47. Kapitel

Morell trat so hart auf die Bremse, daß der Wagen ausbrach und sich mit kreischenden Reifen querstellte. Das Heck beschrieb einen Viertelkreis und verfehlte das andere Fahrzeug nur um Zentimeter, ehe Morell sich endlich wieder an das erinnerte, was er in der Fahrerschulung gelernt hatte, und den Wagen zum Stehen brachte.

»Mein Gott, was... was war das?« keuchte Zöhler. Er hatte die linke Hand gegen das Armaturenbrett gestemmt und den Arm durchgedrückt, um den erwarteten Zusammenprall abzufangen, sich gleichzeitig aber auch halb auf dem Beifahrersitz herumgedreht und sah aus dem Fenster.

»War das Brauss?« stammelte er. »Großer Gott, das... das war doch Brauss! Was ist mit seinem Gesicht passiert?«

Morell drehte sich nicht herum wie er, sondern begnügte sich damit, in den Rückspiegel zu starren. Alles, was er darin sehen konnte, war die offenstehende Tür des Wagens und eine Hand, die darunter hervorlugte. Trotzdem war das schon fast mehr, als er sehen wollte, Er hatte nur im Vorbeischleudern einen kurzen Blick auf Brauss' Gesicht erhascht, aber das reichte ihm vollkommen. Was immer Brauss zugestoßen war - er wollte es gar nicht wissen.

»Das... das war er doch, oder?« stammelte Zöhler.

Natürlich war es Brauss, dachte Morell. In dem Wagen hatten nur Haymar und er gesessen, und da sie Haymars Stimme noch vor ein paar Sekunden deutlich im Funkgerät gehört hatten, war die Auswahl nicht mehr sehr groß. Aber er wußte, daß Zöhler und Brauss befreundet waren, und so beließ er es bei einem Achselzucken.

»Ich bin nicht sicher«, sagte er.

»Einheit drei!« Haymars Stimme drang verzerrt aus dem Funkempfänger. Das Gerät arbeitete eigentlich störungsfrei, vor allem auf eine so kurze Distanz. Offensichtlich schrie Haymar laut genug, um das Mikrofon zu überlasten. »Wo bleibt ihr? Beeilt euch gefälligst!«

Morell hämmerte mit einer fast erschrockenen Bewegung den Gang wieder hinein und gab Gas, so daß der Wagen mit durchdrehenden Reifen losschoß und eine Spur aus verbranntem Gummi auf dem Asphalt zurückließ. Sie hatten einen guten Kilometer zurückgelegen, als der Einsatzbefehl über Funk kam, diese Distanz aber beinahe aufgeholt, während der andere Wagen kurz anhielt, um Haymar aufzunehmen. Jetzt hatte Einheit zwei wieder gut fünfhundert Meter Vorsprung - der Wagen schoß bereits durch das Fabriktor und verschwand in diesem Moment mit aufflammenden Bremslichtern auf dem Hof.

Morell fluchte und gab noch mehr Gas - aber er wußte selbst nicht genau, ob er es nun tat, um möglichst schnell zu Haymar und den beiden anderen aufzuschließen oder um möglichst schnell eine möglichst große Distanz zwischen sich und Brauss' entsetzliches Gesicht zu legen. Der Wagen schoß mit heulendem Motor auf das Fabriktor zu. Die Distanz betrug noch zweihundert Meter, dann hundert. Als sie noch fünfzig Meter entfernt waren, erschien eine Gestalt zwischen ihnen und dem Tor.

Sie trat nicht etwa aus der erleuchteten Pförtnerloge daneben heraus oder aus dem Schutz der Dunkelheit. Morell sah keine Bewegung.

Die Gestalt war einfach da, von einem Sekundenbruchteil auf den anderen.

Zöhler schrie neben ihm hysterisch auf und stemmte sich jetzt mit beiden Händen gegen das Armaturenbrett, während Morell mit aller Gewalt gleichzeitig auf Kupplung und Bremse trat und versuchte, zwei Gänge herunterzuschalten. Die Reifen blockierten. Grauer Rauch schoß unter allen vier Rädern hervor, und Morell hörte, wie beide Hinterreifen im gleichen Moment platzten. Das Lenkrad begann wild unter seinen Händen zu bocken, aber der Wagen schoß trotzdem weiter auf die schwarze Gestalt zu, und Morell wußte, daß sie nicht mehr rechtzeitig zum Stehen kommen würden. Warum sprang der Kerl nicht endlich beiseite? Noch zwei Sekunden, und der Wagen würde ihn zermalmen!

Dann sah er, daß es nicht die Gestalt eines Menschen war.

Sie war zwar menschenähnlich, aber viel zu groß und zu breitschultrig, und sie hatte nicht nur Arme und Beine, sondern zusätzlich noch ein Paar gewaltiger schwarzer Flügel von sonderbar eckiger Form. Sie hatte kein erkennbares Gesicht. Wo es sein sollte, war nur Schwärze. Und sie machte nicht die kleinste Bewegung, um dem heranschießenden Wagen auszuweichen, sondern stand einfach mit leicht erhobenen und halb ausgebreiteten Armen da. Der Wagen schlitterte auf blockierenden Rädern auf sie zu, erfaßte sie -

aber die Gestalt fiel nicht. Statt dessen glitt sie einfach durch die Kühlerhaube des BMW hindurch, als wäre sie wirklich nicht mehr als ein Schatten, und nur den Bruchteil einer Sekunde später durchdrängen Arme und Brust die Windschutzscheibe und waren plötzlich im Inneren des Wagens. Ihre Hände legten sich um Morells und Zöhlers Kehlen.

Und die waren keine Schemen mehr. Sie waren massiv, so hart und gnadenlos wie stählerne Baggerschaufeln. Die beiden Agenten starben im Bruchteil einer Sekunde, als ihre Körper jäh von diesen furchtbaren Klauen gepackt und festgehalten wurden, während der Wagen mit ungebremstem Tempo weiterschoß. Die beiden Sitze zerbrachen. Morells kopfloser Torso flog nach hinten und wurde aus dem zersplitternden Heckfenster geschleudert, während der plötzlich fahrerlose Wagen ausbrach, eine komplette und dann noch eine halbe Pirouette vollführte und schließlich mit ungeheurer Wucht in das Pförtnerhäuschen neben dem Tor krachte. Praktisch in der gleichen Sekunde explodierte der Tank, und der Wagen, die Pförtnerloge und ein Teil des angrenzenden Zaunes wurden von einem orangeroten Feuerball verschlungen, der sich brüllend in den Himmel wälzte...

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