30. Kapitel

Bremer war einfach losgerannt, als er den Schrei hörte. Schon nach wenigen Schritten war ihm selbst aufgefallen, daß das nicht besonders klug war - immerhin stand Sendigs Wagen mit laufendem Motor hinter ihm, und es waren gute fünfzig Meter bis zur Straßenkreuzung, und darüber hinaus war er unbewaffnet oder zumindest doch so gut wie; was nutzte ihm schon eine Pistole, deren Magazin sich in der Tasche ausgerechnet des Mannes befand, den er verfolgte?

Aber das waren Vernunftsgründe, und Vernunft hatte mit dieser Geschichte nichts mehr zu tun. Er hörte Sendig hinter sich seinen Namen brüllen, und nur einen Augenblick später heulte der Motor des Mercedes auf. Trotzdem - er mußte entweder sämtliche Gesetze der Physik außer Kraft gesetzt haben oder gerannt sein wie nie zuvor im Leben, denn er erreichte die Straßenkreuzung vor Sendig. Der Mercedes schleuderte an ihm vorbei, drehte sich auf der Kreuzung einmal komplett um seine Achse und beschleunigte dann wieder, aber er hatte ihn immer noch nicht eingeholt.

Auf den ersten Blick war die Straße leer. Weder von Mark und dem Mädchen noch von einem der beiden Wagen war eine Spur zu entdecken, zumindest nicht im allerersten Moment. Dann sah er, daß dieser Eindruck falsch war. Es gab Spuren - an der rohen Backsteinmauer links von ihm waren frische Kratzer, und darunter lagen Glas- und Kunststoffsplitter wie bunter Regen. Und Blut. Im schwachen Licht der Straße sah es schwarz aus, aber Bremer war zu lange Polizist, um nicht zu wissen, was er sah. Blut. Sehr viel Blut: eine schimmernde Lache inmitten der Glasscherben, und noch mehr in einer unterbrochenen Tropfenspur, die sich den Gehweg entlangzog. Jemand war verletzt worden, sehr schwer verletzt sogar.

Bremer registrierte all diese Details und noch sehr viel mehr, dessen er sich vielleicht erst später wirklich bewußt werden würde, ohne sein Tempo zu verlangsamen oder gar anzuhalten. Der Junge! Wo war der Junge? Es gehörte nicht sehr viel Phantasie dazu, sich auszurechnen, wer hier verletzt worden war, und noch weniger, zu begreifen, warum er weder von Mark noch den beiden Wagen irgend etwas sah. Aber er hatte den Schrei gehört, und dieses entsetzliche, kreischende Geräusch, das viel zu laut gewesen war, um irgendwie mit den paar Kratzern an der Wand zusammenzuhängen. Etwas war geschehen, das viel schlimmer war als eine simple Entführung oder ein Mord, etwas, das nicht nur Sillmann und das Mädchen betraf, sondern auch ihn und vielleicht auch Sendig und noch sehr viele andere. Es war immer noch im Gange.

Bremers Blick eilte seinen Schritten voraus und folgte der schnurgeraden Perlenkette aus Blut. Sie führte zu einer schmalen Straße, noch zwanzig Schritte entfernt, und bog im rechten Winkel hinein. Aber dort, wo man Dunkelheit oder allenfalls den bleichen Schein einer Straßenlaterne erwartete, loderte Feuer: ein grellroter, flackernder Schein, der scharfkantige Splitter aus der Nacht riß, lodernde Wunden, die sich mit allesverschlingender Schwärze füllten und dann wieder aufrissen, immer schneller und schneller, in einem wahnsinnigen, rasenden Rhythmus, der irgendwie... lebendig schien, als wäre es kein Feuer, das er sah, sondern der Atem eines Drachen, der auch ihn verschlingen mußte, wenn er ihm zu nahe kam. Der Anblick erfüllte ihn mit einem wilden Entsetzen, das ihn unfähig machte, darauf zu reagieren. Statt anzuhalten oder langsamer zu laufen, rannte er nur noch schneller, näherte sich dem Feuer wie ein Schmetterling einer Kerzenflamme, deren Verlockung er nicht widerstehen konnte, obwohl er tief in sich wußte, daß sie ihn verzehren würde.

