56. Kapitel

Bremer starrte fassungslos auf das Buch. Es war an der Stelle aufgeklappt, an der es jahrelang aufgeschlagen irgendwo hier gelegen haben mußte, ohne daß irgend jemand es bemerkte oder begriff, was er da sah. Bremer begriff es nur zu gut.

Die Zeichnung zeigte den Engel. Seinen Engel. Den schwarzen Giganten, den er gesehen und der ihn gejagt hatte. Es mußte ein Holzstich aus dem Mittelalter sein, oder zumindest eine sehr geschickte Kopie, denn das Bild wirkte auf jene Weise zugleich ungelenk und grob wie auch ungemein dynamisch und lebendig, wie es manchen dieser alten Stiche eigen war. Eine hochgewachsene, dunkle Gestalt mit Klauenhänden und riesigen schwarzen Flügeln, die wie aus Stahl geschmiedet aussahen, eher Klingen als Federn. Sie trug ein bodenlanges Gewand, das nur die nackten Füße sichtbar ließ, und das Gesicht war nicht zu erkennen. In kalligraphischen, geschwungenen Buchstaben stand darunter: AZRAEL.

»Der biblische Würgeengel«, flüsterte er erschüttert.

»Er muß dieses Buch in meiner Bibliothek gefunden haben«, sagte Sillmann leise. Er lachte bitter. Es hörte sich an wie ein erstickter Schrei. »Ist das nicht eine besondere Ironie? Es ist sehr wertvoll, und deshalb habe ich ihm immer verboten, es anzufassen. Aber irgendwann hat er es doch getan und dieses Bild entdeckt.«

»Sie... haben es ihm gesagt?« fragte Bremer ungläubig. »Er wußte, daß Sie mit ihm experimentieren?«

Sillmann schüttelte den Kopf. »Es war ein Spiel«, sagte er. »Für ihn und die anderen war es nichts als ein Spiel. Sie hatten Träume. Wunderschöne Träume. Aber er... er wußte den Namen des Medikaments.«

»Der Droge«, verbesserte ihn Sendig.

Sillmann hörte es nicht einmal. »Er ist mir einmal herausgerutscht. Ich habe mir nichts dabei gedacht. Warum auch? Aber dann... dann hat er dieses Buch gefunden und dieses Bild, und... Verstehen Sie denn nicht? Sie waren Kinder! Sie hatten Träume, das war alles.«

Ja, dachte Bremer. Und dann hat er dieses Bild gesehen und das Wort gelesen, und bei seinem nächsten Traum war er Azrael. Der Todesengel. Er sagte nichts. Nach allem, was bisher geschehen war, hatte er geglaubt, daß ihn nichts mehr erschüttern könnte, aber das war nicht die Wahrheit. Gab es eine schlimmere Strafe als das, was Sillmann zugestoßen war?

»Wir wußten, daß sie sich manchmal heimlich trafen«, fuhr Sillmann leise fort. »Ich war dagegen, aber Löbach hat es zugelassen, und ich habe mich nicht gegen ihn durchsetzen können. In dieser Nacht haben sie sich wieder getroffen, und Mark hat das Buch mitgebracht. Ich habe es hier gefunden. Ebensogut hätte ich ihn selbst erschießen können. Ihn und alle anderen. Mein Gott, was habe ich getan?«

»Was Sie getan haben?« Sendig schnaubte. »Das haben Sie immer noch nicht begriffen, Sie Narr?« Er versetzte dem Buch einen Fußtritt, der es davonschlittern ließ.

