4. Kapitel

Der Raum war dunkel und groß. Zwar brannte Licht - eine nicht zu schätzende Anzahl von Kerzen, die, einem asymmetrischen Muster folgend, im Zimmer verteilt waren -, aber etwas stimmte mit diesem Licht nicht. Es war da, aber es war nicht wirklich hell, als erreiche es die Oberfläche der Dinge nicht. Und es verwirrte eher, statt irgend etwas erkennen zu lassen, wie leuchtendes Wasser, das um dunkle Inseln herumfloß, ohne ihre Oberfläche zu benetzen. Was er sah, sah er nicht wirklich, sondern erriet es mehr, so daß er in einer Welt der Dinge war, die existieren konnten, nicht solcher, die tatsächlich waren: Gestalten - fünf, vielleicht sechs oder auch sieben, die im Kreis auf dem Boden saßen und sich an den Händen hielten, wobei sie den Oberkörper im Takt einer unhörbaren Melodie hin und her wiegten. Ihre Gesichter waren leere Flächen ohne Augen und Münder, die massiven Umrisse weniger, aber sehr schwerer Möbelstücke, deren Verteilung mit der der Kerzen korrespondierte und ebensowenig zu bestimmen war, und dazwischen etwas, das ein leuchtendes Kreuz hätte sein können, wäre es nicht zu groß gewesen und zugleich zu organisch.

Ein durchdringender Geruch hing in der Luft, und die Klarheit, die ihm seine Augen nicht liefern konnten, versuchten seine anderen Sinne durch übermäßige Schärfe zu kompensieren. Er spürte jede winzige Unebenheit des Bodens, auf dem er saß. Den leichten Luftzug auf der Haut, der durch das nur angelehnte Fenster hereinstrich. Die winzigen Falten, die seine Kleidung warf, und die Wärme der beiden Hände, die er berührte. Er war Teil des Kreises, und wie die anderen wiegte er den Oberkörper in regelmäßigen Bewegungen, hörte jedoch die lautlose Melodie nicht, deren Rhythmus er dabei folgte.

Das war falsch. Er war Teil dieses Kreises, zugleich aber auch wieder nicht, sondern ausgeschlossen. Und obwohl er noch nicht einmal wußte, weshalb, erfüllte ihn dieser Gedanke mit einem tiefen Bedauern. Er hatte etwas verloren, schlimmer noch, etwas war ihm genommen worden, und obwohl dies selbst für das Wissen um das galt, was es gewesen war, verspürte er einen tiefen Schmerz und zugleich Zorn darüber, denn immerhin wußte er noch, daß es etwas ungemein Großes, Wertvolles und Schönes gewesen war.

Das Licht flackerte. Im ersten Moment dachte er, ein Luftzug hätte die Kerzen berührt, aber die zahllosen winzigen Flämmchen bewegten sich nicht. Trotzdem war zu der Bewegung der Sitzenden eine andere hinzugekommen: die der Schatten, die zu wandern begannen. Er sah auf und erkannte, daß es das leuchtende Kreuz war, das sich auf ihn zubewegte. Es war nicht wirklich ein Kruzifix, sondern eine schlanke Mädchengestalt in einem schmucklosen weißen Kleid, das bisher mit ausgebreiteten Armen dagestanden hatte. Von seiner Gestalt ging tatsächlich ein mildes, goldfarbenes Licht aus, das noch weniger real war als das der Kerzen und seine Sinne noch mehr verwirrte, denn obwohl es nur wenige Meter entfernt dagestanden hatte und nun mit einem Schritt in den Kreis der sich Wiegenden hineintrat, konnte er das Gesicht unter dem glattenschwarzen Haar nicht erkennen. Aber er spürte den Blick ihrer Augen, der durchdringend auf ihm ruhte, und es war etwas darin, das ihn bis ins Mark erschütterte. Etwas, das heißer brannte als Zorn, das tiefer ging als Haß und das ihn am Grunde seiner Seele berührte und etwas in ihm zu Eis erstarren ließ. Ganz instinktiv spürte er, daß das Gesicht hinter diesem goldenen Schein unendlich schön sein mußte, aber daß ihn sein Anblick auch verbrennen würde, denn er war nicht für die Augen Sterblicher gedacht. Trotzdem hätte er sein Leben gegeben, nur einen einzigen Blick hinter diesen Vorhang ausleuchtendem Licht zu werfen.

