11. Kapitel

»Irgend etwas stimmt nicht«, sagte Sendig, während seine Finger nervös auf das Lenkrad trommelten. Er sah Bremer nicht an, und er hatte auch ziemlich leise und wohl gar nicht direkt zu ihm gesprochen, sondern mehr zu sich selbst; und wahrscheinlich hatte er auch nicht damit gerechnet, eine Antwort zu bekommen. Sie saßen seit gut fünf Minuten im Wagen vor der Sillmann-Villa, und Bremer hatte die gleiche Zeit vergeblich darauf gewartet, daß Sendig losfuhr oder irgend etwas sagte. Aber sein neuer Vorgesetzter und Kollege hatte weder das eine noch das andere getan, sondern nur wortlos vor sich hin gestarrt, während seine Finger den Takt zu einer Melodie auf dem Lenkrad trommelten, die Bremer erkennen zu wollen aufgegeben hatte. Er sah sehr besorgt aus, und aus einem Grund, den Bremer sich nicht richtig erklären konnte, auch sehr zornig.

»Etwas stimmt ganz und gar nicht.«

»Mit wem?« fragte Bremer. »Sillmann?«

»Nein«, antwortete Sendig, schüttelte den Kopf und verbesserte sich selbst: »Oder doch. Aber ich meine nicht den Alten. Der Junge, Mark.«

Der unwillige Ton in seiner Stimme korrespondierte mit seinem Gesichtsausdruck, aber Bremer hatte das sichere Gefühl, daß beide nichts miteinander gemein hatten. Vielmehr hatte Sendig in einem Ton gesprochen, der ihm klarmachte, daß er seine Frage für überflüssig hielt, es vielleicht auch nicht gewohnt war, von einer Kreatur so niedrigen Standes, wie sie ein gemeiner Streifenpolizist darstellte, angesprochen zu werden. Trotzdem fuhr Bremer fort: »Was soll mit ihm sein?«

Sendig warf ihm einen durchdringenden Blick zu und zog die Augenbrauen zusammen, aber es verging noch einmal annähernd eine halbe Minute, ehe er antwortete: »Er sollte nicht hier sein. Die Geschichte mit der Krankheit war eine Lüge.«

»Wie kommen Sie darauf?«

Sendig hob die Schultern, streckte die Hand nach dem Zündschlüssel aus und zog den Arm wieder zurück, ohne ihn berührt zu haben. »Gespür. Ich weiß, wenn mich jemand belügt. Sie nicht?« Er wartete Bremers Antwort gar nicht ab, sondern fuhr fast unmittelbar fort: »Allerdings scheint der Alte die Story geglaubt zu haben.«

»Und warum nicht?« fragte Bremer.

Sendig grunzte. »Ja, und wo wir schon einmal dabei sind - warum glauben wir nicht gleich wieder an den Weihnachtsmann? Der Junge sollte in einem Internat sein, stimmt's? Und er kommt ausgerechnet heute zurück? Wissen Sie was? Ich halte jede Wette, daß ich weiß, wo er gewesen ist, ehe er nach Hause kam. In der Klinik.«

»Und was ist daran so erstaunlich? Immerhin ist seine Mutter in diesem Krankenhaus - er wird sie besucht haben.«

»Ausgerechnet heute?!«

»Vielleicht nicht ausgerechnet heute«, antwortete Bremer betont. »Es kann ein Zufall sein. Vielleicht besucht er sie auch regelmäßig einmal die Woche, immer am gleichen Tag. Was weiß ich.«

Sendig bedachte ihn erneut mit einem langen Stirnrunzeln, und sein Blick fügte so deutlich hinzu, daß Bremer es beinahe zu hören glaubte: Stimmt. Was weißt du schon? Laut sagte er: »Und immer zwei Stunden bevor die offizielle Besuchszeit beginnt?« Er wies mit einer unwilligen Geste auf die Uhr im Armaturenbrett, und Bremer gestand sich im stillen ein, daß er darauf auch von selbst hätte kommen können. Es war einfach noch zu früh, um einen normalen Besuch in einer Klinik abzustatten. Ein Punkt für Sendig. Und nicht einmal der erste. Seit er, wie versprochen, gekommen war, um Bremer abzuholen, waren gerade einmal zwei Stunden vergangen - aber diese Zeit hatte bereits gereicht, in Bremer ernsthafte Zweifel zu wecken, sich richtig entschieden zu haben. Natürlich hatte er gewußt, daß Sendig ihn nicht als gleichberechtigten Partner behandeln würde; dazu war er wahrscheinlich gar nicht in der Lage. Er wäre nicht einmal überrascht gewesen, Sendig genauso ekelhaft und zynisch zu erleben, wie er ihn nun einmal kannte. Aber wenig davon war wirklich geschehen. Sendig spielte nicht etwa seine Überlegenheit aus oder gar seinen höheren Dienstrang - er tat etwas viel Schlimmeres: Er ließ Bremer in jeder Sekunde spüren, daß er einfach besser war. Er hatte einen schärferen Verstand, wußte sich besser auszudrücken und vergaß offensichtlich nie etwas, ganz gleich, ob es fünf Minuten oder fünf Jahre her war. Und er schien Dinge mit der Präzision eines Hochleistungscomputers zu registrieren und in den richtigen Zusammenhang zu bringen, von denen Bremer nicht einmal begriff, daß sie etwas miteinander zu tun hatten. Bremer begann sich immer mehr zu fragen, warum Sendig am Morgen eigentlich gekommen war, um ihm dieses überaus großzügige Angebot zu machen. Bisher war er ihm kaum eine Hilfe gewesen, sondern hatte ihm allenfalls im Weg herumgestanden. Dazu kam, daß Sendig alles andere als kooperativ zu sein schien; bisher hatte er es nicht einmal für nötig befunden, ihm zu sagen, worum es in dem geheimnisvollen Telefongespräch gegangen war, das er aus Sillmanns Arbeitszimmer geführt hatte.

