40. Kapitel

Marks Geschichte dauerte nicht sehr lange, und er erzählte sie immer hektischer, mit immer kürzeren, immer hastiger hervorgestoßenen Sätzen und manchmal wie in einem Fieber, in dem er einfach nicht mehr aufhören konnte zu reden und Worte mehrfach wiederholte oder die Dinge durcheinanderwarf. Bremer hatte längst nicht alles verstanden; was unklar blieb, das vervollständigte er mit dem, was er von Sendig erfahren und selbst erlebt hatte, und plötzlich ergab alles einen Sinn - auch wenn er sich noch immer weigerte, diesen Sinn zu begreifen.

Am Ende war Mark so erschöpft, daß er auf die Trage zurücksank und die Augen schloß, so daß Bremer für einen Moment glaubte, er hätte wieder das Bewußtsein verloren. Aber als er die Hand ausstreckte, um nach seinem Puls zu fühlen, öffnete er kurz die Augen und sah ihn an. Bremer flehte innerlich, daß er wach blieb. Er würde nicht die Kraft haben, es noch einmal durchzustehen. Er wußte: Das nächste Mal, wenn er den Schatten sah, würde zugleich auch das letzte Mal sein.

»Ruhen Sie sich einen Moment aus«, sagte er.

Mark versuchte mit einem Lächeln zu antworten. Er war zu schwach dazu, aber Bremer.. .fühlte es irgendwie, ebenso wie er spürte, daß Mark nicht einschlafen würde. Es war beinahe unheimlich - wahrscheinlich lag es wirklich an dem, was Sendig ihm über die Droge erzählt hatte, und vielleicht daran, daß er diesen mißhandelten Jungen jetzt mehr denn je mochte, aber für einen Moment war es fast, als wären auch ihre Gefühle miteinander verschmolzen. Er spürte den Schmerz des Jungen wie einen eigenen, seine Unsicherheit, die Verzweiflung und die unendlich tiefe Sehnsucht nach einer Liebe und Geborgenheit, die er niemals im Leben erfahren hatte.

»Können Sie... mir helfen?« fragte Mark leise.

»Ich weiß es nicht«, antwortete Bremer. Wahrscheinlich kann das niemand mehr, fügte er in Gedanken hinzu, und im gleichen Moment öffnete Mark die Augen und sah ihn wieder an, und Bremer wußte mit absoluter Sicherheit, daß er diesen Gedanken gespürt hatte.

»Ja«, sagte Sendig laut.

Bremer wandte überrascht den Kopf, und auch Mark blickte den Kommissar fragend an, mißtrauisch und voller Zweifel, aber auch von einer plötzlichen, jähen Hoffnung erfüllt.

»Sendig«, begann Bremer, »Sie sind -«

»Wir können es wenigstens versuchen«, unterbrach ihn Sendig. »Und ich schätze, wir können es.«

»Was?« fragte Bremer scharf. »Ein Wunder vollbringen? Die Zeit zurückdrehen und ungeschehen machen, was sie mit ihm angestellt haben?«

»Das hat nichts mit Wundern zu tun«, behauptete Sendig. Etwas stimmte nicht mit ihm. In seinen Augen war wieder dieses wilde Flackern, aber es hatte sich verändert. Zu der Furcht war etwas hinzugekommen, das Bremer alarmierte. »Was mit ihm geschehen ist, haben ihm Menschen angetan, und alles, was Menschen tun, kann auch wieder rückgängig gemacht werden, oder?«

Bremers Blicke wurden beschwörend. Hatte Sendig jetzt endgültig den Verstand verloren? Der Junge konnte sich eindeutig an das meiste von dem, was mit ihm geschehen war, nicht erinnern. Von allen Beteiligten wußte er wahrscheinlich das wenigste. Sendig war nahe daran, eine Katastrophe auszulösen.

»Hören Sie, Mark«, fuhr Sendig in erregtem, fast schon hysterischem Ton fort, »ich verspreche Ihnen keine Wunder, aber wir werden tun, was wir können. Aber Sie müssen uns helfen - okay?«

»Und wie?« Mark ballte die Hände zu Fäusten. »Ich weiß ja nicht einmal, ob ich mir das alles nur einbilde oder nicht. Vielleicht werde ich einfach verrückt.«

»Unsinn«, sagte Sendig. »Sie sind nicht verrückter als ich. Wir müssen herausfinden, was damals wirklich geschehen ist. Ich fürchte allerdings, Ihr Vater wird uns das nicht freiwillig sagen. Aber das kriegen wir schon hin.«

»Und... Beate?« fragte Mark.