Dann hörte er die Stimme. Sie war so überirdisch schön und irreal wie die Gestalt selbst, und wie schon zuvor bei ihrem Gesicht war etwas Substantielles von ihr nicht zu erkennen. Hätte er es gekonnt, wäre ihr Klang so tödlich gewesen wie der Anblick des Engelsgesichtes, und er hätte ebensoviel dafür gegeben, ihn ein einziges Mal wirklich zu hören. »Du hast uns verraten«, sagte sie. »Du hast mich verraten, obwohl ich dir mein Vertrauen und meine Liebe geschenkt habe. Sieh, was du getan hast.«

Eine leuchtende Hand hob sich und deutete auf die Gestalt zu seiner Rechten, und als sein Blick der Geste folgte, wurde der Traum endgültig zum Alptraum. Die Hand, die er hielt, war keine richtige Hand; das war sie vielleicht einmal gewesen, aber es mußte Jahre hersein. Jetzt war es eine mumifizierte Klaue, ein dürres Knochengerüst, über dem sich pergamenttrockene graue Haut spannte, die an zahllosen Stellen gerissen war, so daß es weiß hindurchschimmerte. Sie steckte in einem vermoderten braunen Jackenärmel, an dem sein Blick hinaufwanderte, bis er auf das traf, was einmal ein Gesicht gewesen war. Jetzt war es eine verwüstete, zerstörte Landschaft aus mumifiziertem Fleisch, vertrockneten grauen Hautfetzen und kratergleichen Wunden, an deren Grund eine Lava aus weißen Maden brodelte. Augen, Nase und Mund waren verschwunden und zu glitschigen Nistplätzen geworden, und eine gewaltige diagonale Schnittwunde spaltete dieses Horrorantlitz fast zur Gänze.

Er schrie auf und versuchte sich zurückzuwerfen, aber die Totenhand hielt seine Finger mit unerbittlicher Kraß umklammert. Verzweifelt riß und zerrte er, um den stahlharten Griff zu sprengen. Die morschen Knochen raschelten wie trockenes Holz, und graue Leichenhaut löste sich in pulverfeinen Staub auf, der an seiner Hand herablief und in seinen Ärmel rieselte; ein Gefühl, als krabbelten Millionen winziger Spinnen an seinem Unterarm entlang.

»Sieh nur, was du getan hast! Was du uns angetan hast!«

Er wollte es nicht. Er versuchte, sich mit aller Kraß dagegen zu wehren, aber sein Blick löste sich gegen seinen Willen von dem schrecklichen Totengesicht zur Rechten und fiel in das noch viel schlimmere auf der linken Seite. Es war nicht so grausam zerstört wie das andere, aber viel jünger, beinahe noch das eines Kindes, und vielleicht wirkten die Verheerungen darum um so schrecklicher. Es war ein Mädchen mit blondem, schulterlangem Haar, dessen seidiger Glanz einen gräßlichen Kontrast zu der aufgerissenen Totenhaut des Gesichts bildete, und großen Augen, in denen noch eine verblassende Erinnerung an das Leben geschrieben stand, das einst darin gewesen war. Aber auch noch mehr: ein stummer Vorwurf wie ein lautloser Schrei, vor dem er die Augen verschließen konnte, aber nicht die Ohren: Es ist deine Schuld. Wir haben dich geliebt, und das ist dein Dank!

»Sieh, was du getan hast! Sieh es dir an!«

Er schrie erneut und noch lauter und versuchte noch einmal, sich loszureißen. Doch der Griff der toten Hände war wie Stahl. So wie der Anblick des Gesichtes seinen Blick gefangenhielt, umklammerten die dürren Finger seine Hände, ganz gleich, wie verzweifelt er auch versuchte, sich loszureißen. Dann nahm er eine Bewegung aus den Augenwinkeln wahr, und irgend etwas daran durchbrach den Bann, der ihn bisher gezwungen hatte, die Zombiegesichter neben sich anzustarren. Ein Schatten beugte sich über ihn, und für einen winzigen Moment glaubte er das Gesicht hinter dem leuchtenden Schleier zu erkennen. Vielleicht auch nur etwas wie ein Gesicht, nicht mehr ganz menschlich, aber auch nicht ganz fremd, und eine Hand streckte sich nach ihm aus und berührte seine Schulter.