Kurz bevor er die Straße erreichte, hatte Sendig seinen Wagen wohl endlich wieder unter Kontrolle bekommen, denn der Mercedes schoß mit aufheulendem Motor an ihm vorbei und bremste dann so hart, daß die Reifen Kielspuren aus grauem, fettigem Qualm zu ziehen begannen. Der silbergraue Lack flammte rot auf, als er in den Bereich des Lichtes geriet, und was immer Sendig in diesem Moment sah, es ließ ihn erneut die Gewalt über den Wagen verlieren: Der Mercedes brach aus, vollführte zum zweiten Mal innerhalb weniger Sekunden eine komplette Pirouette und prallte hart mit zwei Reifen gegen den Bordstein auf der anderen Straßenseite. Bremer rannte weiter, ohne es zu beachten, taumelte um die Ecke -

und tat einen Blick in die Hölle.

Die schäbige Straße und die Mauern rechts und links waren verschwunden, ebenso wie der Himmel, die Erde, das Universum. Vor ihm loderte eine gewaltige Feuersbrunst, die die Welt von einem Ende zum anderen verschlungen hatte, und inmitten dieser höllischen Glut, hochaufgerichtet und riesig und unvorstellbar drohend, stand der Todesengel. Bremer sah ihn nur als Schattenriß, denn das grelle Licht, das hier millionenmal intensiver war als draußen auf der Straße, blendete seine Augen und fraß sich wie glühende Säure an seinen Sehnerven entlang bis tief in sein Gehirn, um sich für den Rest seines Lebens darin einzubrennen, aber er wußte trotzdem, daß er es war, der Schatten aus dem Wagen, das Ding, das ihn im Treppenhaus verfolgt, ihm von dem Foto aus Mogrods Dunkelkammer zugewinkt hatte, aber es war jetzt kein Schatten mehr, keine Vision, sondern real und tödlich, ein Gigant mit Klauen und Zähnen, einer schimmernden schwarzen Haut aus Stahl und einem Paar gewaltiger schwarzer Flügel, die sich noch weit über seinen Körper erhoben. Er stand dem Herrn der Hölle gegenüber, keinem Engel, sondern dem Teufel selbst - aber wo war der Unterschied? -, der gigantisch und drohend vor dem Tor zu seinem Reich stand und auf ihn gewartet hatte. Er hatte die Warnung nicht verstanden, die die Visionen bedeutet hatten, und jetzt war es zu spät.

Bremer stand da wie gelähmt. Er hätte in die Flammen hineinrennen müssen, aber die gleiche unheimliche Kraft, die ihn angezogen hatte, hielt ihn nun zurück und paralysierte ihn zugleich. Er konnte sich nicht bewegen. Nicht denken. Nicht einmal schreien. Er stand hilflos da und starrte auf den schwarzen Koloß, und etwas in ihm starb, während er den Blick der unsichtbaren, grausamen Augen auf sich ruhen fühlte. Es war kaum spürbar, ganz schwach nur, aber er fühlte, wie etwas in ihn hineingriff und einen Teil dessen, was sein Menschsein ausmachte, einfach zermalmte. Es dauerte nur eine Sekunde, aber Bremer war nicht mehr derselbe, als sich die schwarze Schattenhand zurückzog und seine Seele wieder freigab. Und dann, im gleichen Augenblick, erlosch die Vision. Die Lähmung fiel von ihm ab, und im selben Moment wurde die Welt wieder das, was sie gewesen war, ehe sich vor seinen Augen die Tore zur Hölle geöffnet hatten. Der Wahnsinn zog sich - vielleicht ein allerletztes Mal nur noch - zurück und schleuderte ihn in eine andere, kaum weniger schlimme Hölle, die Hier hieß.

Bremer taumelte. Plötzlich spürte er die furchtbare Hitze, die ihm ins Gesicht schlug und seine Haut und seine Augenbrauen versengte. Der Schmerz, den er gerade vermißt hatte - der körperliche Schmerz -, kam nun im Übermaß. Er schrie, prallte gegen eine Wand und riß instinktiv die Hände vor das Gesicht. Trotzdem sah er jedes noch so brutale Detail des Bildes vor sich, wie es wirklich war, und es war keine Erleichterung, denn auf seine Art war es schlimmer als das, was er nur zu sehen geglaubt hatte.

Die Straße war eine Sackgasse, kaum zwanzig Meter lang, und in gewisser Hinsicht war sie zu einem Teil der Hölle geworden, einer Hölle aus Feuer und ineinandergerammtem Stahl, aus Schreien und verstümmelten Körpern. Einer der beiden BMW sah aus, als wäre er in voller Fahrt gegen die Wand geprallt und daran zerborsten, und wahrscheinlich war er in Flammen aufgegangen, als sich der nachfolgende Wagen in ihn hineingebohrt hatte. Die Flammen bildeten eine zweite, geschlossene Mauer vor der Rückwand der Gasse, und die Hitze war selbst hier noch, zwanzig Meter entfernt, so gewaltig, daß Bremer kaum atmen konnte. Brennendes Benzin bildete Dutzende von kleinen und großen Lachen und war gegen die Wände gespritzt, und an mindestens einer Stelle hatte sich das Feuer bereits durch ein Fenster gefressen und setzten sein Vernichtungswerk im Inneren des Gebäudes fort. Überall lagen glühende Metall- und Kunststoffsplitter.

