3. Kapitel

Das Geräusch, mit dem der Körper auf dem Wagendach aufgeschlagen war, würde er wohl nie wieder vergessen. Dabei war es nicht einmal besonders laut gewesen; ein sonderbar weicher, dumpfer Laut - das Geräusch eben, das ein menschlicher Körper verursachte, der mit der Beschleunigung auf ein Wagendach aufprallte, die er bei einem Sturz aus gut fünfundzwanzig Metern Höhe erfuhr. Es hatte ein bißchen wie eine überreife Tomate geklungen, die man auf eine Tischplatte fallen läßt. Das Ergebnis sah auch ganz ähnlich aus - nur daß es sich nicht um eine Tomate gehandelt hatte, sondern um einen Mann von ungefähr hundertachtzig Pfund Gewicht, dessen Überreste die beiden Krankenwagenfahrer noch immer von der Straße... entfernten, soweit sie nicht auf dem Wagendach oder auf Hansens Uniform klebten, hieß das.

Bremer musterte seinen jüngeren Kollegen mit einer Mischung aus Mitleid und Erleichterung. Mitleid, weil Hansen nach immerhin fünf Minuten noch immer nicht aufgehört hatte, sich zu übergeben, obwohl sein Magen längst leer war und er nur noch bittere Galle hervorwürgte, und Erleichterung, daß nicht er es gewesen war, dem dieser Trottel beinahe auf den Kopf gefallen wäre. Für den Toten selbst empfand er nicht einmal eine Spur von Mitleid, wohl aber einen gehörigen Zorn, und zwar deutlich mehr als nur eine Spur. Bremers privater Meinung nach - die sich von der des Polizeiobermeisters Peter Bremer manchmal gehörig unterschied - hatte jeder das Recht, über sein Leben frei zu entscheiden und es im Extremfall auch zu beenden, wann und wo er es wollte. Aber verdammt noch mal - niemand hatte das Recht, es so zu tun. Selbstmord war eine Sache, eine Frage, über die sich die Psychologen und ihre gottgesandten Kollegen mit dem weißen Kragen die Köpfe heiß reden sollten, wenn es ihnen Spaß machte. Doch den Männern, die verzweifelt versuchten, es einem auszureden, aus fünfundzwanzig Metern Höhe vor die Füße zu springen, das gehörte sich einfach nicht. Es war nicht nur unanständig, es war auch unästhetisch. Von der Zumutung, die es für die armen Kerle bedeutete, die die ganze Schweinerei hinterher auflesen mußten, einmal ganz zu schweigen.

Angesichts der Situation, in der er sich befand, waren diese Gedanken schon absurd - zumindest aber so abwegig, daß es ihm selbst auffiel. Prompt meldete sich sein schlechtes Gewissen. Er hätte jetzt Bedauern verspüren sollen, angesichts des Lebens, das hier so sinnlos weggeworfen worden war, oder doch zumindest deutlich mehr Mitgefühl für seinen Kollegen, der auf der anderen Seite des demolierten Daimler im Rinnstein hockte und sich noch immer die Seele aus dem Leib kotzte. Aber für den Toten empfand er eigentlich nur Verachtung, und was Hansen anging, so überwog seine Erleichterung, daß der es gewesen war, der die ganze Schweinerei abbekommen hatte, sein Mitleid bei weitem. Dabei war Bremer an sich alles andere als kaltschnäuzig oder gar ein Zyniker. Vermutlich, dachte er, war dies wohl seine Art, mit dem Entsetzlichen fertig zu werden. Auch er stand wohl noch unter einer Art Schock, auch wenn er keine der üblichen äußeren Anzeichen dafür spürte. Weder zitterten seine Hände und Knie, noch war ihm kalt oder fühlte er sich irgendwie benommen. Doch er hatte das erste Mal seit zwei Jahren wieder Appetit auf eine Zigarette, einen regelrechten Heißhunger sogar. Einen Moment lang erwog er ernsthaft den Gedanken, zum Krankenwagen hinüberzugehen und den Arzt um eine Zigarette zu bitten. Dem Mann war es wahrscheinlich ebenso untersagt wie ihm, in der Öffentlichkeit zu rauchen, solange er in Uniform und im Dienst war, aber angesichts dessen, was er hier erlebt hatte, pfiff er wohl auf diese Vorschrift, denn er qualmte ununterbrochen, und seine Hände zitterten sichtbar. Der Selbstmörder war immerhin zuvorkommend genug gewesen, auf das Eintreffen des Krankenwagens zu warten, ehe er sprang. Und der Arzt war noch relativ jung. Auf keinen Fall alt genug, um so etwas schon öfter erlebt zu haben.

Wahrscheinlich war das niemand, dachte Bremer und verwarf zugleich auf einer zweiten, parallellaufenden Ebene seines Bewußtseins die Idee, nach zwei Jahren wieder mit dem Rauchen zu beginnen. Sein Verlangen nach einer Zigarette war stärker denn je, aber er würde diesem Trottel verdammt noch mal nicht auch noch den Gefallen tun und nach so langer Zeit wieder mit dem Laster beginnen, das er sich so mühsam abgewöhnt hatte.

Erneut fiel ihm auf, wie vollkommen lächerlich das war, was in seinem Kopf vorging. In Anbetracht dessen, was er eigentlich tun sollte. Also wohl doch, so eine Art Schock - was ja auch nur verständlich war. Noch vor fünf Minuten hatte Bremer geglaubt, daß es nicht mehr viel gäbe, was ihn noch erschrecken konnte. In achtzehn Jahren Streifendienst bekam man so ziemlich alles an Gewalt und Perversitäten zu Gesicht, was man sich nur vorstellen konnte, und auch das eine oder andere, was man sich eigentlich nicht vorstellen konnte.

Aber das war vor fünf Minuten gewesen, bevor dieser Idiot sich von seinem Balkon im achten Stock gestürzt und sowohl seinem Leben als auch der Existenz eines nagelneuen Daimler Benz der S-Klasse ein ebenso dramatisches wie abruptes Ende gesetzt hatte. So ganz nebenbei hatte er Bremer und seinen Kollegen dabei auch in akute Lebensgefahr gebracht. Hätte er nicht so zielsicher den Wagen getroffen, sondern wäre einen einzigen Meter weiter rechts oder links heruntergekommen ...

Bremer brach den Gedanken mit einer bewußten Anstrengung ab. Er gab sich zwar selbst einen gewissen Dispens, aber er mußte trotzdem aufpassen, daß er nicht hysterisch wurde.

Er sah auf die Uhr. Zwei - und damit seine Schicht - war seit zehn Minuten vorbei. Bremer seufzte. Hansen und er waren auf dem Weg zum Revier gewesen, als der Funkspruch kam. Hätte der Selbstmörder noch ein paar Augenblicke gewartet, dann wäre er jetzt schon auf dem Weg nach Hause mit der Aussicht auf ein kaltes Bier und eine kleine Mahlzeit aus dem Kühlschrank. Vielleicht hätte er sich auch noch einen Film aus der Videothek mitgenommen, die auf dem Weg lag, und vielleicht...

