43. Kapitel

»Fuck it!« brummte Haymar kopfschüttelnd. »Der Kerl muß seinen Führerschein im Lotto gewonnen haben!« Er ließ das Nachtglas sinken, schüttelte ein paarmal heftig den Kopf und setzte das klobige Instrument dann wieder an. Der elektronische Restlichtverstärker färbte das Bild darin grün und übersteigerte die Konturen ebenso wie die Unterschiede zwischen Licht und Dunkelheit. Der Krankenwagen hob sich in Neongrün vor einem smaragdfarbenen Hintergrund ab, aber jedesmal, wenn das rotierende Blaulicht ins Bild geriet, schien sich eine dünne, glühende Nadel in seine Augen zu bohren. Das Gerät war nicht richtig eingestellt. Aber wenn er die Empfindlichkeit dämpfte, lief er Gefahr, den Wagen aus den Augen zu verlieren. Sie hatten Befehl, den größtmöglichen Sicherheitsabstand zu halten. Er hatte wenige Sätze mit Berger gewechselt, aber die Worte seines Vorgesetzten hatten an Deutlichkeit nichts zu wünschen übriggelassen. Konkret waren sie sogar sehr viel deutlicher gewesen, als Haymar sich gewünscht hätte. Einen zweiten Fehler wie den vorhin würde Berger ihm nicht durchgehen lassen. Wenn er den Wagen verlor oder die Polizisten bemerkten, daß sie verfolgt wurden, würde seine Arbeit in Zukunft darin bestehen, Papier in Reißwölfe zu stopfen.

»Was tun sie da?« fragte Brauss, der neben ihm hinter dem Steuer saß und vergeblich versuchte, den Krankenwagen mit bloßem Auge zu erkennen. Sie waren einen guten Kilometer an der Abzweigung vorbeigefahren, ehe Haymar ihm bedeutet hatte, zu wenden und anzuhalten. Selbst das Blaulicht war nur als gelegentliches Funkeln zwischen den Bäumen zu erkennen, die die Zufahrt zu Sillmanns Fabrik säumten. Haymar überlegte einen Moment, ob er überhaupt antworten sollte. Brauss war ebenso neu wie der Wagen, in dem sie saßen; und so wie er gehörte er eindeutig zur zweiten Garnitur, zu den Leuten, die völlig zu Recht Papier in Reißwölfe stopften. Haymar wäre sehr viel wohler gewesen, wenn er einen wirklich guten Mann neben sich gewußt hätte. Leider war im Moment keiner greifbar - was von der ersten Garnitur in dieser Stadt noch übrig war, das waren er und Bergers persönliche Wache. Der Rest lag zu Asche verbrannt in einer schäbigen Gasse auf der anderen Seite der Stadt.

Schließlich antwortete er doch. »Ich habe keine Ahnung. Wahrscheinlich sprechen sie sich gegenseitig Mut zu... Verdammt, fahrt endlich weiter!« Den letzten Satz hatte er geflüstert, aber er kam von Herzen. Sie und die beiden anderen Einheiten, die im Abstand von fünfhundert Metern vor und hinter ihnen angehalten hatten, taten ihr Bestes, um den Wagen abzuschirmen, aber sehr lange würde die Geschichte nicht mehr gutgehen. Haymar wunderte sich sowieso immer mehr, daß die beiden in dem Wagen dort drüben bisher noch nichts gemerkt hatten. Die größte Schwierigkeit während dieser Fahrt quer durch die Stadt war nicht gewesen, von Sendig und Bremer unbemerkt zu bleiben. Sie hatte darin bestanden, dafür zu sorgen, daß ihnen nicht auffiel, daß niemand versuchte, sie anzuhalten. Es gab etliche tausend Polizeibeamte in dieser Stadt. Sie konnten sie nicht alle im Auge behalten. Früher oder später würde garantiert irgendein übereifriger Streifenpolizist auftauchen und den gestohlenen Krankenwagen erkennen, nach dem die ganze Stadt suchte.

Er beobachtete, wie die Fahrertür des Krankenwagens aufgestoßen wurde, eine Gestalt ins Freie sprang und verschwand. Ein Teil des Bildes glühte in hellem Grün auf, als die Türen geöffnet wurden und Licht aus dem Inneren des Krankenwagens ins Freie fiel. Haymar fluchte, ließ hastig das Glas sinken und fuhr sich mit den Handknöcheln über die Augen.

»Warum schnappen wir uns die beiden nicht einfach?« fragte Brauss. »Es sind doch nur zwei dämliche Bullen.«

Haymar schluckte die zynische Antwort herunter, die ihm auf der Zunge lag. Brauss konnte schließlich nichts dafür, daß er ein Idiot war. »Tun Sie sich keinen Zwang an«, sagte er. »Aber sagen Sie mir rechtzeitig Bescheid, damit ich nicht in der Nähe bin, wenn Sie Berger davon erzählen. Wir sollen sie beobachten, mehr nicht.«

Vor seinen Augen tanzten keine Lichtpunkte mehr. Vorsichtig setzte er das Glas wieder an und sah hindurch, nachdem er die Empfindlichkeit der Elektronik ein wenig gesenkt hatte. Er konnte den Krankenwagen jetzt nur noch als Schemen erkennen, aber die Straße, auf der er stand, führte nur in eine Richtung, und er wußte, was an ihrem Ende lag, so daß kaum noch die Gefahr bestand, den Wagen zu verlieren. Das Licht, das aus den offenstehenden Hecktüren des Wagens fiel, war noch immer unangenehm hell, aber es tat jetzt wenigstens nicht mehr weh.