Bremers Herz begann zu hämmern. Er hatte diese Frage befürchtet, von dem Moment an, in dem Sendig das Mädchen das erste Mal erwähnt hatte. Vielleicht geschah die Katastrophe, die er vorausgeahnt hatte, jetzt.

»Ich weiß nicht, wo sie ist«, antwortete Sendig. »Nicht genau. Aber sie ist am Leben, und wir finden sie, das verspreche ich Ihnen. Schließlich ist das unser Job. Und was Ihre Angst angeht, den Verstand zu verlieren, mein lieber Junge, da kann ich Sie beruhigen. Sie haben sich das alles nicht nur eingebildet. Ich kann es Ihnen beweisen.«

Er warf Bremer einen raschen, beinahe beschwörenden Blick zu, dann wandte er sich mit einem gezwungenen Lächeln wieder an Mark. »Der Keller, von dem Sie geträumt haben, Mark - er existiert. Und ich weiß, wo er ist.«

Bremer wußte nicht, wie lange er sich noch beherrschen konnte. Was hatte Sendig vor? Wollte er einfach sehen, wie weit er gehen konnte, öder war er es jetzt, der den Verstand verlor?

»Sie wissen, wo er ist?« fragte Mark erregt. »Wo?«

»Langsam.« Sendig machte eine entsprechende Handbewegung. »Wir bringen Sie hin, das verspreche ich. Aber zuvor verlange ich ein Versprechen von Ihnen.«

»Welches?«

»Schließen wir ein Bündnis«, sagte Sendig. »Sie und ich - und Bremer hier - zusammen. Wir finden heraus, was passiert ist. Und wir finden heraus, wie wir Ihnen helfen können.«

Mark sah ihn lange und ernst an, und Bremer spürte, daß es mehr als nur ein Blick war. Etwas geschah in ihm, etwas Gewaltiges und Endgültiges, und als er schließlich nickte, da war es mehr als eine bloße Bewegung. Mit dieser kleinen Geste schlössen Sendig und er einen Pakt für die Ewigkeit. Und Bremer hatte das unangenehme Gefühl, daß er Teil dieses Paktes war, ob er wollte oder nicht.

Er ertrug es nicht mehr. Wäre er noch eine Sekunde länger geblieben, dann hätte er Sendig angeschrien oder ihn niedergeschlagen, und er hätte Mark gesagt, mit wem er es wirklich zu tun hatte - nämlich mit einem Mann, der wahrscheinlich gar nicht wußte, was das Wort Gewissen bedeutete, und der um sein Leben redete. Mit einem Ruck stand er auf, eilte zur Tür und stieß sie mit solcher Wucht auf, daß sie zurückfederte und ihn fast getroffen hätte.

Erst als er sich einige Schritte vom Wagen entfernt hatte, kam ihm zu Bewußtsein, wie leichtsinnig er sich verhielt - seine Chancen hätten gerade nicht schlecht gestanden, unversehens in ein Dutzend Gewehrläufe zu blicken. Sie standen seit einer guten Viertelstunde hier. Die rechtmäßigen Besitzer des Krankenwagens hatten vermutlich längst die Polizei alarmiert. Daß sie es mit einer mit herkömmlicher Logik nicht zu erklärenden Bedrohung zu tun hatten, verleitete ihn offenbar dazu, ihre realen Verfolger zu vergessen.

Sendig kam hinter ihm aus dem Wagen und zündete sich die letzte Zigarette aus seiner Packung an. Seine Hände zitterten so heftig, daß er sie kaum halten konnte. Er wich Bremers direktem Blick aus, kam aber langsam näher.

»Sind Sie verrückt geworden?« fuhr Bremer ihn an, ehe er auch nur Gelegenheit fand, ein einziges Wort zu sagen.

»Wieso?«

»Wieso?« keuchte Bremer. Er gestikulierte heftig zu der offenstehenden Tür des Wagens. »Was glauben Sie, was passiert, wenn er herausfindet, daß Sie ihn angelogen haben?«

»Das habe ich nicht«, sagte Sendig ruhig.