Zu viele Vielleicht, dachte er. Nicht vielleicht, sondern mit ziemlicher Sicherheit würde diese Nacht noch verdammt lang werden. Er strich die Aussicht auf einen Clint-Eastwood-Film ebenso aus seinem Plan für den Rest der Nacht wie die auf eine Mahlzeit oder gar ein kaltes Bier. Wenn die Sache hier sich auch nur halb so entwickelte, wie er fürchtete, dann konnte er froh sein, wenn er überhaupt noch Zeit fand, nach Hause zu fahren und sich ein paar Stunden aufs Ohr zu legen, statt gleich dazubleiben und seine nächste Schicht anzutreten.

Sein Funkgerät meldete sich. Bremer zog den Apparat aus der Jackentasche, schaltete ihn ein und sah ganz automatisch nach oben zu dem Balkon im achten Stock des Apartmenthauses. Hinter den offenstehenden Glastüren herrschte noch immer Dunkelheit. Offensichtlich hatte es dieser Trottel von Hausmeister immer noch nicht geschafft, die Tür aufzubekommen.

Er drückte die Sprechtaste. »Ja?«

»Peter?«

Das war Clausens Stimme, der Fahrer des anderen Streifenwagens, der dreißig Meter entfernt mit noch immer zuckendem Blaulicht quer auf der Fahrbahn stand und die zweite Hälfte der improvisierten Straßensperre bildete, die sie errichtet hatten. Nicht, daß das irgend etwas nutzte. Der Menschenmenge zufolge, die hier innerhalb der letzten Viertelstunde zusammengekommen war, hätte man meinen können, sich an einem langen Samstag auf dem Ku'damm zu befinden, nicht mitten in der Nacht in einer Wohngegend an der Peripherie der Stadt.

»Nein, hier ist der Kaiser von China«, antwortete Bremer gereizt. Wen um alles in der Welt erwartete Clausen, wenn er ihn anfunkte?

»Ich fürchte, wir kommen hier nicht weiter.« Die Verbindung war zu schlecht, um sagen zu können, ob Clausen seinen aggressiven Ton zur Kenntnis genommen hatte oder nicht. »Ruf doch lieber einen Schlosser an.«

»Was ist so schwer daran, eine Tür aufzubrechen?« fragte Bremer, noch immer im gleichen gereizten Ton. »Wenn der Hausmeister es nicht schafft, dann tritt sie meinetwegen ein. Ihr werdet doch noch so eine blöde Tür aufkriegen, oder?«

Diesmal verging ein spürbarer Moment, ehe Clausen antwortete. »Was ist denn los mit dir? Wieso bist du so gereizt?«

Du solltest die Sauerei hier mal sehen, dachte Bremer, dann wüßtest du, warum ich gereizt bin. Aber er sprach diese Antwort nicht laut aus. Clausens Reaktion machte ihm klar, wie es wirklich um seine Verfassung bestellt war. Er verlor so gut wie nie die Beherrschung und niemals die Fassung, aber es kam auch höchst selten vor, daß jemand sein Gehirn über die Uniform seines Partners verteilte.

»Es ist nichts«, sagte er ausweichend. »Entschuldige. Was ist nun mit der Tür? Kriegt ihr sie auf oder nicht?«

»Keine Chance«, antwortete Clausen. »Fort Knox ist nichts dagegen. Wir brauchen einen Schlosser, und zwar einen guten. Er soll ein Schweißgerät mitbringen.«

»Wie bitte?« fragte Bremer überrascht.

»Komm rauf und sieh es dir selbst an, wenn du mir nicht glaubst«, erwiderte Clausen. »Das hier ist die reinste Festung. Der Kerl muß vollkommen paranoid gewesen sein - oder er hat etwas ziemlich Wertvolles in seiner Wohnung.«

Bremer starrte das Funkgerät in seiner Hand für einen Moment lang so feindselig an, als trüge es ganz allein die Schuld an dem ganzen Fiasko. Er hatte plötzlich Lust, es auf den Boden zu werfen und kräftig darauf herumzutrampeln. Statt dessen drückte er erneut die Sprechtaste und sagte in resignierendem Ton: »Also gut. Ich werde sehen, was ich tun kann. Nehmt euch mittlerweile schon mal die Nachbarn vor. Vielleicht haben sie ja irgend etwas gesehen oder gehört.«

Er schaltete ab, steckte den Apparat achtlos in die Jackentasche und ging zu seinem Streifenwagen zurück. Der Passat stand mit offener Heckklappe und noch immer zuckendem Blaulicht nicht weit hinter dem Krankenwagen, und zumindest hier funktionierte die psychologische Barriere, die das Blaulicht und die Signalfarben des Wagens bilden sollten. Natürlich war auch diese Seite der Straße von Neugierigen belagert, doch sie hielten einen deutlichen Abstand zu den beiden Fahrzeugen. Als Bremer näher kam, wichen einige der zuvorderst Stehenden sogar vor ihm zurück oder versuchten es zumindest, bis sie von den Gaffern hinter ihnen aufgehalten wurden. Die meisten senkten hastig den Blick, als sie ihn bemerkten, oder machten sich auf irgendeine andere Weise zum Narren. Wahrscheinlich wären sie alle sehr erstaunt gewesen, hätten sie gewußt, wie Bremer wirklich über sie dachte - nämlich so gut wie gar nichts. Am Anfang war er sehr erbost gewesen, wenn Verbrechen, Gewalttätigkeit oder einfach der Anblick eines Unfalls Neugierige in Scharen anzogen. Doch mit den Jahren hatte sich diese gerechte Empörung gelegt, und mittlerweile nahm Bremer sie gar nicht mehr zur Kenntnis. Unfälle und Gewalt zogen Neugierige an, so war das nun einmal. Bremer hatte gelernt, sie zu ignorieren, solange sie seine Arbeit nicht zu sehr behinderten.

Er öffnete die Beifahrertür, streckte die Hand nach dem Funkgerät aus, und im gleichen Moment meldete sich der Apparat von sich aus. Bremer lächelte flüchtig über diesen Zufall, drückte die Sprechtaste und meldete sich.

Es war die Zentrale. Im Hintergrund der Verbindung, die - obwohl über viel größere Entfernung - ungleich klarer war als die gerade zu Clausen, hörte er das übliche Stimmengewirr, Telefonklingeln und elektronische Piepsen der Funkleitstelle.

