23. Kapitel

»Ich glaube fast, Sie haben recht«, sagte Sendig. »Sie könnte es sein.« Er hatte sich so weit vorgebeugt, daß sein Gesicht fast gegen die Scheibe stieß und das Glas unter seinem Atem beschlug, während er aus angestrengt zusammengekniffenen Augen zu der Gestalt auf der anderen Straßenseite hinüberstarrte. Bremer fragte sich allerdings, was er auf diese Weise zu erkennen hoffte. Sie standen sicherlich dreißig Meter vom Gartentor der Sillmann-Villa entfernt, noch dazu auf der anderen Straßenseite und in einem ungünstigen Winkel, entschieden zu weit, um das Gesicht des dunkelhaarigen Mädchens identifizieren zu können. »Sie ist es«, sagte er schlechtgelaunt. »Ich bin ganz sicher. Ich war ihr so nahe wie jetzt Ihnen.«

Sendig wandte kurz den Kopf und sah ihn mißtrauisch an, fuhr dann aber fort, die Scheibe vollzuhauchen und gleichzeitig nervös und unrhythmisch auf der Armlehne zu trommeln. »Es ist ja nicht so, daß ich Ihre Beobachtungsgabe anzweifle«, sagte er nach einer Weile. »Aber ich habe mich erkundigt, wissen Sie? Niemand kennt dieses Mädchen im Stift.« Er zögerte einen ganz kurzen Moment, ehe er hinzufügte: »Übrigens kann sich auch niemand daran erinnern, daß der junge Sillmann mit ihr zusammen weggegangen wäre.«

»Außer mir«, sagte Bremer.

»Außer Ihnen.« Sendig nickte und sah endlich wieder ganz in seine Richtung. »Diese Geschichte wird immer mysteriöser. Ich glaube beinahe, wir hatten bisher den falschen Sillmann im Visier.«

»Wir«, antwortete Bremer mit Nachdruck, »hatten bisher doch wohl überhaupt niemanden im Visier. Sie sagen mir ja nichts.«

Sendig grinste, als hätte er einen besonders guten Scherz zum besten gegeben, drehte den Kopf wieder nach rechts und hob plötzlich die Hand, als wenn er etwas sagen wollte. »Schauen Sie!« sagte er. »Er kommt!«

Bremer lehnte sich ein bißchen nach vorne, um an Sendig vorbei einen Blick auf das Haus werfen zu können. Tatsächlich war die Haustür aufgegangen, und Mark Sillmann stürmte heraus. Er ging nicht etwa - er stürmte mit gewaltigen Schritten auf das Tor zu. Eine Winzigkeit mehr, und er wäre gerannt. Die beiden Polizisten beobachteten, wie er den Garten durchquerte und das Tor mit solcher Wucht hinter sich zuwarf, daß sie den Knall bis hierher hören konnten.

»Hoppla«, sagte Sendig. »Scheint, als hinge der Haussegen bei den Sillmanns ein bißchen schief.«

Bremer schwieg. Sie waren viel zu weit entfernt, um etwas von dem Gespräch mitbekommen zu können, das sich zwischen Mark und dem Mädchen entwickelte, aber die Körpersprache der beiden verriet genug. Bremer war nicht ganz sicher, ob er einen Streit beobachtete, zumindest aber eine sehr hitzige Diskussion. Das Mädchen setzte zwei-, dreimal dazu an wegzugehen, aber Mark hielt es jedesmal mit mehr oder weniger sanfter Gewalt zurück und redete heftig gestikulierend weiter. Die Diskussion dauerte nur wenige Minuten. Schließlich beruhigten sich Sillmann und das Mädchen und gingen nebeneinander und sehr schnell, aber ohne sich zu berühren, davon.

»Folgen wir ihnen?« fragte Bremer. Er streckte die Hand nach dem Zündschlüssel aus, und Sendig nickte, hielt aber zugleich seinen Arm fest.

»Ja, aber nicht gleich. Warten Sie einen Moment. Besser, sie merken es nicht.«

So erregt, wie die beiden waren, dachte Bremer, hätten sie wahrscheinlich nicht einmal gemerkt, wenn er ihnen mit einem Schützenpanzer hinterhergefahren wäre. Aber natürlich hatte Sendig recht - wie fast immer. Es war besser, vorsichtig zu sein.