Ihr Griff war wie Feuer, das seinen Körper mit etwas tausendmal Schlimmerem wie Schmerz erfüllte, so daß er aufbrüllte und sich zurückwarf und sofort...

... erwachte. Sein Herz jagte wie ein zuckender roter Gummiball in seiner Brust. Mark wußte sofort und mit unerbittlicher Sicherheit, daß er geträumt hatte, aber seltsamerweise half ihm dieses Wissen kein bißchen, die Furcht zu überwinden, die ihn noch immer erfüllte. Sie war und blieb noch in ihm wie ein pulsierender Embryo, den eine Schlupfwespe aus dem Land der Nachtmahre in ihm abgelegt hatte.

»Fühlen Sie sich nicht wohl?«

Marks Blick klärte sich nur langsam. Er konnte sehen, aber es fiel ihm schwer, den Bildern die richtige Bedeutung zuzuordnen. Vor ihm war noch immer ein Gesicht, und auf seiner Schulter lag noch immer eine Hand, die ihn wohl auch wachgerüttelt hatte, aber sie gehörten nicht mehr zu dem Todesengel, sondern einer vielleicht fünfzigjährigen dunkelhaarigen Frau, die besorgt auf ihn herabblickte und ihre Frage wiederholte, vielleicht nicht zum ersten Mal.

»Fühlen Sie sich nicht wohl?«

Mark schüttelte benommen den Kopf. »Es ist nichts«, murmelte er. »Ich hatte einen Alptraum... glaube ich.«

»Sie haben geschrien.« Die Frau nickte. Dann machte sich plötzlich Verlegenheit auf ihrem Gesicht breit, und sie richtete sich hastig auf und nahm endlich die Hand von seiner Schulter. Mark atmete erleichtert auf. Diese Berührung war leicht wie die einer Feder gewesen, aber sie erinnerte ihn an die des Todesengels aus seinem Traum, und das allein war beinahe mehr, als er ertragen konnte.

Offenbar sah man ihm seine Erleichterung auch deutlich an, denn die Verlegenheit im Gesicht der Frau nahm noch weiter zu. Mit einer nervösen Bewegung ließ sie sich wieder auf den Sitz auf der anderen Seite des Abteils sinken, von dem sie aufgestanden war, um ihn zu wecken. »Entschuldigen Sie«, sagte sie. »Ich wollte nicht -«

»Das ist schon in Ordnung«, unterbrach sie Mark. Er zwang sich zu einem Lächeln. »Es war ein Alptraum. Völlig verrückt, schlimm. Ich bin Ihnen dankbar, daß Sie mich geweckt haben.«

Das hörte sich ungefähr so überzeugend an, wie sein Lächeln aussehen mußte, aber vermutlich hätte alles, was er jetzt sagen konnte, die Situation nur noch peinlicher gemacht. In diesem Moment jedoch wurde die Abteiltür geöffnet, und ein zugleich übermüdet wie alarmiert aussehender Schaffner mit Ringen unter den Augen und einer schlechtsitzenden Uniform blickte zu ihnen herein. Irgend etwas an ihm war ungewöhnlich, aber Mark konnte nicht sagen, was es war.

»Alles in Ordnung?« fragte er. Obwohl er sehr müde aussah, klang seine Stimme mißtrauisch, und sein Blick war sehr wach. Und jetzt wußte Mark auch, was an ihm nicht stimmte: Seine Hände waren leer. Die abgewetzte, immer zu kleine und meistens mit einem Einmachgummi zusammengehaltene Ledermappe mit Fahrplänen, Formularen, Fahrkartenblocks und Quittungen, die fester Bestandteil jedes Eisenbahnschaffners war, fehlte bei diesem Mann. Er war nicht auf seiner normalen Runde, sondern einzig und allein hergekommen, weil er etwas gehört hatte.

