschen. Ziemlich einfache sogar. Man spricht nur nicht gerne darüber.«

»Erinnerungen woran?« bohrte Mark.

»An das, was damals geschehen ist«, antwortete sein Vater. Er atmete hörbar ein, setzte das leere Glas an die Lippen und senkte es wieder. Bevor er weitersprach, ging er zur Bar und füllte es erneut. Während der ganzen Zeit, und auch danach noch, sah er Mark nicht an.

»In einem Punkt hattest du recht, Mark«, sagte er leise. »Ich habe dich belogen. Sowohl was deine Mutter als auch was Löbach angeht. Und den Namen.«

»Welchen Namen?«

»Azrael«, sagte sein Vater. »Ich weiß, was er bedeutet. Und du weißt es auch.« Er trank - nicht sehr viel -, drehte das Glas einige Sekunden lang mit kleinen, nervösen Bewegungen in den Fingern und wandte sich schließlich mit einem Ruck um. Jetzt sah er Mark doch an.

»Erzähl mir von deinem Traum«, verlangte er.

»Da gibt es nicht viel zu erzählen«, antwortete Mark. »Ein Alptraum. Wirres Zeug eben.«

Weder Petri noch sein Vater antworteten, aber allein ihr Schweigen machte Mark klar, wie wenig überzeugend seine Behauptung klang, nicht nach allem, was passiert war. Schließlich zuckte er mit den Schultern und begann mit leiser, schwankender Stimme zu erzählen. Er hatte sich vorgenommen, ganz ruhig zu bleiben, und während der ersten zwei oder drei Minuten gelang es ihm sogar. Aber nicht viel länger. Indem er über den Traum sprach, gab er ihm neue Substanz. Diesmal hörte er keinen Herzschlag oder sah Schatten und greifende Schemen. Trotzdem war der Schrecken da, allerdings auf eine völlig andere, neue Art. Es war ein Schrecken, der irgend etwas mit dem verborgenen Wissen in ihm zu tun hatte, vielleicht der Schlüssel zu dem Kerker war, gegen dessen Wände es immer nachhaltiger hämmerte. Als er fertig war, hatte er kaum noch die Kraft, zu reden. Er zitterte am ganzen Leib.

»Das ist alles«, schloß er. »Wie gesagt - nur ein Alptraum.«

»Nein«, sagte sein Vater. »Das ist es nicht. Es gab diesen Raum, den du gesehen hast, Mark. Du warst da. Und die anderen auch.«

Das Glas zerbrach in Marks Händen. Die Scherben schnitten tief in sein Fleisch, aber er spürte weder den Schmerz noch das Blut, das plötzlich warm über seine Handgelenke lief und zu Boden tropfte. Er hätte nicht erschrecken dürfen, aber er tat es. Erst nach ein paar Sekunden machte er sich klar, daß er nicht über das erschrak, was sein Vater sagte - im Grunde hatte er die ganze Zeit über gewußt, daß sein Traum mehr als ein Traum war -, sondern weil diese Worte seine letzte Hoffnung zunichte machten, die Hoffnung nämlich, daß es doch nur eine Vision war. Petri bückte sich nach seiner Arzttasche, trat zu Mark, griff nach seiner Hand und begann mit geübten Bewegungen die beiden Schnittwunden zu versorgen, alles, ohne ein einziges Wort zu sagen.

»Welche anderen?« fragte Mark nach einiger Zeit.

»Claudia, Beate, Fred, Jennifer ...« Sein Vater machte eine vage Geste. »Ihre Namen spielen keine Rolle. Wenn du dich jetzt noch nicht an sie erinnerst, macht es nichts. Wer sie waren, ist gleich.«

Waren? Also stimmte auch dieses Detail - all diese bleichen Gestalten aus seinem Traum waren tot. Er war der einzige, der davongekommen war, und sie waren nun hier, um ihn zu holen.