»Wissen Sie, wie viele Menschen gestorben sind, nur deswegen? Sie... Sie haben etwas in ihm geweckt, das nicht geweckt werden darf. Und bei alledem hatten Sie noch Glück, daß Ihr Sohn halbwegs normal ist. Was glauben Sie, wäre passiert, wenn das Zeug in die Hände eines echten Psychopathen geraten wäre? Besser gesagt, in seinen Geist!«

Sillmann sah ihn verwirrt an, und Sendig fuhr fort: »Sie wissen es nicht, wie?«

»Was?«

»Es betrifft nicht nur ihn oder Sie und uns und Löbach«, antwortete Sendig erregt. Er deutete heftig gestikulierend auf Mark hinab. »Er hat angefangen, sich zu rächen. Er hat in den letzten vierundzwanzig Stunden alle getötet, die irgendwie mit der Sache von damals zu tun hatten. Einfach, weil er es wollte.«

»Aber das... das ist unmöglich«, sagte Sillmann verwirrt. »Das ist vollkommen ausgeschlossen! Er... er hat nur Einfluß auf Menschen, die ebenfalls AZRAEL genommen haben.«

»Ach?« fragte Sendig hämisch. »Wie auf Löbach, meinen Sie?«

»Ja.«

»Sie irren sich«, sagte Sendig. »Sie sind alle tot. Mogrod - der Fotograf, der damals überall herumgeschnüffelt hat -, der Pathologe, der die Leichen untersucht hat, ein paar unserer Kollegen, Artner... und wahrscheinlich noch viele mehr.«

»Ich spüre es auch«, sagte Bremer leise. Er deutete auf das Buch, das zwar weiter entfernt, aber noch immer auf die gleiche Weise aufgeschlagen da lag. »Ich habe ihn gesehen.«

Sillmann erbleichte. Seine Lippen begannen zu zittern. »Mein Gott«, sagte er. »Das... das kann nicht sein. Petri hatte recht.«

»Womit?« fragte Bremer.

»Aber das ist unmöglich«, flüsterte Sillmann. »Das darf nicht sein!«

»Was?« fragte Bremer noch einmal. Er mußte sich plötzlich mit aller Kraft beherrschen, um Sillmann nicht am Kragen zu packen und zu schütteln. »Wovon reden Sie?«

»Petri«, antwortete Sillmann mit bebender Stimme. »Er... er hat uns gewarnt. Er hat gesagt, es konnte sich... ausbreiten.«

»Ausbreiten?« wiederholte Bremer. »Wie meinen Sie das?«

»Es... es ist im Blut«, stammelte Sillmann. »Verstehen Sie doch! Großer Gott, er hatte recht. Es... es wirkt wie eine Infektion. Es ist im Blut, und es... es breitet sich aus.«

»Moment mal!« sagte Sendig. Er schluckte hörbar und tauschte einen entsetzten Blick mit Bremer. »Sie meinen, wie... wie Aids?«

»Schlimmer«, antwortete Sillmann. »Aber das kann nicht sein. Es ist unmöglich, verstehen Sie! Es ist eine Droge, keine Krankheit. Es kann nicht so wirken!«

Aber das war die Antwort, dachte Bremer erschüttert. Die Erklärung - die einzige Erklärung, die Sinn machte. Sie alle waren irgendwie mit Marks Blut in Berührung gekommen, oder dem eines anderen AZRAEL-Jüngers. Mogrod, der damals hier herumgeschnüffelt und alles angefaßt und fotografiert hatte. Der Pathologe, der die Leichen untersuchte. Löbach sowieso. Artner, der mit Claudia Löbach geschlafen hatte, wie die Videos bewiesen, die sie in seinem Schrank gefunden hatten.

Und es bedeutete noch etwas.

Langsam hob er den Kopf und sah zu Sendig hoch. »Sie dämlicher Idiot«, sagte er ganz ruhig. »Sie waren niemals in Gefahr, verstehen Sie?«

»Was?« fragte Sendig.