»Gut, daß ihr euch meldet«, begann er. »Wir brauchen hier einen Schlosser. Und bevor ihr es sagt - ich weiß, wie spät es ist. Aber es ist wohl nötig. Der Hausmeister kriegt die Tür nicht auf.«

»Okay, wir schicken den Schlüsseldienst und -«

»Damit wird es kaum getan sein«, fuhr Bremer fort. »Clausen meint, er sollte ein Schweißgerät mitbringen, und jetzt frag mich bloß nicht, warum. Anscheinend handelt es sich um eine etwas stabilere Tür.«

»Ich sehe zu, was ich machen kann«, versprach sein Kollege nach einem Moment verblüfften Schweigens. »Aber ihr solltet trotzdem euer Möglichstes versuchen. Ihr bekommt nämlich gleich hohen Besuch. Sendig ist auf dem Weg zu euch.«

»Sendig?« Bremer richtete sich überrascht im Sitz auf. »Der Alte selbst!«

»Sieht so aus. Ich schätze, daß er in zehn Minuten bei euch ist, vielleicht sogar eher.«

»Aber wieso?« murmelte Bremer verstört. Die Frage galt sehr viel weniger dem Mann in der Funkleitzentrale als ihm selbst. Einmal ganz davon abgesehen, daß niemand im Revier Sendig möchte - genaugenommen kannte Bremer auch sonst nirgendwo jemanden, der das getan hätte -, war Sendig nicht irgendein Kriminalbeamter, sondern der Leiter der Mordkommission. Und so ganz nebenbei, beliebt oder nicht, einer der unbestritten fähigsten Kriminalbeamten der Stadt. »Das ist doch nur ein ganz normaler Selbstmord - was hat Sendig damit zu tun?«

»Keine Ahnung. Er war wohl zufällig hier, als die Meldung reinkam. Ich hab's selbst nicht miterlebt, aber als er die Adresse gehört hat, muß er wie eine Rakete in die Luft gegangen sein, Ich dachte mir, das interessiert euch vielleicht.«

»Stimmt«, antwortete Bremer verwirrt. »Danke für die Warnung. Und denkt an den Schlosser!«

Er schaltete das Gerät aus, ohne sich abzumelden, und stieg aus dem Wagen. Er war vollkommen verwirrt und sehr viel bestürzter, als er zugeben wollte. Sendig war ein Ekel, daran führte kein Weg vorbei, aber er war ein tüchtiges Ekel, und schon gar keines, das seine Zeit damit vergeudete, sich wichtig zu machen. Zehn Minuten nach zwei war keine Uhrzeit für einen Mann wie ihn, sich zu produzieren. Wenn er hierherkam, dann hatte er einen Grund.

Bremer warf die Wagentür mit einem Knall ins Schloß, machte drei Schritte auf das Haus zu, von dessen Balkon der Selbstmörder gesprungen war, und bog dann noch einmal ab, um zu Hansen zu gehen. Er mußte den demolierten Mercedes dazu umrunden, und er tat es in größerem Abstand, als nötig gewesen wäre, denn der Anblick erfüllte ihn noch immer mit einem fast körperlichen Unbehagen. Es war erstaunlich, dachte Bremer, welchen Schaden etwas so Weiches wie ein menschlicher Körper anrichten konnte, wenn es nur aus genügend großer Höhe fiel. Der Wagen war vollkommen zertrümmert. Das Dach war eingedrückt, als wäre ein Panzer darüber hinweggerollt, und nicht eine einzige Scheibe war heil geblieben. Überall klebte erst halb eingetrocknetes Blut, und der Anblick seines Kollegen, der auf der anderen Seite des Wagens im Rinnstein hockte, trug auch nicht unbedingt dazu bei, Bremers Stimmung zu heben.

Hansen hatte aufgehört, sich zu übergeben, aber er sah noch immer aus, als wäre er mehr tot als lebendig. Sein Gesicht war kreidebleich, seine Hände zitterten ununterbrochen. Eine schweißnasse Haarsträhne hing ihm ins Gesicht, was seinem Blick etwas Irres gab, fand Bremer.

Zwei Schritte vor ihm blieb er stehen, sah einen Moment auf ihn herab und ließ sich dann in die Hocke sinken, damit sich ihre Gesichter auf gleicher Höhe befanden. Er ersparte sich die Frage, ob alles in Ordnung war - das wäre nicht einmal ein schlechter Witz gewesen in diesem Augenblick -, sondern wartete darauf, daß Hansen von sich aus das Wort ergriff. Aber der Junge schwieg. Er starrte ihn nur an, und das auf eine Art, die Bremer einen kalten Schauer über den Rücken laufen ließ. Sein Blick flackerte und schien irgendwie durch ihn hindurchzugehen, auf einen Punkt weit hinter ihm gerichtet, und was immer er dort sehen mochte, war nichts Angenehmes.

Zum ersten Mal, seit dieser Alptraum begonnen hatte, machte sich Bremer wirklich Sorgen um Hansen. Bisher war er selbst viel zu schockiert gewesen, um mehr als einen flüchtigen Gedanken an seinen jüngeren Kollegen zu verschwenden. Mitleid aufzubringen, wenn man im Grunde selbst welches brauchte, war nicht ganz einfach. Aber der Anblick des zitternden Häufchens Elend vor ihm machte ihm mit erschreckender Deutlichkeit klar, um wieviel jünger Hansen war. Dreiundzwanzig - im Grunde noch nicht viel mehr als ein Kind, dem man eine grüne Uniform und eine Waffe gegeben hatte und das Versprechen, damit schon gegen alles gefeit zu sein.

Und das stimmte einfach nicht. Hansen war seit einem halben Jahr auf der Straße, und er hatte garantiert noch nichts Derartiges erlebt... Was von dem Selbstmörder nicht an seiner Uniform klebte, das hatte sich vor seinen Augen auf dem Wagendach verteilt. Ein einziger Blick in Hansens Augen reichte Bremer, um zu wissen, daß er diesen Schock vielleicht niemals wirklich verwinden würde.

Mit einem Mal empfand er Mitleid. Aber selbst jetzt war es nur ein schwaches Gefühl. Viel stärker war der Zorn, der plötzlich in ihm emporkochte. Ein Zorn, der dem Verrückten galt - nein, dem Verbrecher, der sich vor ihren Augen vom Balkon gestürzt und damit vielleicht nicht nur sein eigenes Leben zerstört hatte, sondern auch das dieses Jungen, der einfach noch ein paar Jahre gebraucht hätte, um mit etwas wie dem hier fertig zu werden.

Er war eigentlich gekommen, um nach Hansen zu sehen und ihm von Sendigs bevorstehender Ankunft zu berichten und ihm zugleich den Rat zu geben, sich ein bißchen am Riemen zu reißen. Aber das ersparte er sich. Statt dessen fragte er in einem Ton, der selbst für seine Verhältnisse ungewöhnlich sanft war: »Kannst du aufstehen?«

Im ersten Moment glaubte er, Hansen hätte die Worte gar nicht gehört. Sein Blick ging immer noch durch Bremer hindurch zu jenem imaginären Punkt irgendwo weit oben auf der Skala des Entsetzens. Aber dann, gerade als Bremer seine Frage wiederholen wollte, antwortete er doch.