»Außerdem sollten Sie diese dämlichen Bullen nicht unterschätzen«, fuhr er leise fort. »Sie sind nicht ganz so -«

Brauss drehte den Kopf und sah ihn stirnrunzelnd an, als er mitten im Satz stockte. »Ja?«

Haymar blickte konzentriert durch sein Glas. Für einen Moment hatte er geglaubt, etwas zu sehen, irgend etwas... sehr Sonderbares und Großes, das sich hinter dem Krankenwagen bewegte. Aber er mußte sich wohl getäuscht haben. Mit zusammengebissenen Zähnen stellte er den Empfindlichkeitsregler wieder auf die höchste Stufe, obwohl ihm das Licht aus dem Wagen dadurch beinahe die Tränen in die Augen trieb, aber da war nichts Außergewöhnliches.

»Was ist?« fragte Brauss noch einmal.

»Nichts.« Haymar ließ das Glas sinken und blinzelte ein paarmal, um seine Augen wieder an die veränderten Lichtverhältnisse zu gewöhnen. Er war jetzt ganz sicher, nichts gesehen zu haben, und das, was er sich eingebildet hatte, hatte nicht einmal eine klar erkennbare Form gehabt. Es war nur eine Art Schatten. Wieso beunruhigte es ihn dann so?

»Ich habe mich geirrt«, sagte er - so laut und mit solchem Nachdruck, als müsse er nicht nur Brauss, sondern vielmehr sich selbst davon überzeugen. »Und was diese dämlichen Bullen angeht, Brauss - unterschätzen Sie sie nicht.«

Er sah Brauss bei diesen Worten scharf an, aber dessen Reaktion verriet nicht, ob er wußte, was Haymars Kollegen zugestoßen war. Wahrscheinlich nicht. Es gehörte nicht zu Bergers Politik, jeden seiner Mitarbeiter sofort und umfassend über alles zu informieren. Schon gar nicht über Fehlschläge. Oder Katastrophen. Die einzige Bestätigung seiner Worte kam von seinem rechten Bein. Es war nicht gebrochen, wie er im ersten Moment fast befürchtet hatte, aber es tat noch immer weh. Nun, was das anging, würde er sich zu gegebener Zeit mit diesem Bremer noch einmal unterhalten...

»Ich glaube, sie fahren weiter«, sagte Brauss. Er deutete auf das blaue Funkeln, das in regelmäßigen Abständen zwischen den Bäumen aufblitzte, und griff gleichzeitig nach dem Zündschlüssel. Haymar hob rasch die Hand.

»Warten Sie. Noch nicht.« Gleichzeitig setzte er das Fernglas wieder an.

Haymar schrie gellend auf. Etwas raste auf ihn zu, etwas Gigantisches, Schwarzes, mit Schuppen und glänzenden Krallen und einem gewaltigen, gierig aufgerissenen Maul und Augen, in denen das Feuer der Hölle loderte. Es war das Ding, das er hinter dem Krankenwagen gesehen hatte, aber plötzlich war es nicht mehr dahinter, nicht einmal mehr auf der anderen Seite der Straße, sondern unmittelbar vor ihm, als härte es sämtliche Gesetze der Physik außer Kraft gesetzt und wäre in einem Moment dort verschwunden und im nächsten im Inneren des Fernglases wieder aufgetaucht. Mörderische Klauen streckten sich nach Haymar aus. Er spürte einen heißen, übelriechenden Hauch. Zähne wie geschliffene spitze Dolche schnappten nach seinem Gesicht.

Mit einer entsetzten Bewegung riß er das Fernglas herunter.

Brauss hatte sich neben ihm kerzengerade aufgerichtet und instinktiv nach seiner Waffe gegriffen. »Was ist los?« fragte er alarmiert. »Was haben Sie?!«

Haymar atmete mühsam ein und aus. Sein Herz jagte, und seine Finger zitterten plötzlich so stark, daß er Mühe hatte, das Fernglas zu halten. Die Straße vor ihm war leer. Da war kein Ungeheuer. Weder hier noch dort drüben zwischen den Bäumen. »Ich habe mich nur erschrocken. Es war nichts.«

Beinahe gegen seinen Willen sah er auf den Feldstecher in seinen Fingern hinab, dann wieder zu dem winzigen blauen Licht drüben zwischen den Bäumen. Nichts? dachte er hysterisch. Das war alles gewesen, nur nicht nichts.

»Erschrocken?« fragte Brauss ungläubig. »Wovor? Sie -«

»Ich sagte doch, es war nichts«, unterbrach ihn Haymar grob. »Und jetzt fahren Sie endlich los! Aber vorsichtig.«

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