»Es ist sein Blut gewesen«, sagte Bremer. »Das und das der anderen. Hansen hat praktisch darin gebadet, als Löbach uns vor die Füße gesprungen ist, und ich habe wohl auch etwas abbekommen, ohne es zu merken. Deshalb ist es bei mir nicht so schnell gegangen. Und deshalb haben Sie nichts gemerkt.«

Er stand auf. Sendig wich instinktiv einen halben Schritt vor ihm zurück und richtete die Waffe auf ihn, aber das ignorierte Bremer. »Deshalb wollten Sie doch, daß ich in Ihrer Nähe bleibe, nicht wahr?« fragte er. »Nicht, weil Sie mich brauchten. Weil Sie mich beobachten wollten.«

Sendig starrte ihn an. Er verlor jetzt immer schneller die Fassung, und in immer größerem Ausmaß. Zitternd drehte er sich im Kreis, starrte auf die Toten am Boden herab und schließlich auf die Waffe in seiner Hand. Er wimmerte leise. »Mark«, stammelte er. »Was... was habe ich... er ist...«

»Es war alles umsonst«, sagte Bremer. »Sie waren nie in Gefahr.« Er versuchte Sendig zu hassen, aber er konnte es nicht. Nicht einmal das. Alles, was er für Sendig jetzt noch empfand, war bloße Verachtung. Langsam drehte er sich wieder zu Sillmann herum. »Bin ich in Gefahr?« fragte er.

»Nein«, antwortete Sillmann leise. »Ich glaube nicht. Es ändert nicht den Charakter. Er ist kein Mörder. Er war nur ein Kind, das nicht wußte, was es tat.«

»Aber ich habe es auch, nicht wahr?« fragte Bremer.

Sillmann antwortete nicht, aber das brauchte er auch nicht. Ob das, was er ihnen gerade über AZRAEL erzählt hatte, die Wahrheit war? - Und verdammt noch mal, es war die Wahrheit, das spürte Bremer, denn das war es, was er die ganze Zeit über in seinem Innern gefühlt hatte: nicht die Gespenster, die Mark ihm schickte, sondern die Gespenster seiner eigenen Seele, die Ungeheuer, die in ihm lauerten und die die Droge nun allmählich entfesselte. Und mit ebensolcher Gewißheit spürte er, daß es längst nicht damit aufhören würde. Sillmann und Löbach waren möglicherweise die Erfinder der Droge, aber sie hatten selbst nicht geahnt, was sie da schufen. Er hatte es gesehen. Das Ding in der Gasse war Realität gewesen, keine Halluzination. Ebensowenig wie das Mädchen. Seine Macht beschränkte sich längst nicht mehr darauf, Bilder zu erschaffen. Sillmann hatte die Wahrheit ausgesprochen, ohne es zu wissen. Er hatte etwas wie einen neuen Messias erschaffen, einen sterblichen, verwundbaren Gott, aus Fleisch und Blut vielleicht, und doch ein Wesen mit der Macht der Schöpfung. Er hatte den Menschen wiedererschaffen, den er auf der ganzen Welt am meisten geliebt hatte. Was, dachte Bremer schaudernd, wenn diese ungeheure Macht tatsächlich in die Hände eines Wahnsinnigen geriet, wie Sendig es gerade gesagt hatte?

Was, wenn er dieser Wahnsinnige war? Die Veränderung hatte schon eingesetzt. Nicht lange, vielleicht nur mehr wenige Jahre, vielleicht sehr viel kürzer, und er würde über die gleiche Macht zum Schöpfen und Zerstören verfügen wie dieser sterbende Junge da?

Aber er wollte kein Gott sein.

Mark bewegte sich. Irgend etwas geschah mit ihm, etwas Unvorstellbares, das viel stärker zu fühlen als zu sehen war. Er schrie auf, schleuderte seinen Vater mit einer einzigen, zornigen Bewegung seiner Arme von sich und rollte über den Boden. Seine Glieder zuckten. Blutiger Schaum erschien vor seinem Mund, seine Augen verdrehten sich und wurden plötzlich schwarz.