»Es... geht schon wieder«, murmelte er. »Es war nur... entschuldige. Es kam so überraschend, und...« Er verhaspelte sich, brach schließlich ganz ab und fuhr sich mit dem Handrücken über die Lippen. Bremer unterdrückte das Ekelgefühl, das beim Anblick der glitzernden Feuchtigkeit darauf in seinem Magen emporsteigen wollte, und half Hansen, sich ganz zu erheben.

»Ich brauche nur ein paar Minuten«, murmelte Hansen. »Laß mich einfach noch ein bißchen im Wagen sitzen und ausruhen.«

»Sicher«, antwortete Bremer. Er überzeugte sich davon, daß Hansen aus eigener Kraft stehen konnte, griff dann aber vorsichtshalber doch nach seinem Arm und führte ihn behutsam über die Straße, zurück zum Krankenwagen.

Die Türen des großen Mercedes-Transporters standen weit offen, und die beiden Sanitäter und der Arzt saßen auf den lederbezogenen Liegen und rauchten. Bremer hätte nicht sagen können, wer von ihnen blasser war und stärker zitterte, doch alle drei sahen aus, als wären sie am Ende ihrer Kraft. Als Hansen und Bremer näher kamen, kletterte einer der Sanitäter aus dem Wagen und kam ihnen entgegen, doch Bremer machte eine abwehrende Handbewegung und deutete zugleich mit einem Nicken auf den Arzt.

»Ich glaube, Sie sollten sich ein wenig um meinen Kollegen kümmern«, bat er.

Trotz des unübersehbaren Zustands des Schocks, in dem sich auch der Arzt befand - Bremer registrierte nebenher, daß er kaum älter sein konnte als Hansen -, legte er eine erstaunliche Professionalität an den Tag. Mit einer einzigen Bewegung war er aus dem Wagen und bei ihnen, und seine immer noch zitternden Hände hinderten ihn nicht daran, Hansen am Arm zu ergreifen und zum Krankenwagen zu führen. Mit Hilfe eines der Sanitäter bugsierte er ihn auf eine der beiden Liegen und untersuchte ihn unverzüglich, rasch, aber trotzdem sehr gründlich.

»Der Mann hat einen schweren Schock«, sagte er, während er bereits eine Spritze aufzog und den Sanitäter mit routinierten Gesten anwies, ihm zur Hand zu gehen. »Sie hätten viel eher kommen sollen.«

Bremer schwieg. Er sah wortlos zu, wie der Arzt Hansen eine Injektion verabreichte, dann ebenso rasch und routiniert eine Infusion anlegte. Hansen protestierte schwach, aber es hätte ihm vermutlich auch nichts geholfen, hätte er es energischer getan.

»Ist es schlimm?«

»So schlimm ein Schock eben ist«, antwortete der Arzt. »Es besteht keine akute Gefahr, wenn Sie das meinen. Trotzdem nehmen wir ihn mit ins Krankenhaus - nur für alle Fälle. Falls Sie nichts dagegen haben, heißt das.«

Diese Frage, dachte Bremer, zeugte schon von etwas weniger Professionalität. Ärzte gehörten normalerweise zu dem Personenkreis, der den allerwenigsten Respekt vor seiner Uniform an den Tag legte.

Aber er hatte auch nichts dagegen, ganz im Gegenteil. Völlig losgelöst von der medizinischen Seite war es wohl besser für Hansen, wenn er nicht mehr da war, wenn Sendig eintraf. Sendig haßte Polizisten, die Gefühle zeigten.

Der Gedanke an Sendig erinnerte ihn wieder daran, daß er nicht mehr viel Zeit hatte. Er wollte sich umdrehen und nun wirklich zu Clausen und dem Hausmeister hinaufgehen, aber der Arzt rief ihn zurück.

»Bitte warten Sie noch einen Moment«, sagte er. »Da... ist noch etwas, was ich Ihnen zeigen möchte.«

Bremer blieb gehorsam stehen, aber er fühlte sich plötzlich noch unwohler. Der Arzt hatte ihn nicht einmal angesehen, während er sprach, sondern stand weiter über Hansen gebeugt da und hantierte an seinem Arm herum, aber irgend etwas am Klang seiner Worte beunruhigte Bremer. Mehr, als er sich selbst erklären konnte. Mehr, als ihm lieb war. Vielleicht war es das unmerkliche Stocken gewesen, diese winzige Pause, die fast jeder einlegte, bevor er etwas aussprach, was ihm unangenehm war. Oder ihm angst machte.

Hinter dem Schutzschild dieses Gedankens schlich sich wieder die Hysterie heran, das spürte Bremer. Er gestattete ihr nicht, weiter Besitz von ihm zu ergreifen, als sie es ohnehin schon getan hatte, sondern fragte mit bewußt fester Stimme: »Und was?«

Der Arzt machte eine Kopfbewegung in die Richtung des Toten, der unter einem weißen Tuch verborgen auf der Straße lag. Er sah ganz bewußt nicht direkt in seine Richtung, und irgendwie gelang es ihm sogar, aus dem Wagen zu steigen und vor Bremer her zu dem Toten zu gehen, ohne ihn anzublicken.

»Ich bin nicht sicher, ob es etwas für die Polizei ist oder eher für die Kollegen von der Psychiatrie«, sagte er, während er sich umständlicher als nötig in die Hocke sinken ließ und sehr viel umständlicher als notwendig nach dem Tuch griff, um es anzuheben. »Aber ich denke, es ist auf jeden Fall besser, wenn ich es Ihnen zeige.«

Bremer wappnete sich innerlich gegen den Anblick, der sich ihm gleich bieten würde. Aber was unter dem Tuch zum Vorschein kam, war nicht annähernd so schlimm, wie er erwartet hatte. Es war schlimm, aber sein Kurzzeitgedächtnis schien einen eigenen Sinn für Dramatik entwickelt zu haben, denn Bremer hatte den Leichnam in sehr viel üblerem Zustand in Erinnerung. Aber als er ihn das letzte Mal gesehen hatte, da hatte er halb auf dem Wagendach und halb auf der Straße gelegen, verdreht und mit zerschmetterten Knochen, und außerdem war der Arzt rücksichtsvoll genug, sein Gesicht verdeckt zu lassen, das den schlimmsten Anblick geboten hatte.

»Sehen Sie, hier.«

Bremer schluckte die bittere Galle herunter, die sich unter seiner Zunge angesammelt hatte, und beugte sich taktvoll über den Toten, um dem ausgestreckten Zeigefinger des Notarztes zu folgen. Ein schwacher Geruch ging von dem Toten aus, nicht deutlich genug, um ihn zu identifizieren, aber trotzdem vage bekannt. Sein Magen begann nun doch zu revoltieren, aber er sah auch fast sofort, was dem Arzt aufgefallen war.

