3 Ein farbiger Fächer

Mat wusste nicht, ob er fluchen oder weinen sollte.

Da die Soldaten fort waren und Ebou Dar in seinem Staub zurückbleiben würde, schien es für die Würfel keinen Grund zu geben, aber es gab nie einen verfluchten Grund zu erkennen, bis es zu spät war.

Was auch immer auf ihn zukam, konnte Tage in der Zukunft liegen oder auch nur eine Stunde, aber er war nie dazu fähig gewesen, es vorher herauszufinden. Sicher war nur, dass etwas Wichtiges — oder Furchtbares — geschehen würde, und dass er es nicht verhindern konnte. Manchmal, wie in jener Nacht am Tor, verstand er nicht einmal dann, wenn die Würfel verstummt waren, warum sie überhaupt gerollt waren. Er wusste nur eines mit Sicherheit: so sehr ihn die Würfel auch nervös machten wie eine Ziege mit Juckreiz, sobald sie loslegten, wollte er, dass sie nie wieder aufhörten. Aber das taten sie. Früher oder später verstummten sie immer.

»Alles in Ordnung, Mat?«, fragte Olver. »Diese Seanchaner werden uns nicht erwischen.« Er versuchte im Brustton der Überzeugung zu sprechen, aber in seinem Tonfall lag der Hauch einer Frage.

Unvermittelt wurde sich Mat bewusst, dass er ins Leere gestarrt hatte. Egeanin musterte ihn stirnrunzelnd, während sie nachdenklich an ihrer Perücke herumfummelte, offensichtlich wütend, dass er sie nicht beachtete. Domon blickte beflissen; Mat hätte seine Mütze gefressen, wenn er nicht darüber nachdachte, ob er zu Egeanins Unterstützung wütend werden sollte oder nicht. Selbst Thera sah ihn am Zelteingang vorbei an, und sie bemühte sich stets, nicht in Egeanins Blickfeld zu geraten. Er konnte es nicht erklären. Nur ein Mann mit Hafergrütze im Kopf würde glauben, dass ihm laut klappernde, für alle unsichtbare Würfel Warnungen zukommen ließen. Und es konnte genauso gut wie in der Nacht am Tor sein. Nein, das war kein Geheimnis, das er verraten wollte. Außerdem würde es sowieso nichts bringen.

»Sie werden uns nie erwischen, Olver, nicht dich und mich.« Er fuhr dem Jungen durchs Haar, und Olver grinste breit; so einfach war es, seine Zuversicht wiederherzustellen. »Nicht solange wir die Augen offen und unseren Verstand geschärft halten. Vergiss nicht, du kannst einen Weg aus jeder Schwierigkeit heraus finden, wenn du die Augen offen und einen klaren Verstand behältst, aber wenn du das nicht tust, wirst du über deine eigenen Füße stolpern.« Olver nickte ernst, aber Mat hatte mit dieser Mahnung die anderen gemeint. Oder vielleicht auch sich selbst. Beim Licht, es war für jeden von ihnen unmöglich, noch aufmerksamer zu sein. Mit Ausnahme von Olver, der das alles für ein großes Abenteuer hielt, waren sie schon alle aus der Haut gefahren, bevor sie die Stadt verlassen hatten.

»Geh und hilf Thera, wie es dir Juilin gesagt hat, Olver.« Eine kalte Böe schnitt durch Mats Mantel und ließ ihn frösteln. »Und zieh deinen Mantel an, es ist kalt«, fügte er hinzu, als sich der Junge neben Thera ins Zelt duckte. Schleifende Geräusche aus dem Inneren verkündeten, dass sich Olver an die Arbeit machte, mit oder ohne Mantel, aber Thera blieb im Zelteingang hocken und betrachtete Mat. Bei der Sorgfalt, die alle außer Mat Cauthon walten ließen, konnte sich der Junge noch den Tod holen.

Sobald Olver verschunden war, trat Egeanin näher an Mat heran, die Fäuste in die Hüften gestemmt, und er stöhnte leise. «Wir werden diese Sache zu Ende bringen, Cauthon«, sagte sie mit harter Stimme. »Jetzt sofort! Ich werde unsere Reise nicht scheitern lassen, weil Ihr meine Befehle widerruft.«

»Es gibt nichts zu regeln«, sagte er zu ihr. »Ich bin nie in Eure Dienste getret en, und das war's.« Irgendwie schaffte es ihr Gesicht, noch kantiger zu werden, das war so deutlich, als hätte sie gebrüllt, dass sie die Dinge ganz anders sah. Die Frau war so hartnäckig wie eine zuschnappende Schildkröte, aber es musste einen Weg geben, ihren Kiefer von seinem Bein zu befreien. Er wollte lieber zu Asche verbrennen als mit den rollenden Würfeln allein zu sein, und doch war das besser, als ihnen zuhören zu müssen, während er sich mit ihr herumstritt. »Ich werde nach Tuon sehen, bevor wir aufbrechen.« Die Worte kamen aus seinem Mund, bevor er darüber nachgedacht hatte. Ihm wurde bewusst, dass sie dort für einige Zeit geruht und sich ganz langsam entwickelt hatten.

Das Blut verschwand aus Egeanins Wangen, sobald er Tuons Namen aussprach, und er hörte das Quieken Theras, dem das Geräusch eines zuschnappenden Zelteingangs folgte. Die einstige Panarchin hatte während ihrer Zeit als Suroths Besitz viele seanchanische Sitten angenommen und anscheinend auch viele ihre Tabus.