»Und Azrael?«

»Nein. Azrael ist... kein Mensch. Vielleicht sollte ich besser sagen: kein Jemand. Sondern ein Etwas. Eine Droge, genauer gesagt.«

»Eine Droge?!« Mark fuhr zusammen, als Petri etwas mit seiner Hand tat, das ihm weitaus mehr Schmerz bereitete als die Schnitte. Er sah nicht einmal hin. »Willst du etwa behaupten, daß ich drogensüchtig war?«

»Ja«, antwortete sein Vater. »Du und die anderen und...« Er stockte einen winzigen Moment, in dem er Petri einen aufmerksamen und zugleich entschuldigenden Blick zuwarf. »Und Löbach.«

»Löbach?«

»Ja«, bestätigte sein Vater. »Ich habe es nicht gewußt - damals jedenfalls. Nicht, bis es zu spät war. Später hat er mir die ganze Geschichte gebeichtet, aber da war das Unglück bereits geschehen.«

»Welches Unglück?« fragte Mark. »Wovon zum Teufel sprichst du überhaupt? Was ist damals passiert?!«

»Ich muß ein wenig ausholen«, antwortete sein Vater. »Bitte hör mir einfach zu, Mark. Es... es fällt mir nicht leicht, die Geschichte zu erzählen. Nicht nach all der Zeit und vor allem nicht dir. Wenn du Fragen hast, beantworte ich sie dir hinterher, aber jetzt hör einfach zu, okay?«

»Okay«, murmelte Mark.

»Es begann neunzehnhundert ...« Sein Vater dachte einen Moment konzentriert nach und zuckte denn mit den Achseln. »... Sechsundsechzig oder siebenundsechzig, so genau weiß ich das selbst nicht mehr. Es spielt auch keine Rolle. Auf dem Höhepunkt der Drogenbewegung jedenfalls. LSD war gerade groß in Mode, Haschisch etwas für Weichlinge, und Chemiestudenten bastelten an jeder Ecke an neuen Halluzinogenen.«

»Designerdrogen gibt es heute auch an jeder Ecke«, sagte Mark.

»Sicher. Aber für uns war es etwas Besonderes. Etwas Neues. Etwas Aufregendes, verstehst du? Natürlich erkannten wir auch die Gefahren, die davon ausgingen, aber wir spürten auch die Faszination. Weißt du, Mark, für euch heute sind Drogen etwas ganz Normales, aber damals war es... eine neue Welt. Der erste Schritt in eine völlig neue Dimension. Ein neues, aufregendes Land, das es zu entdecken und zu erforschen galt. Und vergiß nicht, daß wir auch beruflich damit zu tun hatten.«

»Wir?«

»Löbach und ich«, antwortete sein Vater. »Er war schon damals mein Chefchemiker. Und ein guter Freund. Wir haben ein bißchen herumexperimentiert - dann und wann LSD eingeworfen oder ein bißchen mit neuem Zeug rumexperimentiert.« Er lächelte, als er Marks ungläubige Blicke bemerkte. »Ich war auch einmal jung, weißt du. Aber weiter. Wie gesagt, wir haben es dann und wann getan, und wir haben ziemlich rasch auch wieder damit aufgehört. Ich jedenfalls.«

»Löbach nicht?«

»Damals dachte ich es«, antwortete sein Vater. »Die Wahrheit habe ich erst sehr viel später erfahren. Aber wir hatten nicht nur privat mit Drogen zu tun. Immerhin - ich besitze eine pharmazeutische Fabrik, und Drogen waren schon damals mein täglich Brot, sozusagen.«

»Und außerdem ist da eine Menge Geld drin«, sagte Mark böse.

»Eine gewaltige Menge Geld sogar«, bestätigte sein Vater ungerührt. »Und? Was spricht dagegen? Ich habe niemals versucht, auf illegale Weise damit Geld zu verdienen. Ganz im Gegenteil - Löbach und ich haben jahrelang an einem Projekt gearbeitet, das das Drogenproblem vielleicht mit einem Schlag erledigt hätte. Du kennst die Versuche, die heutzutage mit Methadon durchgeführt werden.«

»Eine Ersatzdroge, ja.«

»Ein alter Hut«, sagte sein Vater heftig. »Löbach und ich hatten die Idee schon vor beinahe dreißig Jahren. Nur hieß sie nicht Methadon, sondern AZRAEL. Amphetamin Z 7 Reciprocal Ascarin Ethylmescalin Lophophinderivat.«

Das Wortungeheuer ging ihm so flüssig von den Lippen, als hätte er es unzählige Male ausgesprochen, aber in Mark löste es ein Schaudern aus. Jetzt, wo er endlich wußte, was dieses Wort bedeutete, hätte es seinen Schrecken eigentlich verlieren müssen. Aber das genaue Gegenteil war der Fall. »Hattet ihr Erfolg?« fragte er.