Bremer prallte entsetzt zurück. Mark schrie immer lauter. Seine Glieder zuckten wie unter gewaltigen Stromstößen, und sein Kreischen hatte nichts Menschliches mehr. Sein Körper schien zu kochen. Große, pulsierende Blasen bildeten sich auf seiner Haut und vergingen wieder, seine Arme und Beine verbogen sich auf unmögliche Weise, und sein ganzer Körper wirkte mit einem Male deformiert, als begänne er den Halt zu verlieren.

Es war das Entsetzlichste, was Bremer jemals gesehen hatte. Und die Veränderung hielt an. Mark hörte auf zu schreien, aber sein Körper... verwandelte sich.

Bremer wich einen weiteren Schritt zurück. Irgend etwas klirrte, und als er den Blick senkte, sah er die Splitter der zerbrochenen Spritze unter seinem Schuh. Das Bild führte zu einer blitzartigen Assoziation. Er sah die Nadel in Marks Arm - aber mit einem Male war es nicht mehr sein Vater, der sie hielt, sondern Sendig, und in der Vision war Mark auch nicht mehr in diesem Keller, sondern oben im Krankenwagen. Dann sah er ein weiteres Bild: Sendig, gestern nacht, der etwas aus Löbachs Kühlschrank nahm und in der Tasche verschwinden ließ.

Und dann wußte er es.

Entsetzt drehte er sich zu Sendig herum. »Was haben Sie getan?« fragte er. Seine Stimme brach fast. »Was... was haben Sie ihm gegeben?«

Sendig starrte nur abwechselnd ihn und das zuckende, zerfließende Etwas auf dem Boden an, aber Bremer hätte ihm gar keine Zeit gelassen, zu antworten. Blitzartig packte er ihn an den Aufschlägen seines Mantels und schüttelte ihn wild. Sendigs Pistolenlauf bohrte sich unter sein Kinn, aber das ignorierte er. In diesem Moment hätte er sich fast gewünscht, daß er abdrückte.

»Sie haben ihm die Droge gespritzt!« schrie er. »SIE WAHNSINNIGER HABEN IHM AZRAEL GESPRITZT!«

Sendig stieß ihn mit erstaunlicher Kraft von sich. Bremer fiel, schlitterte ein Stück über den Boden und sprang sofort wieder hoch. Er erstarrte, als sein Blick auf Mark fiel. Auf das, was einmal Mark gewesen war.

Er war kein Mensch mehr. Sein Körper war zu einem schwarzen, zuckenden Etwas geworden. Vielleicht lag es an der Überdosis, die Sendig ihm gegeben hatte, vielleicht an der Kombination der beiden Mittel, die in seinen Adern pulsierten, vielleicht erlebten sie auch nur das Endstadium der unheimlichen Veränderung, die sein Vater und Löbach vor so vielen Jahren eingeleitet hatten - Mark verwandelte sich. Das schwarze, brodelnde Etwas zuckte, zog sich zusammen - und dann erschienen die Spitzen zweier gewaltiger, aus gehämmertem Stahl bestehender Flügel darüber, gefolgt von einem massigen Schädel und ungeheuer breiten Schultern. Langsam, wie ein schwarzer Dämon, der aus einem Teersee emportaucht, stieg das Ungeheuer weiter, wuchs und gewann an Form und Festigkeit.

, Es war das Monstrum aus seiner Vision, Azrael, der Racheengel, der gekommen war, um biblische Gerechtigkeit zu üben.

Sendig schrie - ein einziges Mal, hoch, spitz und hysterisch - und verstummte dann wieder. Sillmann sagte nichts. Er gab keinen Laut von sich, sondern stand einfach da und blickte den schwarzen Engel an, und plötzlich ging auch mit ihm eine Veränderung vor sich, die Bremer vielleicht nicht so spektakulär, aber fast ebenso dramatisch erschien. Er konnte sehen, wie alle Angst, alle Verzweiflung und alle Schuld von ihm abfielen. Eine Sekunde bevor Azrael ihn erreicht hatte, begann er zu lächeln, und zum allerersten Mal, seit Bremer ihn kannte, sah er glücklich aus.