»Es ist schon gut«, sagte Mark hastig. »Ich hatte einen Alptraum. Es tut mir leid.«

Der Schaffner blickte weiter mißtrauisch auf ihn herab. Das war nicht die Antwort, die er erwartet hatte, und wahrscheinlich auch keine, die er wirklich glaubte. Er wandte sich mit einem fragenden Blick an die Frau auf der anderen Seite des Fensters.

»Es ist wirklich alles in Ordnung«, sagte sie. »Er hat schlecht geträumt. So etwas kommt vor.«

»Ja, das kommt es wohl.« Der mißtrauische Glanz in den Augen des Schaffners blieb. Er zögerte ein bißchen zu lange, dann trat er rückwärts wieder aus dem Abteil heraus und machte eine Kopfbewegung nach rechts. »Ich gehe dann wieder. Ich bin im Dienstabteil, zwei Türen weiter - falls Sie noch irgend etwas benötigen.«

»Vielen Dank.« Mark wartete, bis der Mann die Tür zugeschoben hatte und sie wieder allein im Abteil waren, dann wandte er sich mit einem dieses Mal echt wirkenden Lächeln wieder an sein Gegenüber. »Jetzt haben Sie mich zum zweiten Mal gerettet, glaube ich. Wahrscheinlich zerbricht er sich den Rest der Nacht den Kopf über die Frage, ob ich bekifft bin oder Sie belästigen wollte.«

»Sie waren wirklich ziemlich laut«, sagte die Frau. »War es so schlimm?«

»Keine Ahnung«, log Mark. »Ich erinnere mich nicht. Nur, daß es ein Alptraum war.«

»Das sind manchmal die schlimmsten. Man erinnert sich nämlich doch, wissen Sie... Man will es nur nicht wissen.«

Damit kam sie der Wahrheit näher, als sie wahrscheinlich selbst ahnte. Mark fragte sich einen Moment lang, warum er eigentlich gelogen hatte - er erinnerte sich an jede noch so winzige Kleinigkeit dieses verdammten Traumes, aber er wußte die Antwort auch im gleichen Augenblick selbst. Obwohl scheinbar völlig sinnlos, war der Traum viel zu intim gewesen, um darüber zu reden - noch dazu mit einem vollkommen fremden Menschen. Und dazu kam noch etwas: Auch wenn sein Herz aufgehört hatte zu rasen und seine Hände nicht mehr zitterten, war die Angst noch da. Über den Traum zu reden könnte bedeuten, den Embryo zu wecken.

»War sie Ihre Freundin?«

Mark schrak nicht nur aus seinen Gedanken hoch, sondern begriff auch voll plötzlichem Schrecken, daß sie ihn nun tatsächlich zum zweiten Mal gerettet hatte, denn er war nahe daran gewesen, erneut in die furchtbare Vision abzugleiten. Schon die Erinnerungen daran waren wie Fallstricke, zwischen denen bodenlose Abgründe lauerten. »Wer?«

»Azrael«, antwortete die Frau. »Sie haben ein paarmal ihren Namen gerufen.«

Mark kramte in seinem Gedächtnis. Azrael? Im ersten Moment sagte ihm dieser Name - wenn es ein Name war - nichts. Aber dann schien doch etwas Vertrautes an diesem Begriff zu sein. Er grub tiefer in seinem Gedächtnis - und prallte so entsetzt zurück, als hätten seine tastenden Hände eine glühende Herdplatte berührt. Da war etwas... etwas Weißglühendes, Scheußliches, das wie eine Spinne im Zentrum ihres unsichtbaren Netzes hockte und darauf wartete, daß er einen der klebrigen Fäden berührte.

»Nein«, sagte er. »Ich glaube nicht.«

Der Schrecken ließ seine Stimme aggressiv klingen, das spürte er selbst. Dabei war das letzte, was er wollte, unhöflich oder gar grob zu sein. Er hatte seine zufällige Reisebegleiterin ohnehin schon in eine peinlichere Situation gebracht, als ihm lieb war.

»Entschuldigung«, sagte er noch einmal.