»Nein. Wir sind gescheitert - jedenfalls zuerst. Es war ein neuer, aber wie sich herausstellte auch riskanter Gedanke. AZRAEL war keine einzelne psychogene Substanz, sondern eine Mischung aus verschiedenen Drogen, die in ihrer Gesamtheit die Wirkung jeder einzelnen Droge übertroffen hätte - aber ohne süchtig zu machen. Das war die Idee. Wir haben eine Menge Geld und sehr viel Zeit in dieses Projekt gesteckt, und ein paarmal glaubten wir wirklich, kurz vor dem Durchbruch zu stehen. Aber wir hatten nie wirklich Erfolg. Löbach und ich haben mehr als zehn Jahre daran gearbeitet, aber am Schluß haben wir aufgegeben.«

»Löbach offensichtlich nicht«, sagte Mark leise. Die Kerkertür in seinem Inneren begann sich zu öffnen. Er erinnerte sich noch immer nicht wirklich, aber er spürte ein positives Echo auf die Worte seines Vaters.

»Nein, Löbach nicht«, bestätigte sein Vater. »Er hat weitergemacht - ohne mein Wissen und auf eigene Kosten. Er hat mir niemals verraten, was er wirklich getan hat, auch später nicht, als alles herauskam. Um ehrlich zu sein - ich habe ihn nicht gefragt. Ich glaube, ich wollte es nicht wissen. Ich war viel zu schockiert damals. Aber er hat ganz offensichtlich weitergemacht und tatsächlich eine vollkommen neue Droge entwickelt. Aber sie hatte nichts mehr mit dem zu tun, was uns vorschwebte, als wir mit unserer Arbeit begannen.« Er lachte bitter. »Ist das nicht komisch? Ihr würdet so etwas heutzutage wahrscheinlich eine Designerdroge nennen - wir hatten es schon vor zwanzig Jahren. Wie gesagt, ich weiß keine Details, aber es muß ungefähr so gewesen sein: Er entwickelte AZRAEL tatsächlich, und er ging einen Schritt weiter, als ich es jemals getan hätte. Er experimentierte damit - zuerst an sich selbst, dann an anderen. Vornehmlich Kindern.«

»Kindern?!«

»Jugendlichen, wenn dir das Wort lieber ist«, sagte sein Vater. »Und an deiner Mutter.«

Mark setzte sich kerzengerade auf. »Das ist nicht wahr?«

»Ich fürchte, doch«, sagte Petri leise.

»Sie lügen!« fuhr ihn Mark an. »Meine Mutter hat niemals Drogen genommen!«

»Mark, bitte«, sagte sein Vater, aber Mark ließ ihn gar nicht zu Wort kommen, sondern schrie ihn erneut und noch lauter an: »Das ist nicht wahr!«

»Vielleicht ist es besser, wenn ich den Rest der Geschichte erzähle«, sagte Petri. »Ich habe vielleicht ein wenig mehr... Abstand.«

»Sie?!« fauchte Mark. »Ich dachte, Löbach und Sie wären gute Freunde gewesen?«

»Das waren wir auch, aber jemanden zu mögen bedeutet nicht, alles gutheißen zu müssen, was er tut. Was dein Vater erzählt, ist die Wahrheit, Mark. Deine Mutter war tablettensüchtig, schon lange vor der Geschichte mit Löbach. Valium. Schlaftabletten, Schmerzmittel... du kennst das ja. Sie nahm alles, was sie bekommen konnte.«

»Von Ihnen, nehme ich an.«

»Von mir und von anderen«, bestätigte Petri ungerührt. »Ja. Als ich merkte, wie es um sie stand, habe ich ihr nichts mehr gegeben - aber vergiß nicht, welchen Beruf dein Vater hat. Es war eine Kleinigkeit für sie, an alles heranzukommen, was sie haben wollte. Auf diese Weise ist sie wahrscheinlich auch in Löbachs Drogengruppe hineingerutscht. Sie haben sich damals einmal die Woche getroffen, um gemeinsam auf einen Trip zu gehen. Du weißt, wo.«

»In... in einem alten Keller«, murmelte Mark. Die Tür öffnete sich weiter, und dahinter war etwas. Etwas Großes, Häßliches, das herauswollte.