Dann erreichte ihn der schwarze Gigant, ergriff ihn auf eine fast behutsame Art mit beiden Händen und riß ihn in zwei Stücke.

Sendig schrie auf, krümmte sich auf der Stelle und übergab sich, während Bremer wie von einem Hammerschlag getroffen zurücktaumelte und gegen die Wand fiel. Alles drehte sich um ihn. Er hörte einen furchtbaren doppelten Aufprall, Sendigs würgende Geräusche, die sich mit seinen Schreien mischten, und dann eine andere Stimme, die gellend aufschrie.

Als er die Augen öffnete, stand Azrael hoch aufgerichtet zwischen ihm und Sendig. Seine Hände waren rot von Sillmanns Blut, und er hatte die Schwingen gespreizt, so daß die rasiermesserscharfen Klingen an ihren Enden beinahe die Wände berührten. Er war ungeheuer groß. Der Blick der schwarzen Augen richtete sich auf ihn, und Bremer hatte das Gefühl, innerlich zu verbrennen. Bremer krümmte sich, als er die unvorstellbare Macht spürte, die dieses Wesen ausstrahlte, eine Macht, der keine Grenzen gesetzt waren, zu erschaffen, aber auch zu verheeren.

Aber er spürte auch, daß er nicht in Gefahr war. Das Geschöpf war nicht gekommen, um ihn zu vernichten. Es war gekommen, um Rache zu üben, und es hatte seine Aufgabe erfüllt.

Wieder hörte er einen Schrei. Bremer fuhr herum und sah zwei Männer in dunklen Anzügen unter der Tür stehen, die die schwarze Gestalt fassungslos anstarrten. Beide waren mit unterschiedlich großen Maschinenpistolen bewaffnet, die sie auf die riesige Engelsgestalt gerichtet hatten. Dann erkannte Bremer einen von ihnen wieder - es war der Bursche, den Sendig und er überwältigt hatten.

»Nein!« schrie Sendig. »Nicht! Tut es nicht!«

Es war zu spät. Sein eigener Schrei hatte den Bann gebrochen, unter dem die Männer standen. Die Waffen hoben sich, aber noch bevor sie abdrückten, riß Sendig seine eigene Pistole in die Höhe und schoß dem einen in die Brust. Der Mann stürzte nach hinten und war auf der Stelle tot, aber der andere schwenkte seine Waffe herum und riß den Abzug durch. Die Salve traf Sendig aus unmittelbarer Nähe und zerschnitt ihn fast in zwei Hälften, aber der Mann hörte nicht auf zu schießen. Ohne den Finger vom Abzug zu nehmen, schwenkte er die MPi herum und feuerte auf den schwarzen Engel.

Der Raum schien unter dem Lärm der MPi-Salve zu explodieren. Querschläger heulten davon und schlugen Funken aus den Wänden, aber die meisten Geschosse trafen ihr Ziel. Der schwarze Gigant taumelte.

Aber er fiel nicht.

Der Agent jagte Schuß auf Schuß in die riesige geflügelte Gestalt, aber der Gigant bewegte sich trotzdem weiter. Langsam, aber auch unaufhaltsam, trat er auf den Mann zu. Seine Arme hoben sich, furchtbare Krallen streckten sich nach dem Mann mit der MPi aus. Seine Schwingen schlugen, so daß Bremer sich ducken mußte, um nicht getroffen und wahrscheinlich ebenfalls getötet zu werden.

Der Hammer der MPi schlug plötzlich klickend ins Leere. Das Magazin war verschossen. Der Agent schrie vor Angst und Zorn, tauchte unter den Klauen des Riesen hinweg und versuchte die Waffe seines toten Kollegen zu erreichen. Es gelang ihm, aber gleichzeitig traf ihn auch ein furchtbarer Hieb. Die kleine UZI in beiden Händen haltend, rollte er quer durch den Keller, prallte gegen die jenseitige Wand und blieb einen Moment benommen liegen.