»Sie müssen sich nicht ununterbrochen entschuldigen, junger Mann«, antwortete sie. »Es ist nichts Schlimmes daran, Gefühle zu haben.«

Mark schwieg, aber er betrachtete sie jetzt das erste Mal genauer. Die Frau war nicht so alt, wie er im ersten Moment angenommen hatte - allerhöchstens vierzig -, aber ihr Gesicht und vor allem ihre Augen hatten etwas Mütterliches, das sie älter erscheinen ließ, und Mark begann sich zu fragen, ob es vielleicht nicht doch ein Fehler gewesen war, höflich sein zu wollen. Übertriebene Beschützerinstinkte und - wenn auch unbeabsichtigte - Aufdringlichkeit gingen meistens Hand in Hand. Er brauchte jetzt niemanden, der in seinem Seelenleben herumkramte. Aber er hatte mittlerweile auch lange genug geschwiegen, um das Gespräch endgültig zu unterbrechen. Und wieder breitete sich Peinlichkeit zwischen ihnen aus. Als sie diesmal übermächtig zu werden drohte, stand die Frau auf und nahm einen kleinen Handkoffer von der Gepäckablage. »Es wird Zeit«, sagte sie. »Ich muß an der nächsten Station raus.«

Das stimmte nicht. Bis zum nächsten Bahnhof war es noch eine gute halbe Stunde, wie Mark mit einem unauffälligen Blick auf die Uhr feststellte. Sie wollte einfach raus aus diesem Abteil und vor allem aus der Nähe dieses unheimlichen Burschen, der im Schlaf schrie und im übrigen wohl auch alles andere als vertrauenerweckend aussah. Marks letzter Friseurbesuch war ein Jahr her. Er trug einen viel zu großen grünen Parka mit einem Motörhead-Aufnäher auf dem rechten Ärmel, abgewetzte blaue Jeans und feste Schuhe, die bei flüchtigem Hinsehen und mit andersfarbigen Schnürsenkeln durchaus als Rep-Knobelbecher durchgegangen wären. Dieses Outfit symbolisierte keineswegs irgendeine Weltanschauung, sondern trug nur seiner ursprünglichen Planung Rechnung, zu Fuß zum Bahnhof zu gehen. Aber er konnte sich gut vorstellen, welchen Eindruck es zusammen mit seinem übermüdeten Gesicht und seinem seltsamen Benehmen machte.

Um ein Haar hätte er sie gebeten, zu bleiben, denn plötzlich hatte er fast panische Angst davor, allein zu sein. Er könnte wieder einschlafen, und dann würde vielleicht der Traum zurückkommen, und diesmal wäre niemand da, um ihn zu wecken. Mark war sogar ziemlich sicher, daß sie geblieben wäre, hätte er sie darum gebeten. Aber er hatte nicht den Mut dazu, und so blieb er nur wortlos sitzen und verabschiedete sich mit einem ebenso stummen Nicken, als sie das Abteil verließ.

Mark verfluchte sich in Gedanken für seine Feigheit. Vielleicht hatte Prein ja recht, und er war tatsächlich ein Feigling, zumindest aber nicht besonders klug. Er sah auf die Uhr. Fast halb drei. Seit nicht ganz zweieinhalb Stunden war er nun also volljährig, aber er begann sich zu fragen, ob er damit auch tatsächlich schlagartig erwachsen geworden war, und wenn, warum er sich dann eigentlich nicht so benahm. Pünktlich auf die Minute mit Überschreitung der magischen Achtzehn-Jahres-Grenze alle Brücken hinter sich abzubrechen und blindlings davonzustürmen war wohl eher ein Zeichen von kindlichem Trotz, nicht von Reife.

Der Zug bewegte sich schnell und beinahe lautlos durch die Nacht. Sie mußten über flaches Land fahren oder zumindest durch eine sehr dünn besiedelte Gegend, denn er sah draußen kein einziges Licht. Dazu kam, daß es noch immer regnete und schwere Wolken den Himmel bedeckten; der Intercity hätte ebensogut durch einen endlos langen, unbeleuchteten Tunnel fahren können. Und in gewisser Weise tat er das ja auch, nur daß er nicht die geringste Ahnung hatte, was ihn am Ende dieses Tunnels erwarten mochte. Er wußte, woher er kam - aus einem Leben, das er gehaßt hatte, zumindest während der letzten sechs Jahre, und das jeden Tag ein kleines bißchen mehr -, aber er wußte nicht, wohin er ging. Wenn er ehrlich zu sich selbst gewesen wäre, hätte er sich eingestanden, daß er nicht einmal wußte, wohin er gehen wollte.