Bevor er jedoch eine entsprechende Bemerkung machen konnte, summte das Telefon. Sendig hob ab und lauschte einen Moment konzentriert in den Hörer, ohne sich zuvor gemeldet zu haben oder auch nur ein Wort zu sagen. Er hängte ebenso wortlos wieder ein, aber was er nicht sagte, verriet sein Gesichtsausdruck dafür um so deutlicher.

»Schlechte Nachrichten?« fragte Bremer.

»Wie man's nimmt«, antwortete Sendig ausweichend. »Auf jeden Fall interessante. Sagt Ihnen der Name Artner etwas? Professor Artner?«

Bremer kramte einen Moment lang in seiner Erinnerung, schüttelte aber dann den Kopf. »Nein. Sollte er?«

»Wahrscheinlich nicht«, erwiderte Sendig mit einem vielsagenden Seufzen. »Aber wo wir schon einmal bei dem Thema sind - es scheint, als wäre im Moment das große Akademiker-sterben ausgebrochen.«

»Aha«, sagte Bremer. Allmählich begann er sich wirklich über Sendig zu ärgern. Wofür hielt der Kerl sich eigentlich, daß er nur in Rätseln sprach? Für eine Wiedergeburt der Sphinx? »Und wer ist dieser Artner?«

»War«, verbesserte ihn Sendig und startete den Motor. »Die Vergangenheitsform ist hier wohl eher angebracht. Dr. Artner war der Chefarzt der Klinik, in der Sillmanns Frau sitzt. Marks Mutter, um genau zu sein. Na - glauben Sie immer noch, daß das alles Zufall ist?«

»Moment«, sagte Bremer. »Sie wollen nicht sagen, daß - Mark irgend etwas mit Artners Tod zu tun hat?«

Sendig unterbrach ihn mit einem Kopfschütteln und einem angedeuteten abfälligen Lächeln. »Kaum. Jedenfalls nicht direkt. Mir sind das alles nur ein paar Zufälle zuviel auf einmal.« Er gab Gas und fuhr los, ohne auch nur einen Blick in den Spiegel geworfen zu haben.

»Auch Ärzte sterben dann und wann«, gab Bremer zu bedenken - eigentlich wider besseres Wissen. Natürlich hatte Sendig recht: Artner, Löbach und jetzt das Auftauchen des jungen Sillmann - das alles waren tatsächlich ein paar Zufälle zuviel.

»Erstens«, sagte Sendig und hob den Daumen, »war Professor Artner kein überarbeiteter Karrierearzt, sondern ein Mann in den besten Jahren, der sich bis gestern abend einer hervorragenden Gesundheit erfreut hat, zweitens -« Er hob den Zeigefinger, »- steht es noch gar nicht fest, daß er wirklich einen Herzinfarkt erlitten hat. Bisher vermuten sie es nur. Drittens -« Jetzt hob er den Mittelfinger, »- war mir der Bursche ein bißchen zu nervös, der ihn angeblich gefunden hat. Viertens -« Jetzt hatte er nur noch den kleinen Finger der rechten Hand am Steuer, »- glaube ich kein Wort von der angeblichen technischen Störung.«

»Was für eine technische Störung?« erkundigte sich Bremer irritiert.

Für einen Moment wirkte Sendig ertappt, hatte sich aber sofort wieder in der Gewalt. »Die Krankenzimmer werden ständig überwacht«, erklärte er. »Die sind da unten mit Videotechnik und Kameras ausgestattet, auf die Hollywood neidisch wäre. Und der ganze Kram fällt ausgerechnet in dem Moment aus, in dem Dr. Artner vor laufender Kamera der Schlag trifft?«

Und fünftens bist du verdammt gut informiert, dachte Bremer. Das alles konnte Sendig nicht in den wenigen Augenblicken erfahren haben, die er gerade telefoniert hatte. Ganz offensichtlich verschwieg ihm sein neuer Partner eine Menge mehr, als er ohnehin schon angenommen hatte, und er machte sich nicht einmal die Mühe, es zu verheimlichen.