»Diese Wunden hier.« Der Zeigefinger folgte, in fünf Zentimetern Höhe schwebend, einer Anzahl parallellaufender tiefer Schnitte, die den eingedrückten Brustkorb zusätzlich verunstalteten. Es war nicht leicht, unter all dem eingetrockneten Blut, dem Schmutz und den zahllosen Schrammen und Abschürfungen, die den Torso des Mannes im Grunde in eine einzige große Schürfwunde verwandelten, etwas zu erkennen, aber es gelang Bremer: Die Schnitte verliefen parallel und gerade, aber auch spitz gegeneinander geneigt und sich kreuzend, als hätte jemand mit tauben Fingern und einem zu großen Stück stumpfer Kreide versucht, etwas auf eine nasse Tafel zu schreiben. Und sie waren sehr tief, teilweise bis auf den weißen Knochen reichend. Bremer versuchte, sich den Schmerz vorzustellen, den ein solcher Schnitt verursachen mußte, doch es gelang ihm nicht. Eigentlich wollte er es auch nicht wirklich. Ihm war noch immer übel.

»Ich habe sie nicht sofort bemerkt, weil alles so voller Blut war, aber sie stammen eindeutig nicht von dem Sturz.«

Unter Bremers Zunge sammelte sich schon wieder bitter schmeckender Speichel. Er mußte immer schneller schlucken, und das flaue Gefühl in seinem Magen nahm weiter zu. Wofür zum Teufel hielt ihn dieser Bursche? Für Columbo? Laut sagte er: »Sie meinen, er hatte sich schon vorher verletzt?«

»Das sind keine normalen Verletzungen«, antwortete der Arzt. »Ich meine, er ist nicht durch eine Glasscheibe gestürzt oder so was. Ich bin ziemlich sicher, daß er sie sich absichtlich zugefügt hat.«

»Das ... denke ich auch«, sagte Bremer schleppend. Ein wenig hastiger, als ihm selbst lieb war, richtete er sich auf und fokussierte seinen Blick auf einen Punkt zwanzig Zentimeter über der Leiche; ein Trick, den er vor langen Jahren einmal von einem älteren Kollegen gelernt und der ihm schon oft geholfen hatte. Der Leichnam wurde zu einem verschwommenen Schemen vor seinen Augen, aber für alle anderen mußte es so aussehen, als blicke er ihn noch immer konzentriert an.

»Es sieht fast so aus, als hätte er versucht, etwas zu schreiben«, sagte der Arzt.

Mit einem Skalpell?! dachte Bremer entsetzt. Er gestattete dem Bild vor seinen Augen noch immer nicht, wieder scharf zu werden, aber trotzdem hatte der junge Mann wahrscheinlich recht - was da in krakeliger Druckschrift drei Zentimeter tief in das Fleisch des Toten eingeritzt war, waren Buchstaben, auch wenn er sie nicht entziffern konnte.

»Das ist... sehr interessant«, sagte er mühsam. Sein Magen begann Purzelbäume in seinem Leib zu schlagen. Er mußte hier weg, wenn er nicht Gefahr laufen wollte, dem jungen Arzt den Abend endgültig zu verderben, indem er ihm über die Schuhe kotzte. »Die Kollegen von der Spurensicherung sind unterwegs. Sie werden es sich genauer ansehen.«

»Wahrscheinlich hat es nichts zu bedeuten«, antwortete der Arzt. »Ich nehme an, der Mann war schon vorher nicht mehr zurechnungsfähig. Aber ich dachte, es wäre besser, wenn ich es Ihnen zeige.«

Bremer richtete sich nun endgültig auf und trat zwei volle Schritte zurück. Er spürte selbst, daß er kreidebleich geworden war und daß seine Hände mittlerweile heftig zitterten.

»Das war vollkommen richtig, Herr Doktor«, sagte er. »Wie gesagt - meine Kollegen sind unterwegs. Sie müßten eigentlich jeden Moment hier sein. Zeigen Sie ihnen, was Sie entdeckt haben.«

Damit drehte er sich um und begann mit schnellen Schritten auf das Haus zuzugehen. Der Arzt sah ihm verwirrt nach, aber das war Bremer mittlerweile egal. Er hatte nur noch die Wahl, das Gesicht oder den Inhalt seines Magens zu verlieren. Bremer verstand sich selbst nicht mehr ganz. Der Anblick - vor allem zusammen mit dem, was vorher geschehen war - war schlimm, aber auch wieder nicht so schlimm.

Mit noch immer leicht zitternden Händen hob er das Funkgerät und rief seinen Kollegen oben im achten Stock. »Wie sieht es aus?« fragte er, kaum daß Clausen sich gemeldet hatte. »Kommt ihr vorwärts?«

»Mit der Tür?« Er konnte Clausens Kopfschütteln regelrecht hören. »Ohne entsprechendes Werkzeug ist da nichts zu machen. Ein Safe ist nichts dagegen.«

»Das will ich mir selbst ansehen«, antwortete Bremer. »Komm runter und halt hier die Stellung, bis die Kollegen eintreffen.«

»Ganz wie du meinst.« Clausen klang ein wenig beleidigt, aber auch das war Bremer mittlerweile ziemlich gleich. Er mußte hier weg. Von diesem Toten ging etwas aus, was ihn beunruhigte - und das war noch vorsichtig ausgedrückt.

Voller Ungeduld wartete er, daß die Haustür aufging und sein Kollege herauskam. Clausen blickte erstaunt und setzte zu einer Frage an, doch Bremer gab ihm keine Gelegenheit, sie zu stellen. Er trat rasch an ihm vorbei ins Haus, wobei er mit einer geschickten Drehung des Oberkörpers der zufallenden Tür auswich, steuerte den Aufzug an und rannte die letzten Schritte, als sich die Türen zu schließen begannen. Seine Hand schnellte vor und glitt durch die Lichtschranke, und als er in die Kabine trat, war sein Schwung so groß, daß er beinahe gegen die Rückwand geprallt wäre. Es hätte des Anblicks seines eigenen schreckensbleichen Gesichts in dem deckenhohen Spiegel davor kaum mehr bedurft, um Bremer klarzumachen, was er hier tat. Es war nichts weniger als eine Flucht. Aber wovor eigentlich?

Die Lifttüren begannen sich erneut zu schließen. Bremer hob automatisch die Hand nach den Kontrollknöpfen, bemerkte dann aber, daß das Licht für die achte Etage bereits brannte. Nervös ließ er den Arm wieder sinken, fuhr sich mit dem Handrücken über das Kinn und zählte in Gedanken und mit angehaltenem Atem bis zehn; ein weiterer Trick, der ihm oft geholfen hatte, gefaßter zu erscheinen, als er war. Heute funktionierte er nicht. Seine Nervosität legte sich tatsächlich ein wenig, aber die Beunruhigung blieb. Was war nur mit ihm los?

Der Aufzug summte mit enervierender Langsamkeit nach oben. Bremer starrte wie hypnotisiert auf die wechselnden Lichter, die das jeweils passierte Stockwerk anzeigten, und als die Sieben der Acht wich und sich die Lifttüren vor ihm spalteten, hatte er sich wieder völlig in der Gewalt. Er verstand noch immer nicht, was gerade mit ihm los gewesen war, aber er war Profi genug, diese Frage auf später zu vertagen; die Liste der unangenehmen Dinge, die ihn in dieser Nacht noch erwarten mochten, war auch so schon lang genug.