Er sah wieder auf die Uhr. Seit er es das letzte Mal getan hatte, schien keine meßbare Zeit vergangen zu sein, und vor ihm lagen noch viele Stunden, angefüllt mit endlosen Minuten, von denen jede einzelne sich zu einer kleinen Ewigkeit dehnen würde, ehe der Zug Berlin erreichte. Er hatte Angst, wieder einzuschlafen, und so verließ er das Abteil und ging in den Speisewagen, um einen Kaffee zu trinken. Er mochte eigentlich keinen Kaffee, aber er brauchte jetzt etwas, um wach zu bleiben.

Mark war der einzige Gast des Zugrestaurants. Es war nach zwei, selbst für einen Intercity auf der Nachtroute eine stille Zeit, in der die meisten Fahrgäste schliefen oder dem Morgen entgegendösten. Ein verschlafen aussehender Kellner brachte ihm das bestellte Kännchen Kaffee und bestand darauf, sofort zu kassieren - Parka und Knobelbecher waren offenbar auch nicht dazu angetan, seine Kreditwürdigkeit zu heben.

Während Mark die bitter schmeckende, heiße Flüssigkeit in kleinen Schlucken herunterwürgte und darauf wartete, daß die belebende Wirkung einsetzte, versuchte er sich über die Bedeutung seines seltsamen Traumes klar zu werden. Wahrscheinlich war es wirklich nicht mehr als ein Traum gewesen, ohne irgendeine tiefere Bedeutung. Alpträume kamen eben manchmal. Und trotzdem... Etwas an diesen Bildern war so ... realistisch gewesen. Hinter dem Wahnsinn hatte eine Wahrheit gelauert, die hinauswollte und die sich vielleicht nur hinter apokalyptischen Visionen tarnte, weil ihr wirkliches Antlitz noch viel schrecklicher war.

Er trank einen weiteren Schluck Kaffee, verzog angewidert das Gesicht und schenkte sich gleichzeitig nach. Die belebende Wirkung, auf die er so hoffte, ließ noch immer auf sich warten, dafür schmeckte das Gebräu jetzt, nachdem es abzukühlen begann, um so scheußlicher. Er fragte sich, warum so viele so versessen auf dieses Zeug waren. Es schmeckte nicht, war ungesund, und die versprochene Wirkung blieb es auch noch schuldig.

Dafür begann ihn das regelmäßige Schaukeln des Zuges und das Geräusch der rollenden Räder schon wieder einzulullen. Um der Müdigkeit entgegenzuwirken, rutschte er absichtlich in eine unbequemere Stellung und richtete sich auf. Sein Blick glitt haltlos durch den langen, schmalen Raum, aber es gab nichts, was interessant genug gewesen wäre, ihn wachzuhalten. Der Kellner, der ihn bedient harte, lehnte mit verschränkten Armen an der Theke, rauchte und warf dann und wann einen gelangweilten Blick in seine Richtung. Mark hatte bisher angenommen, daß er ihn als willkommene Abwechslung in der toten Zeit zwischen zwei und vier betrachtete, aber augenscheinlich war es genau umgekehrt: Er hatte diese Stunden wohl als zusätzliche Pause fest einkalkuliert und ärgerte sich jetzt, wegen eines Gastes und eines Trinkgeldes von deutlich unter einer Mark wach bleiben zu müssen.

Marks Blick wanderte weiter über das knappe Dutzend Tische, die den schmalen Gang flankierten. Ihre Gleichförmigkeit hatte etwas Bedrückendes. Er wünschte sich, es wäre eine Stunde später oder er säße wenigstens nicht so allein im Zugrestaurant. Um sich die Zeit zu vertreiben, versuchte er die Plätze an den Tischen ringsum in Gedanken mit Menschen anzufüllen, aber er gab diesen Versuch fast sofort wieder auf: Die Phantome, die er erschuf, hatten eine unangenehme Tendenz, tote Gesichter mit leeren Augenhöhlen zu haben.