Als er sich aufrichtete, war der Todesengel über ihm. Seine Hände schlössen sich um seine Kehle, und dann falteten sich die gewaltigen Schwingen wie ein riesiger schwarzer Vorhang um sein Opfer zusammen. Bremer hörte ein furchtbares, knirschendes Geräusch, wie von Knochen, die zermalmt wurden.

Aber es war nicht vorbei. Plötzlich hörte er das Hämmern der MPi wieder, leiser und gedämpfter diesmal, aber auch viel näher. Der Engel bäumte sich auf. Seine Flügel schlugen, während er zurücktaumelte und gegen die Wand fiel. Und der Agent feuerte noch immer, jagte Dutzende von Geschossen aus allernächster Nähe in seinen Körper, und diesmal zeigten sie Wirkung. Es war so, wie Bremer vermutet hatte: Er war eine Art Gott, aber er war sterblich.

Der Mann schoß seine Waffe komplett leer, sprang zurück und nestelte mit zitternden Fingern ein neues Magazin aus der Jackentasche, das er hastig gegen das verbrauchte austauschte, ehe er die MPi wieder auf seinen Gegner richtete.

Er mußte nicht mehr schießen.

Der Engel starb. Seine Schwingen falteten sich ein letztes Mal auseinander und sanken dann kraftlos herab. Er brach in die Knie. Einen Moment lang blieb er fast reglos so sitzen, dann sank er ganz langsam zur Seite, und während er fiel, verwandelte er sich wieder und wurde wieder zu dem Menschen, als der er geboren worden war. Was auf dem Kellerboden aufschlug, das war kein Todesengel mehr, sondern es waren die zerrissenen Überreste eines Menschen, der wahrscheinlich niemals mehr in seine ursprüngliche Gestalt zurückkehren wollte.

Bremer starrte das entsetzliche Bild an. Er versuchte vergeblich, irgend etwas anderes als Furcht zu empfinden. Aber es war keine Furcht vor dem Anblick absoluten Terrors, der sich ihm bot. Er hatte keine Angst mehr vor dem Tod, vor Blut oder Schmerzen oder dem Sterben. Er trauerte nicht einmal um Mark. Er sah nur den Mann aus der Gasse an.

Der Agent stand schwer atmend über den Toten gebeugt da. Er zitterte am ganzen Leib, und er bot einen kaum weniger furchteinflößenden Anblick als Marks zerschossener Leichnam. Sein Körper war über und über mit Blut besudelt, von dem wahrscheinlich das Wenigste von ihm selbst stammte. Und plötzlich bekam Bremers Furcht eine neue, noch viel größere Dimension. Es war nicht vorbei. Vielleicht begann es erst.

Er griff in die Tasche. Sie war leer. Er war unbewaffnet gekommen. Sein Blick irrte suchend durch den Raum und blieb schließlich an Sendigs Leiche hängen und der Pistole, die sie noch immer in der Hand hielt.

Als hätte er seine Gedanken gelesen, drehte sich der Agent in diesem Moment herum und sah ihn an. Sein Gesicht war eine dunkelrote, glitzernde Maske, in der die Augen wie zwei leuchtende Wunden aussahen.

»Versuch es nicht«, sagte er. »Mit dir habe ich nichts zu tun.«

»Ich weiß«, sagte Bremer. Eine plötzliche kalte Ruhe hatte ihn ergriffen, und alle Gefühle fielen von ihm ab. Er hatte keine Chance, aber er mußte es wenigstens versuchen.

Bremer sprang mit weit vorgestreckten Armen los, prallte zwei Meter von Sendig entfernt auf den Boden und schlitterte das letzte Stück über den rauhen Stein. Seine Hände schlössen sich um die Pistole.

Das letzte, was er in seinem Leben hörte, war das Rattern der MPi-Salve, mit der Haymar ihn erschoß, aber während er starb, empfand er nichts als eine tiefe, unendlich tiefe Erleichterung, daß er es wenigstens als Mensch hatte tun können.

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