52. Kapitel

Sendig schoß nicht. Vielleicht hätte er es getan, vielleicht war es auch nur ein Bluff, aber die Antwort auf diese Frage sollte Bremer nie bekommen, denn in diesem Moment drang von draußen das dumpfe, nachhallende Grollen einer Explosion herein, die den Boden spürbar erzittern ließ. Sendig fuhr zusammen und sah alarmiert auf, und praktisch im gleichen Augenblick konnte Bremer spüren, wie irgend etwas mit Mark geschah. Sein Körper spannte sich. Bremer konnte fast sehen, wie die verlorene Kraft in ihn zurückfloß, das Leben sich noch einmal seinen Platz behauptete und den Ansturm des Todes zurückdrängte. Mark keuchte wie unter einem grausamen Schmerz, öffnete die Augen und riß sich mit einem Ruck aus seiner Umklammerung los.

»Bremer!« schrie Sendig. »Halten Sie ihn fest!«

Bremer versuchte es, aber er hatte keine Chance. Mark trat einen Schritt auf seinen Vater und Sendig zu. Bremer griff nach ihm, aber Mark schlug seine Hand einfach beiseite, mit einer fast beiläufigen Bewegung und so schnell, daß Bremer es nicht einmal wirklich sah, aber zugleich so hart, daß er mit einem Schmerzensschrei gegen die Wand taumelte und die Hand an den Leib preßte.

Sendig wirbelte herum. Er riß die Pistole hoch, und diesmal wußte Bremer, daß er schießen würde, aber er hatte ebensowenig eine Chance wie er. Mark ergriff mit dem verletzten Arm sein Handgelenk, drehte es herum und drückte so kraftvoll zu, daß Sendig die Waffe fallen ließ und Bremer hören konnte, wie seine Knochen knackten.

Mark schleuderte ihn achtlos zur Seite und bewegte sich weiter. Sein Vater war stehengeblieben und sah ihm aufmerksam entgegen. Auf seinem Gesicht lag noch immer diese unheimliche Mischung aus Furcht und Entschlossenheit, die Bremer schon vorhin beobachtet hatte.

»Mark«, sagte er. »Komm zu mir. Es wird alles gut, das verspreche ich dir.«

Mark ging langsam weiter. Er bewegte sich wie in Trance, zugleich aber auch sehr sicher und auf eine schwer in Worte zu fassende Weise unaufhaltsam. Sein Arm blutete wieder und hinterließ eine dünne Tropfenspur auf dem Boden, die sich mit dem eingetrockneten Blut der Toten vermischte. Er stirbt, dachte Bremer. Er mußte verbluten. Er hatte zu viel Blut verloren. Das Mittel, das Sendig ihm gespritzt hatte, spiegelte seinem Körper vielleicht noch einmal die Illusion von Kraft vor, und sie und der unglaubliche Wille dieses Jungen gaben ihm noch irgendwie die Energie, sich zu bewegen. Aber irgendwann würde sein Körper einfach aufgeben wie eine ausgebrannte Maschine.

Und vielleicht war das das Schlimmste, was ihnen passieren konnte. Instinktiv sah er zur Tür. Der schwarze Engel war noch nicht da. Aber er kam näher. Bremer konnte seine Nähe mit körperlicher Intensität spüren.

Als er sich herumdrehte, hatte sich Sendig auf Hände und Knie erhoben, und Mark hatte seinen Vater fast erreicht. Er hob die Arme und streckte sie in seine Richtung aus (um ihn zu umarmen oder zu erwürgen?), und in Sillmanns Augen erschienen Tränen.

»Mark«, sagte er. »Komm her. Ich kann dir helfen.«

Mark ging weiter. Seine Hände berührten das Gesicht seines Vaters, strichen fast liebkosend darüber und schmiegten sich um seinen Hals. Bremer sah, wie sich seine Finger mit gnadenloser Kraft um Sillmanns Kehle schlössen und zudrückten.

Sillmann versteifte sich. Er versuchte nicht, sich zu wehren. Er stand einfach da und sah Mark in die Augen. Auf seinem Gesicht erschien ein schwaches Echo des körperlichen Schmerzes, den er spüren mochte, aber kein Entsetzen oder Zorn. Vielleicht war er aus diesem einzigen Grund hierhergekommen, dachte Bremer - um zu bezahlen.

Sekunden verstrichen. Sillmanns Gesicht färbte sich blau, und er begann zu zittern, Marks Hände schlössen sich immer fester um seine Kehle, und der große Mann begann ganz langsam in die Knie zu sinken. Das Buch, das er in der Hand hielt, polterte zu Boden und klappte auf.

Plötzlich schoß Sillmanns Hand aus der Manteltasche. Sie hielt etwas Kleines, Silbernes, das er mit aller Kraft von unten gegen Marks Arm rammte. Mark taumelte. Seine Arme begannen zu zittern. Vielleicht noch eine halbe Sekunde lang blieben seine Hände um den Hals seines Vaters gelegt, dann öffnete sich sein Griff. Er wankte. Mit einem Ausdruck vollkommener Verblüffung sah er auf seinen linken Arm herab, aus dem eine winzige, verchromte Spritze ragte. Zitternd hob er die andere Hand, zog die Nadel aus seinem Arm und sah seinen Vater an, der keuchend und mühsam nach Luft ringend vor ihm kniete. Seine Lippen bewegten sich, aber er brachte keinen Laut hervor.

Mark taumelte. Er ließ die Spritze fallen, die klirrend zerbrach.

Dann erlosch das Leben in seinen Augen, und er stürzte. Sein Vater versuchte ihn aufzufangen, aber er war noch zu schwach, um ihn zu halten. Mark begrub ihn unter sich.

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