Er sah nach rechts, aber auch die vorübergleitende nächtliche Landschaft bot keine Abwechslung. In einiger Entfernung schwebte eine Autobahn vorbei, in unregelmäßigen Abständen gesprenkelt mit weißen und roten Lichterpaaren, die vollkommen stillzustehen schienen. Er war schrecklich müde, und es war, als hätte sich nun die ganze Welt verschworen, um ihm zu beweisen, daß er sich wirklich am tiefsten Punkt der Nacht befand - einer Stunde, die dem Schlaf gehörte und den Träumen mit ihren Bewohnern.

Irgend etwas bewegte sich draußen vor dem Fenster. Wahrscheinlich war es nur ein Lichtreflex auf einem Blatt oder eine Stromleitung, an der der Zug vorüberraste, aber er hielt trotzdem aufmerksam danach Ausschau, konnte er auf diese Weise doch der Nacht einige weitere Augenblicke abtrotzen. Und er wurde belohnt. Nach einem Moment sah er es wieder, und diesmal sah es nicht aus wie ein Lichtreflex, sondern seidig und wehend, wie ein weißes Kleid, das sich im Wind bewegte und dabei nicht nur mit dem rasenden Tempo des Zuges mithielt, der mit annähernd zweihundert Stundenkilometern durch die Nacht schoß, sondern im Gegenteil allmählich näher zu kommen begann. Hinter ihm und rechts und links von ihm glommen plötzlich zahllose winzige Funken in der Dunkelheit auf. Hunderte von ruhig brennenden gelben Kerzen, die ovale Höfe von mildem Licht um sich verbreiteten.

Es war ein Kleid. Die Kerzen waren real und die Schatten davor die eines Dutzends im Kreis sitzender Gestalten, die sich an den Händen ergriffen hatten und im Takt einer unhörbaren Musik wiegten. Mark prallte entsetzt zurück und stieß gegen seine Tasse. Sie fiel um und tränkte die Tischdecke mit dem Rest Kaffee, der noch darin gewesen war, aber das registrierte er ebensowenig wie das Stirnrunzeln des verärgerten Kellners. Sein Blick irrte immer unsteter über die leeren Tische auf der anderen Seite des Ganges. Er war noch immer der einzige Gast. Außer ihm und dem Ober war niemand hier, und trotzdem sah er jetzt ganz deutlich das Spiegelbild von fünf, sechs, sieben Personen in der schwarzen Scheibe. Ein Spiegelbild ohne Original, das nicht sein konnte und trotzdem immer realer wurde, bis die Wirklichkeit verblaßte und der Traum ihre Stelle einnahm. Die Fensterscheibe war jetzt kein Spiegel mehr, sondern ein Tor in eine andere, verbotene Welt, deren Abgesandte sich auf dem Weg zu ihm befanden.

»Na, was ist denn da los? Haben wir Probleme?«

Wenn dies ein Traum war, wie konnte er dann die Stimme des Kellners hören? Aber er konnte nicht darauf reagieren. Gelähmt vor Schrecken, starrte er die Gestalt in dem weißen Kleid an, die Gestalt ohne Gesicht, die den Kreis betreten hatte und langsam näher kam. Ihre Füße berührten den Boden nicht, aber ihre Hände waren nach ihm ausgestreckt. Es waren schlanke, sehr schmale Hände. Die Hände eines Mädchens oder einer jungen Frau, die so zerbrechlich wie Puppenglieder wirkten und von denen er trotzdem wußte, welch enorme Kraft sie hatten. Eine tödliche, mörderische Kraft, die nur auf ein einziges Ziel gerichtet war.

»He, Freundchen - was ist los mit dir?«

Er hörte, wie der Kellner näher kam. Seine Stimme klang jetzt ziemlich verärgert, und Mark flehte, daß er es auch wirklich war, daß er sich beeilte und ihn erreichte, ehe sie es tat, ehe diese schrecklichen Hände ihn berühren konnten. Die Gestalt ohne Gesicht war jetzt ganz nah, nur noch durch das Glas der Fensterscheibe von ihm getrennt, ihre Hände näherten sich ihm, berührten das Glas und glitten hindurch, ohne daß es einen sichtbaren Widerstand gab, tauchten hinein wie in transparentes Quecksilber, kleine, runde, sich kreuzende Wellenkreise erzeugend, doch was auf seiner Seite wieder aus dem Glas auftauchte, das waren keine weißen Porzellanfinger mehr, sondern schuppige Teufelsklauen. Grobe Pranken mit einer Haut aus grünem Stahl und Krallen, die wie gezackte Rasierklingen blitzten und sich gierig nach seiner Kehle ausstreckten ...