Bremer trat aus dem Aufzug und sah gleichzeitig auf die Uhr. Sie waren nicht allzuweit vom Präsidium entfernt - wenn Sendig wirklich sofort losgefahren war, dann mußte er jeden Moment eintreffen. Er wandte sich nach rechts und ging den hell erleuchteten Hausflur entlang. Hinter den meisten Türen brannte ebenfalls Licht, eine oder zwei standen auch offen. Bremer ignorierte sie, schritt schneller aus und erreichte schließlich die Tür, hinter der das Apartment des Selbstmörders liegen mußte.

Ein vielleicht fünfzigjähriger dunkelhaariger Mann in Pantoffeln, Schlafanzug und einem hastig darübergeworfenen blauen Kittel kniete davor und machte sich mit ungeduldigen Bewegungen daran zu schaffen, wobei er unentwegt vor sich hin murmelte. Clausens Kollege - ein junger Bursche, der kaum älter sein konnte als Hansen, rothaarig war und dessen Name Bremer vergessen hatte - stand neben ihm, ebenso vergeblich wie tapfer bemüht, sich seine Nervosität nicht anmerken zu lassen. Als er Bremer sah, machte sich ein erleichterter Ausdruck auf seinem Gesicht breit. Ganz offenbar hatte es ihm nicht besonders gefallen, hier oben allein gelassen zu werden. Kinder, dachte Bremer. Natürlich war es ein reiner Zufall, daß Clausen und er beide in dieser Nacht mit einem Anfänger auf Streife gefahren waren, aber das änderte nichts daran, daß man Kinder nicht in eine Uniform stecken und auf die Menschheit loslassen sollte; ebensowenig wie die Menschheit auf sie. Bremer war schon immer dieser Meinung gewesen. Der Ausdruck in Hansens Augen vorhin harte ihn darin nur bestärkt.

Er nickte dem jungen Beamten flüchtig zu und wandte sich sofort an den Mann im Pyjama. »Sie sind der Hausmeister hier?«

Der andere sah auf und kniff das linke Auge zusammen. »Ihr Kollege -«

»Ich habe ihn abgelöst«, unterbrach ihn Bremer. »Wie ist Ihr Name?«

»Schraiber«, antwortete der Hausmeister. »Mit ai. Hab' gar nicht gemerkt, daß Ihr Kollege weggegangen ist. War viel zu sehr mit diesem Scheißschloß hier beschäftigt. So was hab' ich noch nicht erlebt, das können Sie mir glauben. Und ich bin jetzt seit zwanzig Jahren in diesem Job. Hab' immer gedacht, es gibt kein Schloß, das ich nicht aufkriege. Aber das...«

Er schüttelte heftig den Kopf und wandte sich wieder dem Schloß zu, das im Grunde ganz harmlos aussah. Zumindest auf den ersten Blick schien es sich um nichts anderes als ein ganz normales Sicherheitsschloß zu handeln, das in einer ganz normalen Teakholztür eingebaut war. Was diesen Eindruck vielleicht ein bißchen störte, waren die zahlreichen Kratzer, die die Tür rings um das Schloß herum verunzierten, und das halbe Dutzend abgebrochener Schraubenzieher, Bohrer und Dietriche, die vor den Knien des Hausmeisters verstreut waren. In den Kratzern schimmerte es silbern. Unter dem Teakholzfurnier verbarg sich massives Metall.

»Sind alle Türen in diesem Haus so stabil?« fragte Bremer.

»Stabil?« Schraiber lachte schrill und versuchte zum dritten Mal vergeblich, die Schneide eines Stechbeitels zwischen Tür und Rahmen zu schieben. »Scheiße, nein. Eigentlich sind sie aus besserer Pappe. Ist ein Wunder, daß hier nicht öfter eingebrochen wird, wissen Sie. Sie brauchen nur dagegenzufurzen, und sie fallen um.«

Bremer warf einen fragenden Blick ins Gesicht seines rothaarigen Kollegen und erntete die Andeutung eines Schulterzuckens und eine Grimasse.

»Dann wurde diese Tür also nachträglich eingebaut?« vergewisserte er sich.

»Worauf Sie einen lassen können. Ich hab's nicht mal gemerkt. Und dabei vergeht kein Tag, an dem ich nicht eine Runde durch das Haus drehe. Weiß der Teufel, was in Löbach gefahren ist.«

»Löbach?«

»Doktor Löbach«, sagte Schraiber, schlug mit der flachen Hand auf den Griff des Stechbeitels und fluchte, als er sich dabei die Hand prellte und die Schneide des Werkzeugs mit einem trockenen Knacken abbrach. »Er wohnt hier.«

»Seit wann?« Bremer hob automatisch den Blick und sah die Wand neben der Tür an. Ein dezent teurer Klingelknopf, aber kein Namensschild. Dafür jedoch in Kopfhöhe das runde Videoauge einer kleinen Kamera.

Der Hausmeister starrte abwechselnd seine schmerzende Hand und den zerbrochenen Stechbeitel an. »Seit fünf... fast sechs Jahren. Ja, sechs Jahre. Ich erinnere mich jetzt. Hatte einen Fünf-Jahres-Vertrag, der im letzten Sommer verlängert wurde.«

»Dr. Löbach, sagen Sie. Ein Arzt?«

»Glaube ich nicht. Ich weiß nicht viel über ihn. Hat wenig gesprochen und so gut wie keinen Kontakt zu den anderen Mietern hier im Haus gehabt. Ich glaube, er war Physiker oder so was. Hatte jedenfalls 'ne Menge Geld. Der Daimler unten vor dem Haus, das war seiner.«

»Der Wagen, auf den er -«

»Dem er aufs Dach gesprungen ist, ja«, bestätigte Schraiber. Er stand auf, musterte die Tür noch einmal lange und kopfschüttelnd, dann fügte er in gedankenverlorenem Ton hinzu: »Hat ihn immer vor dem Haus geparkt, obwohl wir eine Tiefgarage unten haben. Ich hab' ihm ein paarmal geraten, den Wagen nicht immer auf der Straße unten stehenzulassen. So ein Schlitten kostet einen Haufen Geld, und heutzutage ist nicht einmal diese Gegend hier, was sie mal war. Aber er hat ja nie auf mich gehört.«

»Haben Sie schon die Nachbarn befragt?« Bremer wandte sich in bewußt sachlichem Ton an Clausens Partner und bekam ganz genau die Antwort, die er erwartete.