»Ach? Sie -«

»Sie meinen den Keller?« Sendig wedelte so heftig mit seiner Zigarette, daß sie eine Spur hellroter Funken hinter sich herzog, die auf halbem Weg zum Boden verloschen. »Ich weiß tatsächlich, wo er ist. Und Sie auch.«

»Ich?«

»Das können Sie doch nicht vergessen haben!« sagte Sendig mit schlecht gespielter Verblüffung. »Wir waren dort, Bremer. Sie und ich und eine Menge anderer.«

Bremer riß ungläubig die Augen auf. »Sie... Sie meinen den Keller -«

»In Sillmanns Labor, genau«, sagte Sendig. »Also, man muß nun wirklich kein Tiefenpsychologe sein, um zu erkennen, daß er von dem Ort träumt, an dem alles angefangen hat. Sie erinnern sich wirklich nicht? Der Tisch, die vielen Kerzen...«

Bremer schwieg betroffen. Natürlich erinnerte er sich. Wie hatte er es vergessen können?

»Und das Mädchen?« fragte er. »Was ist, wenn er herausfindet, daß sie nicht mehr am Leben ist?«

»Ist sie das denn nicht?«

»Sie wissen genauso gut wie ich, daß sie tot ist«, sagte Bremer. »Sie ist in einem der Wagen verbrannt.«

»Wer sagt das?« fragte Sendig. »Mark hat nur erzählt, daß sie sie in den Wagen gezerrt haben. An das, was danach geschehen ist, kann er sich nicht erinnern. Und das sollte auch so bleiben, wenigstens für eine Weile.«

»Früher oder später wird er die Wahrheit herausfinden.«

»Wahrscheinlich«, gestand Sendig. »Aber so gewinnen wir wenigstens etwas Zeit.«

»Zeit wofür?«

»Verdammt noch mal, ich weiß es nicht!« Plötzlich war Sendigs Ruhe wie fortgeblasen. Er warf die Zigarette auf den Boden und stampfte wütend mit dem Absatz darauf. »Ist Ihnen eigentlich klar, womit wir es hier zu tun haben? Haben Sie überhaupt zugehört?! Dieser harmlose arme Junge dort drinnen ist ein Killer! Er hat wahrscheinlich an einem einzigen Tag ein halbes Dutzend Leute umgebracht!«

»Es ist nicht seine Schuld«, sagte Bremer.

»Klasse«, antwortete Sendig höhnisch. »Das werde ich auf unsere Grabsteine meißeln lassen: Es war nicht seine Schuld. Zum Teufel, Bremer, begreifen Sie doch: Dieser Junge tötet im Schlaf. Vielleicht erinnert er sich wirklich nicht mehr an das, was damals geschehen ist, aber irgend etwas in ihm tut es. Und dieses Etwas ist gerade beim Großreinemachen! Er bringt jeden um, der irgendwie mit der Sache damals zu tun hatte. Ich weiß nicht, was dieser Löbach und sein Vater mit ihm gemacht haben, aber er rächt sich dafür. So einfach ist das.«

»Das ist doch völlig verrückt!« widersprach Bremer - obwohl er ganz genau wußte, daß es die Wahrheit war. Er wußte es sogar sehr viel besser als Sendig.

Er bewegte sich zwei Schritte von Sendig und dem Wagen weg und sah sich um. Die Nacht war sternenklar, aber trotzdem sehr dunkel. Die Mauern der aufgelassenen Fabrik erhoben sich absolut schwarz rings um sie herum, und er kam sich eingesperrt vor, gefangen in einer Nacht, die nie wieder enden würde. Noch vor vierundzwanzig Stunden hätte er sich geweigert, auch nur über die bloße Möglichkeit nachzudenken, daß es Dinge wie diese geben konnte - und jetzt stand er hier und unterhielt sich ernsthaft mit Sendig darüber, wie sie einen achtzehnjährigen Jungen davon abbringen konnten, sie zu töten, indem er träumte.

»Ja«, sagte Sendig. »Wahrscheinlich ist es das sogar. Aber haben Sie eine bessere Idee?«

»Nein«, sagte Bremer. Er starrte in die Dunkelheit vor sich, und für ein paar Sekunden wünschte er sich beinahe, daß der Schatten wiederkäme und es endlich ein Ende hätte.

»Sehen Sie«, sagte Sendig. »Ich auch nicht. Und jetzt steigen Sie ein, und fahren Sie uns zu Sillmanns Fabrik.«

»Und Sie?«

Sendig deutete auf die offenstehenden Hecktüren. »Ich bleibe bei ihm und passe auf, daß er nicht einschläft.«

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