»Bremer! Der Junge!«

Die Worte erschienen ihm seltsam bedeutungslos. Er hörte und verstand sie, aber sie schienen zu einer Sprache zu gehören, die er irgendwann einmal gelernt und längst wieder vergessen hatte. Mühsam drehte er den Kopf und sah eine Gestalt aus einem blutroten Wagen springen und mit fast grotesken Bewegungen auf ihn zueilen, aber es war mit ihr wie mit dem, was sie ihm zuschrie: Er wußte, wer sie war, konnte mit diesem Wissen aber nichts anfangen. Hinter Sendigs Mercedes kam ein weiterer Wagen mit kreischenden Bremsen zum Stehen, und plötzlich waren da noch mehr Stimmen, Schreie, Lärm. Nichts von alledem hatte irgendeine Bedeutung.

»Der Junge!« schrie Sendig noch einmal. Seine Stimme brach fast. »Holen Sie den Jungen raus! Er verbrennt!«

Es waren diese Worte, die den Bann endgültig brachen. Der Wahnsinn hatte ihn gar nicht ganz losgelassen, sondern sich nur getarnt, aber mit einem Mal begriff er, was wirklich geschehen war - der Schatten, den er gesehen hatte, war so real gewesen wie das Feuer und die Hitze, die seine Lungen versengte. Es war Mark. Er lag nur wenige Meter von ihm entfernt zusammengekrümmt auf dem Boden. Hinter ihm schossen drei Meter hohe, prasselnde Flammen aus einer Benzinlache in die Höhe, und kleinere, blaue Flämmchen bewegten sich in einem spielerisch anmutenden Tanz auf ihn zu. Die Lache erhielt noch immer Nahrung aus dem geborstenen Tank eines der Wagen und breitete sich aus. Noch ein paar Sekunden, und sie mußte die hilflos daliegende Gestalt erreicht haben.

Bremer riß erneut schützend beide Arme vor das Gesicht und lief gebückt los, mitten hinein in die Flammenhölle und das tödliche, gleißende Licht. Er versuchte nicht zu atmen und die Augen so weit zu schließen, wie es nur ging. Trotzdem war die Hitze unvorstellbar. Es war keine glühende Hand, die in sein Gesicht schlug, sondern Thors Hammer, der ihm das Fleisch von den Knochen riß, seine Augen verbrannte und seine Lungen mit kochender Lava füllte. Halb blind vor Hitze und Schmerz erreichte er Mark, fiel neben ihm auf die Knie und grub die Hände in seine Jacke. Selbst seine Kleidung war heiß. Und die Flammen kamen näher. Sie bewegten sich jetzt schneller, um sich die schon sicher geglaubte Beute nicht doch noch im letzten Moment entreißen zu lassen.

Bremer zerrte mit aller Kraft. Flammen griffen nach seinen Händen und begannen ihm das Fleisch von den Knochen zu brennen, und eine glühende Lohe strich über sein Gesicht und verbrühte seine Haut. Der Schmerz war unerträglich, aber Bremer ließ nicht los. Marks regloser Körper schien Tonnen zu wiegen. Bremer zerrte, riß, stemmte sich gegen den Boden und spürte, wie die meisten seiner Fingernägel abbrachen und sich sein eigenes Blut mit dem des Jungen vermischte, während es über seine Jacke lief, aber er ignorierte den neuerlichen Schmerz ebenso wie den immer unerträglicher werdenden Drang, Luft zu holen. Er durfte es nicht. Er würde zusammen mit Mark sterben, wenn er es tat, denn die Luft war jetzt so heiß, daß er im wahrsten Sinne des Wortes Feuer atmen würde.

Er wußte nicht wie, aber irgendwie gelang es ihm, den schlaff daliegenden Körper zu bewegen. Es gab einen sonderbaren, saugenden Laut, als hätte sogar der Boden noch versucht, sich an ihn zu klammern und ihn festzuhalten, aber plötzlich war Mark frei Bremer taumelte rückwärts, einen Schritt, zwei, zerrte Mark mit dem letzten bißchen verbliebener Kraft, das er noch in seinem Körper fand, mit sich, einen weiteren Schritt und noch einen, und plötzlich waren Hände da, die an ihm vorbei nach dem Jungen griffen, und andere, die ihn auffingen, als er zu stürzen drohte.

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