»Noch nicht. Polizeihauptmeister Clausen meinte -«

»Dann tun Sie es«, unterbrach ihn Bremer. Fünf Schritte hinter ihm schlössen sich die Aufzugtüren mit einem hellen ›Blink‹, und der Lift setzte sich wieder in Bewegung. Bremer hatte eine ziemlich konkrete Vorstellung davon, wen er diesmal abholen würde. »Die übliche Prozedur - wer war der Mann, was hat er getan, mit wem hat er verkehrt, hat er sich in letzter Zeit auffällig verhalten... Sie kennen das ja.«

Er schwieg gerade lange genug, um seinen Worten mit einem flüchtigen Lächeln ein bißchen von ihrer Schärfe zu nehmen, ehe er mit einem Nicken zu der Löbachs Apartment gegenüberliegenden Tür hinzufügte: »Fangen Sie dort drüben an.«

Während Clausens Kollege plötzlich seinen Diensteifer wiederentdeckte und ging, um seinem Befehl nachzukommen, sah sich Bremer die Tür zu Löbachs Apartment noch einmal genauer an. Wären die verräterischen Kratzer rings um das Schloß nicht gewesen, hätte man sie für eine ganz normale Wohnungstür halten können. Selbst das Schloß machte einen harmlosen Eindruck. Trotzdem - jetzt, wo er wußte, wonach er zu suchen hatte, fiel ihm doch die eine oder andere Kleinigkeit auf. Die Tür schloß so präzise, daß zwischen Blatt und Zarge nicht einmal ein Haar hineingepaßt hätte. Der Knauf bestand aus massivem Stahl und war wahrscheinlich mit der Tür verschweißt, so daß jeder Versuch, ihn mit einem Werkzeug aufzubrechen, das merklich leichter (und leiser) als ein Vorschlaghammer war, aussichtslos sein mußte. Und es gab kein Schließblech; Zylinder und Tür waren vollkommen plan, und somit gab es auch keinen Ansatzpunkt für einen Hebel oder ein entsprechendes anderes Werkzeug.

Bremer hob die Hand und klopfte leicht mit dem Knöchel gegen die Tür. Sie war so hart, wie er vermutet hatte, und gab nicht das mindeste Echo. Clausen hatte recht gehabt - es war eine Safetür, und eine verdammt gute dazu. Die Arbeit eines Profis. Löbach mußte entweder vollkommen paranoid gewesen sein - oder einen verdammt guten Grund gehabt haben, sich zu schützen. Bremer war nicht ganz sicher, welcher Möglichkeit er den Vorzug geben sollte.

»Ich hab' ein Schweißgerät unten im Keller«, sagte Schraiber. »Wenn Sie mir unterschreiben, daß die Polizei für den Schaden aufkommt, hole ich es. Wir kriegen sie schon auf.«

»Das wird nicht nötig sein«, antwortete Bremer. »Wir haben einen Schlosser bestellt.«

»Der kann auch nichts anderes tun als ich«, sagte Schraiber eingeschnappt. »Außerdem muß ich erst die Hausverwaltung um Erlaubnis fragen. Hier kann schließlich nicht jeder rummachen, wie er will.«

Dein Glück, dachte Bremer. Allmählich begann ihm dieser Wichtigtuer ziemlich auf die Nerven zu gehen. Er ersparte sich eine Antwort, sah den Mann nur einen Moment lang durchdringend an und drehte sich genau im richtigen Moment wieder zum Aufzug, um die Türen auseinandergleiten und Sendig höchstpersönlich herausspazieren zu sehen. Er trug Smoking, Rüschenhemd und eine weinrote Fliege unter einem vollkommen unpassenden Trenchcoat, und wenn schon nicht seine Kleidung, so machte spätestens sein Gesichtsausdruck klar, daß Bremer und er zumindest eines gemeinsam hatten: Sie beide hatten sich den Verlauf dieses Abends anders vorgestellt.

»Herr Kommissar?« Bremer trat dem Kriminalbeamten einen Schritt entgegen und war nicht einmal besonders erstaunt, als Antwort nur einen eisigen Blick zu ernten. Sendig stürmte einfach an ihm vorbei, blieb einen halben Schritt vor Löbachs Apartment abrupt stehen und maß die Tür mit einem raschen, aber sehr aufmerksamen Blick.

»Ist es Löbach?« fragte er.

»Dr. Löbach, richtig.« Bremer mußte sich zusammenreißen, damit Sendig ihm die Überraschung nicht zu deutlich anmerkte. Natürlich konnte Sendig den Namen des Toten von Clausen wissen, aber er hatte eindeutig in einem Ton gesprochen, als ob er diesen Mann tatsächlich kannte. »Ein Physiker, glaube ich.«

»Chemiker, aber sonst stimmt's.« Sendig drehte sich mit einem Ruck zu ihm herum und deutete mit dem Daumen über die Schulter. »Was ist mit der Tür? Wieso ist sie noch nicht auf?«

»Es gibt ein paar Schwierigkeiten«, gestand Bremer. »Der Hausmeister bekommt sie nicht auf -«

»Ist nicht meine Schuld«, verteidigte sich Schraiber. »Das Scheißding ist so stabil wie ein Geldschrank. Er hätte so was gar nicht einbauen lassen dürfen ohne Erlaubnis.«

»- aber ich habe bereits einen Schlosser angefordert«, schloß Bremer. »Er müßte bald hier sein.«

»Wollen wir's hoffen.« Sendig kramte eine einzelne Zigarette aus der Manteltasche und steckte sie zwischen die Lippen, aber er schüttelte den Kopf, als Bremer ihm Feuer geben wollte.

»Danke, nein. Ich versuche gerade, es mir abzugewöhnen. Haben Sie schon mit den Leuten hier im Haus gesprochen?«

Bremer entfernte sich ein paar Schritte von Sendig und dem Hausmeister, hob das Funkgerät und erkundigte sich in der Zentrale nach dem Verbleib des Schlossers. Er bekam genau die erwartete Antwort: nämlich erstens, daß der Mann unterwegs sei, und zweitens einen Hinweis auf die vorgerückte Stunde, zu der selbst in einer Weltstadt wie Berlin die allermeisten Schlosser in ihrem Bett lagen und schliefen. Er gab die Hälfte dieser Antwort an Sendig weiter und beeilte sich dann, dem Beispiel seines jüngeren Kollegen zu folgen und die Nachbarn zu befragen.

Während der nächsten halben Stunde klingelte Bremer an einem knappen halben Dutzend Türen. Er erfuhr eine Menge über Dr. Klaus Löbach - und zugleich sehr wenig. Nirgends mußte er lange um Einlaß bitten. Sämtliche Bewohner des Hauses schienen ohnehin wach zu sein, und nur die wenigsten versuchten überhaupt, ihre Neugier zu verhehlen. Die meisten Türen wurden geöffnet, noch ehe er die Hand nach dem Klingelknopf ausstreckte, und er bekam bereitwillig Auskunft. Allerdings stellte sich rasch heraus, daß es nicht besonders viel gab, was man ihm über den Bewohner des Apartments achthundertundsiebzehn sagen konnte. Mit Ausnahme seines Namens und der Tatsache, daß er als Chemiker bei irgendeiner großen Firma in der Stadt arbeitete, schien niemand etwas über Löbach zu wissen. Der Mann hatte keinen Kontakt zu seinen Nachbarn gepflegt, war jedem Gespräch aus dem Weg gegangen und hatte die meiste Zeit nicht einmal gegrüßt. Ein Eigenbrötler, der viel auf Achse war und manchmal für Wochen nicht nach Hause kam und der den meisten hier ein bißchen unheimlich gewesen war. Allerdings auch kein Exzentriker. Bremers obligatorische Frage, ob irgend etwas in letzter Zeit auf das hingedeutet hätte, was jetzt geschehen war, wurde stets verneint.