Eine schwere Hand legte sich auf seine Schulter, und die Berührung ließ die Illusion zerplatzen. Und das im wortwörtlichen Sinne: Das Bild auf dem Glas vor ihm zerbrach in Tausende von Splittern, die lautlos in alle Richtungen davonflogen. Die tödlichen Krallen zerbarsten und lösten sich auf. Das Fenster war wieder ein Fenster, hinter dem die nächtliche Landschaft vorüberrollte.

Mark sah hoch und blickte in ein breitflächiges, müdes Gesicht, dessen Augen vor kaum noch verhohlener Wut funkelten. Aber nur für einen Sekundenbruchteil. Was immer der Kellner in seinem Gesicht sah, es ließ aus dem Ärger in seinem Blick Erschrecken und gleich darauf Bestürzung werden. Hastig nahm er die Hand von Marks Schulter.

»Ist alles in Ordnung?« fragte er.

Mark hätte ihn vor Erleichterung umarmen können. Sein Herz hämmerte, er zitterte am ganzen Leib und spürte erst jetzt, daß ihm lauwarmer Kaffee auf den Schoß tropfte, und trotzdem fühlte er sich so erleichtert wie niemals zuvor. Es war nur ein Traum gewesen, aber Mark war nicht sicher, ob es auch so geblieben wäre, hätten diese furchtbaren Hände ihn berührt.

»Schon gut«, sagte er. »Ich war... ein bißchen ungeschickt. Tut mir leid wegen der Decke.« Irgend etwas kratzte an der Scheibe hinter ihm, wahrscheinlich nur ein Regentropfen, aber vielleicht auch stahlharte Fingernägel, die über das Glas scharrten. Mark wagte es nicht, hinter sich zu blicken, aber er sah aufmerksam ins Gesicht des Kellners und suchte nach einer Spur von Erschrecken, einem Stirnrunzeln, irgendeinem Hinweis darauf, daß auch er da draußen irgend etwas Ungewöhnliches entdeckt hatte. Nichts...

»Fühlen Sie sich nicht wohl? Sie sehen krank aus.«

Von Freundchen waren sie nun wieder beim höflichen Sie angelangt - immerhin eine gewisse Verbesserung, dachte Mark. Er schüttelte ein wenig zu heftig den Kopf, um überzeugend zu wirken, und zuckte praktisch in der gleichen Bewegung mit den Schultern. »Nicht besonders«, gestand er. »Ich bin ein bißchen übermüdet, schätze ich.«

»Dann sollten Sie ein paar Stunden schlafen«, sagte der Kellner. Er begann mit seinem Handtuch die Kaffeepfütze wegzutupfen, die sich auf der Tischdecke vor Mark gebildet hatte, und stellte gleichzeitig die Tasse wieder auf. »Fahren Sie durch bis zum Ende?«

»Bis Berlin, ja.«

»Suchen Sie sich ein freies Abteil und legen Sie sich lang«, fuhr der Kellner fort. »Sind genug da. Der Zug ist fast leer. Und wenn Sie verschlafen, dann weckt Sie ja spätestens die Putzkolonne wieder auf.«

Vermutlich war das scherzhaft gemeint, aber Mark war nicht nach Lachen zumute. Er schüttelte den Kopf. »Ich möchte nicht schlafen. Lieber hätte ich noch einen Kaffee, um wach zu bleiben.«

»Dann lieber einen Mokka, würde ich vorschlagen, einen doppelten. Ist noch ein weiter Weg bis Berlin.«

»Das fürchte ich auch«, murmelte Mark. Er hob den Arm und streifte den Ärmel des Parkas zurück, wobei er es sorgsam vermied, auch nur in die ungefähre Richtung des Fensters zu blicken. Es war noch nicht einmal eine halbe Stunde vergangen. Die Uhrzeiger schienen festgeklebt zu sein, und vor ihm lagen noch eine Menge halber Stunden.

»Azrael...« murmelte er.

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