»Ich würde meine rechte Hand dafür geben, zu wissen, was da passiert ist«, sagte Sendig leise und im Ton eines Selbstgespräches. »Er hat Ihnen nicht gesagt, was genau er dort wollte?«

»In der Klinik?« Bremer schüttelte den Kopf. »Er wollte seine Mutter besuchen.«

»Zum zweiten Mal an einem Tag?« Sendig machte eine wedelnde Handbewegung. »Sehr seltsam... und dann dieses Mädchen... Ich habe das Gefühl, daß wir ganz dicht davor stehen, etwas sehr Interessantes herauszufinden.«

Plötzlich war er sehr aufgeregt. »Also gut, Bremer. Sie nehmen den Audi und fahren den beiden nach. Aber vorsichtig! Sie dürfen Sie nicht bemerken. Und greifen Sie nicht ein, egal was passiert.«

Er griff in die Manteltasche und fingerte die Schlüssel des Dienstwagens heraus, der fünfzig Meter die Straße hinab hinter der nächsten Biegung geparkt war. »Also los. Ich bleibe hier und behalte das Haus im Auge. Ich habe das Gefühl, daß sich hier bald etwas tut. Sie haben meine Telefonnummer?«

»Nein«, antwortete Bremer, während Sendig nach dem Schlüssel griff und mit der linken Hand bereits die Tür des Mercedes öffnete. »Wozu? Der Audi hat Funk und -«

»Ja, und genau den sollen Sie nicht benutzen«, unterbrach ihn Sendig. »Fragen Sie nicht, warum, tun Sie es einfach. Hier ist meine Nummer.« Er drückte Bremer einen kleinen Zettel in die Hand, auf dem er bereits die Nummer des Autotelefons notiert hatte, und begann ungeschickt, über den Ganghebel hinweg auf den Fahrersitz des Mercedes zu rutschen, kaum daß Bremer aus dem Wagen gestiegen war. »Und jetzt beeilen Sie sich, bevor die beiden weg sind.«

Bremer verdrehte die Augen, aber er ersparte sich den Hinweis, daß es Sendig selbst gewesen war, der ihn noch vor kaum einer Minute daran gehindert hatte, Mark und seiner Freundin sofort zu folgen. Statt dessen warf er noch einen letzten prüfenden Blick zu den beiden Gestalten hinüber, die schon fast das Ende der Straße erreicht harten, und setzte sich dann in die entgegengesetzte Richtung in Bewegung. Er rannte nicht, um nicht aufzufallen, aber er ging doch sehr schnell, und er widerstand auch der Versuchung, sich erneut herumzudrehen, als er die Biegung erreichte. Er hatte zwar seine Uniform gegen zivile Kleidung getauscht, wie Sendig geraten hatte, aber er wollte trotzdem kein Risiko eingehen.

Als er um die Ecke bog und die Straße überquerte, um den Audi zu erreichen, der auf der anderen Straßenseite geparkt war, war er ein wenig unaufmerksam. Er bemerkte den Wagen, der in raschem Tempo herangefahren kam, erst im allerletzten Moment und mußte sich mit einem hastigen Satz zurück auf den Bürgersteig in Sicherheit bringen. Trotzdem fuhr der Wagen so dicht an ihm vorbei, daß er den Luftzug spüren konnte. Bremer drehte sich fluchend herum, und der Polizist in ihm suchte ganz automatisch nach dem Nummernschild des Wagens. Fast beiläufig registrierte er, daß es kein Berliner Kennzeichen war, aber seine Aufmerksamkeit reichte nicht mehr aus, den Rest zu identifizieren - er riß ungläubig die Augen auf, und aus seinem zornigen Erschrecken wurde Überraschung - und dann ein neuer, aber gänzlich anderer Schrecken.

Es war nicht irgendein Wagen, der ihn fast überfahren hätte. Es war ein dunkelblauer großer BMW mit getönten Scheiben. Bremer sah ihn nur noch einen Sekundenbruchteil, ehe er, ohne den Blinker betätigt zu haben oder irgendwie seine Geschwindigkeit herabzusetzen, um die Ecke bog, aber er erkannte in dieser kurzen Zeitspanne doch einige weitere, beunruhigende Details. Der Wagen verfugte neben seiner normalen auch noch über zwei weitere, kleine Antennen: eine auf dem Dach und eine zweite auf dem hinteren Kotflügel. Trotz der überbreiten Reifen und der Spurverbreiterung lag der Wagen sehr tief, und er bewegte sich kaum in den Federn, als er abbog, was auf ein enormes Gewicht schließen ließ. Eigentlich gab es nur eine Erklärung dafür: Der Wagen war gepanzert. Und das wiederum bedeutete, daß -

Bremer beschloß, später darüber nachzudenken, was diese Erkenntnis in letzter Konsequenz bedeuten mußte, fuhr auf dem Absatz herum und rannte auf den Audi zu, so schnell er nur konnte.

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