Ein paar Minuten nach zwei kam endlich der Schlosser. Dem Mann war anzusehen, daß ihn das Telefon aus dem tiefsten Schlaf gerissen hatte, und er machte aus seiner Verärgerung darüber keinen besonderen Hehl. Er schleppte nicht nur einen großen Werkzeugkoffer, sondern auch ein komplettes Schweißgerät mit sich, dessen Gasflaschen in schreiendem Signalrot gespritzt waren und die Abmessungen von Sauerstoffflaschen hatten, wie sie Taucher benutzten. Bremer unterdrückte mühsam ein schadenfrohes Grinsen, als der Mann das zentnerschwere Gerät mit einem Knall so dicht vor Sendigs Füßen ablud, daß der Kommissar sich mit einem hastigen Sprung in Sicherheit brachte.

Bremer hatte auf seiner Hälfte des Flures noch zwei Türen abzuarbeiten, aber er war ziemlich sicher, daß er auch dort nicht mehr über Dr. Löbach erfahren würde als bei den anderen, und da Sendig nichts dagegen zu haben schien, gesellte er sich nach einer Weile wieder zu ihm, um dem Schlosser bei seiner Arbeit zuzusehen.

Der Mann hatte zwar schweres Gerät mitgebracht, versuchte aber zuerst, mit Hilfe eines Dietrichs und eines gebogenen Drahtes das Schloß zu öffnen. Nach einigen Minuten kapitulierte er, öffnete seine Werkzeugkiste und brach hintereinander drei Bohrer bei dem Versuch ab, das Schloß herauszubohren. Er sagte kein Wort, aber er schüttelte ununterbrochen den Kopf, und der Ausdruck griesgrämiger Verärgerung auf seinem Gesicht wich mehr und mehr dem eines fast ehrfurchtsvollen Staunens. Bremer schien mit seiner Einschätzung, was die Qualität der Tür und des Schlosses anging, ziemlich richtig gelegen zu haben. Es dauerte gute zehn Minuten, bis er endlich aufgab und das tat, was Bremer ihm von Anfang an geraten hätte: nämlich das mitgebrachte Schweißgerät zu benutzen. Der Hausmeister begann lautstark zu lamentieren, bis Sendig ihn mit ein paar halblauten, aber sehr scharfen Worten zum Verstummen brachte, und rauschte beleidigt von dannen; vermutlich, um den Hausbesitzer aus dem Bett zu klingeln und ihm sein Leid zu klagen.

»Rufen Sie in der Zentrale an«, sagte Sendig, während sich die kleine blaue Acetylenflamme funkensprühend in den Stahl fraß. Das Teakholzfurnier verkohlte unter einer enormen Rauchentwicklung, so daß sie ein paar Schritte zurücktraten und der Schlosser zu husten begann. »Es sollte mich nicht wundern, wenn er eine Alarmanlage hat und Ihre Kollegen gleich hier auftauchen, um uns zu verhaften.« .

Bremer trat schuldbewußt einige Schritte weiter zurück und zog das Funkgerät aus der Tasche. Sendigs Worte waren frei von jedem Tadel gewesen, aber das änderte nichts daran, daß er auf diese Idee auch von selbst hätte kommen können; bei der augenscheinlichen Paranoia, unter der Löbach gelitten hatte, lag sie praktisch auf der Hand.

Er gab den Kollegen in der Funkleitzentrale Bescheid und trug ihnen gleichzeitig auf, Löbachs Namen durch den Computer laufen zu lassen - auch das zu spät, aber immerhin nicht so spät, daß Sendig ihn daran erinnern mußte. Sein Erlebnis von vorhin schien ihn doch mehr mitgenommen zu haben, als er selbst wahrhaben wollte. Normalerweise vergaß er solche Dinge nicht.

Der Schlosser schaltete sein Schweißgerät aus, als Bremer zu ihm zurückkam. Er hatte nur ein winziges Loch in die Tür gebrannt, gerade so groß wie Bremers Daumennagel, in dem er nun mit dem Draht von vorhin und einem an einen Zahnarztschaber erinnernden Werkzeug herumstocherte. Es verging noch eine geraume Weile, aber dann ertönte ein helles metallisches Klicken, und der Mann richtete sich triumphierend auf und hob die Hand, um die Tür aufzustoßen.

»Nicht!« sagte Sendig. »Treten Sie zurück.«

Der Schlosser wirkte mehr verwirrt als erschrocken, gehorchte aber sofort, und Sendig gab Bremer mit einem Kopfnicken zu verstehen, daß er dicht hinter ihm bleiben sollte. Clausens Kollege gesellte sich zu ihnen, hielt aber vorsichtshalber drei Schritte Abstand. Seine Hand lag auf dem Pistolengriff, und Bremer sah mit einem Gefühl leiser Besorgnis, daß er die Waffe bereits entsichert hatte.

Seltsamerweise konnte er das verstehen. Auch ihm ging es nicht sehr viel besser. Er war beunruhigt. Das hier war alles, nur kein normaler Selbstmord. Trotzdem deutete er ein Kopfschütteln in Richtung des Jungen an, von dem er hoffte, daß Sendig es nicht bemerkte, und registrierte erleichtert, wie der junge Kollege die Hand wieder zurückzog.

Sendig legte die Hand auf die Tür, riß sie hastig wieder zurück und zog ein Taschentuch aus dem Mantel, um sich vor der Hitze zu schützen, die das Metall offensichtlich gespeichert hatte. Mit einer schwerfälligen Bewegung, die ihr Gewicht verriet, schwang die Tür nach innen. Silbergraues Licht kroch ihnen entgegen. Sämtliche Lampen waren ausgeschaltet, aber die große Tür zu dem Balkon, von dem Löbach gesprungen war, stand weit offen, und auf der anderen Seite des Raumes glommen die roten und grünen Lichter einer Stereoanlage wie die leuchtenden Augen unheimlicher Insekten, die sie aus der Dunkelheit heraus anstarrten. Nach der hellen Neonbeleuchtung draußen auf dem Flur fiel es Bremer im ersten Moment schwer, mehr als Schatten zu erkennen, aber Sendig war nur einen Schritt hinter der Tür stehengeblieben und tastete bereits nach dem Lichtschalter. Es gab keinen Laut, aber unter der Decke glühten plötzlich gleich Dutzende winziger weißer Halogenscheinwerfer, und im nächsten Moment riß Bremer ungläubig die Augen auf.

»Großer Gott!« flüsterte Sendig.

Загрузка...