53. Kapitel

Hintereinander stürmten sie die Treppe hinab. Weiter oben war das Haus noch eine Mischung aus Büro und altem Bauernhof gewesen, aber hier unten bot sich ihnen ein gänzlich anderes Bild: Der Gang, der sich an die steile Holztreppe anschloß, trennte ein halbes Dutzend ultramodern eingerichteter Laborräume voneinander, in die große Scheiben aus entspiegeltem Sicherheitsglas einen fast vollkommenen Einblick gewährten. Obwohl sie menschenleer waren, schienen sie nicht wirklich verlassen: Hier und da arbeitete ein fleißiger Computer, drehte sich eine Zentrifuge oder hüpften grün leuchtende Lichtpunkte über Bildschirme, und in der Luft lag ein geschäftiges Raunen und Wispern, wie das Flüstern unsichtbarer Kinder, fast wie Gelächter. Darunter, noch leiser, aber deutlich hörbar, schien etwas wie ein Herzschlag zu pochen: das Geräusch größerer Maschinen, die irgendwo in einem anderen Teil der Fabrik arbeiteten.

Aber das war nicht alles.

Außer ihm und den beiden anderen Agenten war kein Mensch hier, und trotzdem war etwas da. Etwas war mit ihnen hereingekommen, etwas Tödliches und Gewaltiges, und Haymar konnte fast körperlich spüren, wie sich eine düstere Kraft rings um sie herum zusammenballte, wie unsichtbare Energielinien, die Luft durchzogen und ein Netz bildeten, dessen Maschen immer enger wurden. Es war dasselbe Etwas, das Brauss getötet und den Wagen zum Explodieren gebracht hatte. Es war vielleicht nicht mächtig genug, sie alle auf einmal zu erwischen, aber es holte sie einen nach dem anderen, und es war schnell. Vielleicht spielte es sogar nur mit ihnen.

Haymar war nicht der einzige, der es spürte. Auch Andres und Lech sahen sich öfter um, und Lechs Zeigefinger strich immer nervöser über den Abzug seiner UZI, was Haymar instinktiv dazu brachte, etwas weiter hinter ihn zurückzufallen. Er hatte wenig Lust, vor dem Lauf seiner Waffe zu stehen, wenn dem Kerl die Nerven durchgingen.

»Was... was ist das hier?« fragte Andres nervös.

Im ersten Moment kam Haymar die Frage ziemlich dumm vor, dann fiel ihm ein, daß er und Berger ja die einzigen waren, die damals dabeigewesen waren - die einzigen, die noch lebten, hieß das. Vielleicht galt das sogar nur noch für ihn. »Sillmanns Labor«, sagte er knapp. »Das meine ich nicht«, sagte Andres nervös. »Irgend etwas... geht hier vor.«

Sie spürten es also auch, dachte Haymar. Er wußte nicht, ob er über diese Erkenntnis wirklich erleichtert sein sollte. Sie bewies ihm zwar, daß er nicht verrückt war - aber sie machte das unsichtbare Etwas, das sie verfolgte, auch ein ganzes Stück realer. »Das ist der Junge«, sagte er.

»Der Junge? Sillmann?«

»Berger, dieser Idiot«, murmelte Haymar. »Ich habe ihm damals schon gesagt, er soll dieses Monsterbaby erledigen. Aber er hat nicht auf mich gehört.« Wir werden das nachholen, fügte er grimmig in Gedanken hinzu. Jetzt.

Er ignorierte Andres' verwirrte Blicke, eilte rasch an ihm und Lech vorbei und erreichte als erster die weißlackierte Tür am anderen Ende des Korridors. Sie war so schwer, daß er beide Hände zu Hilfe nahmen mußte, um sie zu öffnen. Dahinter begann eine weitere, steil nach unten führende Treppe. Sie war von zwei Neonleuchten erhellt, deren untere jedoch einen defekten Starter zu haben schien, denn sie ging immer wieder aus. Trotzdem konnte Haymar die Eisentür erkennen, die sich am unteren Ende der Treppe befand. Das flackernde Licht und die unheimlichen Geräusche, die sie umgaben, verliehen der Szenerie zusätzlich etwas Gespenstisches.

»Also gut«, sagte er. »Hört mir zu: Gebt auf den Jungen acht - er ist die größere Gefahr. Wenn er irgend etwas tut, und wenn er nur hustet, dann schießt!«

»Berger hat gesagt, er wäre tabu«, erinnerte Andres. »Außerdem ist er fast noch ein Kind.«

»Berger ist mit ziemlicher Sicherheit tot«, antwortete Haymar grimmig. »Und dieser Junge ist alles andere als ein Kind, glaub mir. Er ist ein Killer. Wenn Berger noch lebt, bringen wir ihn hier raus. Wenn nicht, erschießt den Jungen und die beiden Bullen, und dann verschwinden wir. Los!«

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