»In der Fabrik deines Vaters, ja«, bestätigte Petri. »Wir haben das meiste erst später von der Polizei erfahren, aber es muß wohl so gewesen sein, daß sie sich mindestens zwei Jahre lang regelmäßig dort trafen. Die meisten waren nicht älter als du damals - elf, zwölf Jahre. Löbach war so eine Art Guru für sie, auch wenn das Wort damals noch nicht so in Mode war wie heute. Sie haben dieses AZRAEL gemeinsam eingenommen, und wenn auch nur die Hälfte von dem stimmt, was Löbach uns später erzählt hat, dann muß es seine kühnsten Erwartungen noch übertroffen haben. Der perfekte Supertrip, ohne Nebenwirkungen und ohne Suchtgefahr.«

»Und was ist passiert?« fragte Mark. Warum fragte er überhaupt? Er wußte es. Er hatte es im Traum gesehen. Er hatte sie alle umgebracht.

»Das wissen wir nicht«, sagte Petri. »Nicht genau. Wir wissen auch nicht genau, wie du in die Gruppe hineingekommen bist - vielleicht über deine Mutter oder über Löbachs Tochter. Du warst damals mit ihr befreundet, erinnerst du dich?«

Mark schüttelte den Kopf. Diese Information wurde von der lautlosen Stimme in seinem Inneren nicht bestätigt.

»Irgend etwas ist passiert«, fuhr Petri fort. »Etwas Entsetzliches. Ich vermute, irgendeine Nebenwirkung AZRAELs, mit der Löbach nicht gerechnet hat. Alles, was wir wissen, ist, daß es zu einer Katastrophe kam. Von den dreizehn Mitgliedern der Gruppe waren vier tot, und sechs weitere trugen irreparable geistige Schäden davon.«

»Und die drei anderen?« fragte Mark.

»Einer war Löbach selbst«, antwortete Petri. »Die beiden anderen du und deine Mutter. Du hattest einen Schock und schwere Vergiftungserscheinungen, aber irgendwie hast du es verkraftet. Vielleicht, weil du noch nicht lange genug dabei warst.«

»Nur meine Mutter und ich sind davongekommen?« fragte Mark. »Was für ein Zufall.«

»Keineswegs«, antwortete Petri. »Allerhöchstens insofern, daß ich als erster Arzt bei euch war - weil dein Vater mich gerufen hat. Natürlich habe ich mich zuerst um dich und deine Mutter gekümmert, und dann um die anderen. Vielleicht war es das. Du hast es jedenfalls überstanden. Deine Mutter hatte weniger Glück.«

»Wieso?«

»Weil sie sich an alles erinnerte, Mark«, antwortete sein Vater. »Sie ist nie damit fertig geworden. Sie hat die Wirkung des AZRAEL überstanden, aber sie ist an dem zerbrochen, was sie getan hat.«

»Das... das ist nicht wahr«, stammelte Mark. »Ich glaube dir nicht. Du lügst. Ihr lügt beide!«

»Nein, Mark, das tun wir nicht«, sagte Petri. »Und du weißt es. Vielleicht noch nicht jetzt, aber bald. Du wirst dich erinnern. Jetzt, wo du einmal weißt, was wirklich geschehen ist, werden deine Erinnerungen zurückkommen. Wahrscheinlich ziemlich schnell. Ich hoffe, du wirst damit fertig.«

»Ihr lügt!« schrie Mark erneut. »Das ist alles nicht wahr! Ich glaube euch nicht! Löbach war bis gestern noch auf freiem Fuß! Er war -«

»Er ist nie verhaftet worden«, unterbrach ihn sein Vater sanft.

»Und das soll ich glauben?« Mark lachte böse. »Vier Tote und sechs andere so gut wie tot, und Löbach soll nicht belangt worden sein? Wem willst du das erzählen?«

»Die Polizei hat niemals herausgefunden, daß er hinter der Sache gesteckt hat«, sagte sein Vater. »Offiziell war es einfach ein Drogenunfall. Eine Gruppe Jugendlicher, die mit dem Feuer gespielt und sich dabei verbrannt hat. Löbachs Name ist nicht einmal gefallen. Er war nie in Verdacht.«

Mark starrte seinen Vater an. Er wußte genau, was seine Worte wirklich bedeuteten, aber er weigerte sich einfach, es zu glauben. Nicht einmal sein Vater würde das tun.

»Weil du ihn gedeckt hast«, flüsterte er.

Sein Vater schwieg.

»Warum? Aus Freundschaft?« So, wie er das Wort aussprach, hörte es sich an wie ein Fluch. Petri fuhr sichtbar zusammen, aber das Gesicht seines Vaters blieb starr.