Er sagte nichts davon, sondern warf statt dessen einen nervösen Blick auf den Tachometer. Sie fuhren annähernd sechzig. Auf einer Straße, die höchstens für die Hälfte dieser Geschwindigkeit gut war. »Sagen Sie... haben Sie mehr als zehn Gründe, mißtrauisch zu sein?« fragte er.

Sendig sah ihn eine Sekunde lang verständnislos an, dann folgte er Bremers Blick, der nervös an seiner linken Hand und dem letzten verbliebenen Finger hing, der das Lenkrad hielt. Aber er tat Bremer auch den Gefallen, das Steuer wieder fest zu ergreifen und sogar etwas langsamer zu fahren.

»Ich komme auf zwanzig, wenn ich in Ruhe darüber nachdenke«, sagte er. »Aber ich habe keine Lust, dafür die Schuhe auszuziehen. Außerdem möchte ich Ihnen das nicht antun.«

»Sehr rücksichtsvoll«, murmelte Bremer, dann hob er den Blick und sah wieder auf die Straße hinaus. »Das ist nicht der Weg zur Klinik.«

»Wir fahren auch nicht dorthin«, antwortete Sendig. »Jedenfalls nicht gleich.«

»Aber ich dachte -«

»Der Anruf gerade?« Sendig schüttelte den Kopf. »Es ging nicht um Artner. Das habe ich schon heute morgen erfahren, bevor ich zu Ihnen gekommen bin.«

Das überraschte Bremer nicht im mindesten, aber irgend etwas sagte ihm auch, daß Sendig nicht geneigt war, ihm zu erklären, worum es denn nun gegangen war. Allmählich begann er sich zu fragen, warum er überhaupt hier war, aber er sparte es sich auch, diese Frage laut zu stellen. Vielleicht hätte er sogar eine Antwort bekommen, doch er war ziemlich sicher, daß sie ihm nicht gefallen würde. Er drehte den Kopf wieder zur anderen Seite, um aus dem Fenster zu sehen - und fuhr so erschrocken zusammen, daß Sendig um ein Haar das Steuer verrissen hätte und hart auf die Bremse trat.

Sie waren nicht mehr allein im Wagen. Jemand saß hinter ihnen.

Bremer hatte es nur im Spiegel gesehen, und auch da nur aus den Augenwinkeln: ein kaum sichtbares, dunkles Flackern; gerade noch an der Grenze des überhaupt Wahrnehmbaren - aber das war eindeutig kein Schatten gewesen.

Sendig brachte den Wagen mit einem unnötig harten Ruck zum Stehen und fragte erschrocken: »Was ist los?«

Bremer schwieg. Hinter ihnen war nichts. Sie waren allein im Wagen.

»Was ist?« fragte Sendig noch einmal. Täuschte er sich, oder hörte er jetzt deutlich einen Unterton von Häme in seiner Stimme?

»Nichts«, antwortete Bremer. Er starrte noch eine Sekunde lang reichlich verdattert die leere Bank hinter sich an, schüttelte den Kopf und sagte noch einmal: »Es war ... nichts. Ich muß mich wohl getäuscht haben.« Hastig drehte er sich wieder herum.

Sendig blickte ihn zweifelnd an. Er sagte nichts mehr, aber Bremer konnte zur Abwechslung einmal fast seine Gedanken lesen. Es spielte keine Rolle, was sie voneinander hielten - sie beide waren Männer, von denen man nicht erwartete, daß sie sich täuschten.

»Ich dachte für einen Moment, ich hätte etwas im Spiegel gesehen«, fuhr er mit einem nervösen Lächeln fort, »aber wie gesagt: Es war wohl ein Irrtum. Vielleicht nur ein Schatten.«

Sendig antwortete auch darauf nicht, aber er nahm die Hand vom Steuer und drehte den Innenspiegel so, daß er die Rückbank betrachten konnte. Für einen kurzen Augenblick erschien ein sehr konzentrierter Ausdruck auf seinem Gesicht.

Bremer widerstand der Versuchung, ebenfalls in den Rückspiegel zu sehen. Er hatte auch nicht diesen Spiegel gemeint, sondern den Außenspiegel, und darin hatte er ganz deutlich eine Gestalt gesehen, die auf der Rückbank des Wagens saß und sie anstarrte.

So behutsam wie möglich, damit Sendig es auf keinen Fall sah, drehte er Millimeter für Millimeter den Kopf und blickte aus den Augenwinkeln erneut in den Spiegel. Er konnte den spärlichen Verkehr hinter ihnen erkennen, einen Teil der rechten Tür und die Scheibe darüber.

Und die Gestalt!

Sie war da. Ein hochgewachsener, dunkler Schemen, nicht wirklich eine Gestalt, sondern vielmehr ein Schatten, dem irgendwie der Körper abhanden gekommen war. Und es war auch nicht wirklich der Scharten eines Menschen, sondern eher eines... Nein, das war verrückt!

»Sicher nur ein Schatten«, sagte er noch einmal.

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