»Nein«, sagte er mit leiser, ausdrucksloser Stimme. »Ich hätte ihn umgebracht, Mark. Wenn Petri mich nicht zurückgehalten hätte, hätte ich ihn damals getötet. Ich habe ihn gedeckt, um dich zu schützen. Dich und deine Mutter.«

»Oh ja, und Löbach gleich mit«, sagte Mark höhnisch. »Den Mann, der uns das alles angetan hat - wenn es die Wahrheit ist.«

»Wir hatten keine Zeit, um nachzudenken«, sagte sein Vater. »Die Polizei war bereits auf dem Weg. Wir haben deine Mutter und dich weggebracht, und Löbach auch. Was hätten wir tun sollen? Wenn die Polizei Löbach verhört hätte, wäre alles herausgekommen. Wir hatten keine Wahl!«

»Ich verstehe«, sagte Mark düster. Er starrte den Arzt an, und sein Blick mußte regelrecht haßerfüllt sein, denn Petri wich instinktiv einen halben Schritt vor ihm zurück. »Deshalb sind die anderen nicht durchgekommen, nicht? Nicht, weil Sie uns als erste behandelt haben, Doktor, sondern weil Sie uns als einzige behandelt haben. Ihr habt meine Mutter und Löbach und mich weggebracht und die anderen einfach verrecken lassen!«

»So war es nicht«, sagte sein Vater scharf. »Der Doktor hat getan, was in seiner Macht stand, aber es war zu spät.«

»Zu spät für wen?!« fragte Mark. »Für dich? Worum hattest du Angst? Um mich und Mutter oder um deinen guten Ruf? Du wolltest uns schützen, wie? Und du hast keine Sekunde lang daran gedacht, daß es deiner Firma schaden könnte, wenn die Geschichte herauskäme?«

Sein Vater sagte nichts, aber er sah plötzlich sehr betroffen aus. Der Schmerz, der bisher nur in seinem Blick gewesen war, breitete sich auf seinem ganzen Gesicht aus, wie ein Tintenfleck in einem Blatt Papier. Es war, als altere er vor Marks Augen in wenigen Sekunden um ein Jahrzehnt. Schließlich drehte er sich wortlos herum, stellte sein Glas auf den Tisch und verließ mit langsamen Schritten die Bibliothek.

»Das war sehr grausam von dir, Mark«, sagte Petri leise. »Und ungerecht.«

»Ungerecht?!« Mark schrie das Wort beinahe. »Sie wissen ja nicht, was Sie da reden, Doktor.«

»Dein Vater trägt keine Schuld an dem, was passiert ist.« Petri fuhr sich mit beiden Händen durch das Gesicht. Er sah sehr müde aus. »Vielleicht hast du sogar recht, und wir hätten all das nicht tun dürfen, Mark. Aber wir wollten dich nur schützen. Dich und deine Mutter. Dein Vater hat sie sehr geliebt, Mark. Er tut es noch heute.«

»Mein Vater weiß nicht einmal, was das Wort Liebe bedeutet«, sagte Mark bitter.

Petri seufzte. »Mark, du -«

»Lassen Sie mich in Ruhe!« fiel ihm Mark ins Wort. »Bitte, Doktor Petri - ich habe genug gehört. Mehr, als ich wollte.«

»Aber du hast anscheinend nicht -«

Petri hatte anscheinend nicht begriffen, wie es in Mark wirklich aussah. Aber seine Kraft war aufgebraucht. Er konnte sich nicht mehr beherrschen, und er wollte es auch gar nicht mehr. In seinem Kopf kreiste ein außer Kontrolle geratenes Kaleidoskop aus Bildern, Worten, Erinnerungen und Gefühlen, und nichts von alledem war positiv. Er wollte schreien, irgend etwas packen und zerschlagen, irgend etwas tun, nur nicht mehr dasitzen und sich diesem schrecklichen Wissen stellen, daß Petri und sein Vater die Wahrheit gesagt hatten. Ohne Vorwarnung sprang er auf und riß den Arm in die Höhe, wie um Petri tatsächlich zu schlagen.

Aber er tat es nicht. Petri prallte zurück und starrte ihn entsetzt an, aber Mark stand einfach sekundenlang da, zitternd, mit erhobenem Arm und verzerrtem Gesicht, ehe er auf dem Absatz herumwirbelte und aus dem Haus lief, so schnell er konnte.

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