Egeanin war da aus härterem Holz geschnitzt. »Warum?«, verlangte sie zu wissen. Um im gleichen Atemzug fortzufahren, zugleich wütend und voller Unbehagen. »Ihr dürft sie nicht so nennen. Ihr müsst Respekt zeigen.« Zumindest in machen Sachen härter.

Mat grinste, aber sie schien den Witz nicht zu verstehen. Respekt? Es war nicht besonders respektvoll, jemandem einen Knebel in den Mund zu stopfen und ihn dann in einen Wandbehang einzurollen. Tuon eine Hochlady oder sonst wie zu nennen würde daran nichts ändern. Natürlich war Egeanin eher dazu bereit, über die Befreiung von Damane zu sprechen als über Tuon. Hätte sie so tun können, als hätte es die Entführung nie gegeben, dann hätte sie das auch getan, und tatsächlich versuchte sie es auch. Beim Licht, sie hatte diese Entführung zu ignorieren versucht, während sie geschah. In ihrer Welt waren sämtliche ihrer anderen Verbrechen im Gegensatz dazu bedeutungslos.

»Weil ich mit ihr sprechen möchte«, sagte er. Und warum auch nicht? Früher oder später musste er es tun. Mittlerweile schoben sich Leute durch die schmale Straße, zur Hälfte bekleidete Männer, denen die Hemden aus den Hosen hingen, und Frauen, deren Haar noch immer von Nachtschals verborgen wurde. Einige von ihnen führten Pferde, andere vertraten sich bloß die Beine. Ein drahtiger Junge, nur etwas größer als Olver, schlug ein Rad nach dem anderen, wenn ihm die Menge dafür Platz machte, entweder übte er oder spielte. Der verschlafene Bursche aus dem dunkelgrünen Wagen war noch immer nicht aufgetaucht. Es würde noch Stunden dauern, bevor sich Lucas Großer Wanderzirkus in Bewegung setzte. Es war also noch genug Zeit. »Ihr solltet mich begleiten«, schlug er in seinem unschuldigsten Tonfall vor. Das hätte ihm viel früher einfallen sollen.

Die Einladung ließ Egeanin so starr wie einen Zaunpfahl werden. Es erschien kaum möglich, dass sie noch blasser wurde, aber ihr Gesicht verlor noch eine Spur Farbe. »Ihr werdet Ihr den gebührenden Respekt erweisen«, sagte sie heiser und packte den Schal mit beiden Händen, als wollte sie sich die schwarze Perücke noch enger auf den Kopf drücken. »Komm, Bayle. Ich will sichergehen, dass meine Sachen ordentlich verstaut werden.«

Domon zögerte, als sie sich umdrehte und sich ohne einen Blick zurück in die Menge stürzte, und Mat beobachtete ihn misstrauisch. Er hatte eine vage Erinnerung an einen Kampf auf Domons Flussschiff vor langer Zeit, aber sie war einfach nicht richtig greifbar. Thom begegnete Domon freundlich, was für den Illianer sprach, aber er war Egeanins Mann, dazu bereit, sie in allem zu unterstützen, bis hin zu ihrer Abneigung gegenüber Juilin, und Mat vertraute ihm nicht weiter als ihr. Also nicht besonders weit. Egeanin und Domon verfolgten ihre eigenen Ziele, und in ihnen spielte es keine Rolle, ob Mat Cauthon mit heiler Haut davonkam. Er bezweifelte, dass der Mann ihm vertraute, was das anging, aber im Augenblick blieb keinem von ihnen eine Wahl.

»Glück stich mich«, murmelte Domon und kratzte sich an den Stoppeln, die über seinem linken Ohr wuchsen, »was auch immer Ihr vorhabt, Ihr könntet Euch da gehörig übernehmen. Ich glaube, sie ist härter, als Ihr vermutet.«

»Egeanin?«, sagte Mat ungläubig. Er schaute sich hektisch um, ob jemand in der Gasse seinen Ausrutscher mitbekommen hatte. Ein paar warfen ihm und Domon im Vorbeigehen einen Blick zu, aber keiner sah zweimal hin. Luca war nicht der Einzige, der es eilig hatte, eine Stadt zu verlassen, wo der Zuschauerstrom versiegt war und nächtliche Blitze, die den Hafen in Brand setzten, noch frisch in Erinnerung waren. Am liebsten wären sie alle in jener Nacht geflohen und hätten Mat kein Versteck gelassen, aber Luca hatte es ihnen ausgeredet. Das versprochene Gold hatte Luca sehr überzeugend gemacht. »Ich weiß, dass sie zäher als altes Stiefelleder ist, Domon, aber alte Stiefel zählen bei mir nicht. Das hier ist kein verdammtes Schiff, und ich werde nicht zulassen, dass sie das Kommando übernimmt und alles ruiniert.«

Domon verzog das Gesicht, als wäre Mat schwachsinnig. »Das Mädchen, Mann. Glaubt Ihr, Ihr könntet so ruhig sein, wenn man Euch in der Nacht ver — schleppt hätte? Was auch immer Ihr vorhabt, mit diesem ganzen wirren Gerede, sie sei Eure Frau, seid vor — sichtig, oder sie könnte Euch den Kopf auf Schulterhöhe rasieren.«

»Ich habe bloß den Narren gespielt«, murmelte Mat.

»Wie oft muss ich das noch sagen? Ich hatte für einen Moment die Nerven verloren.« Oh, das war die Wahr heit. Zu erfahren, wer Tuon war, während er mit ihr rang, hätte einen verdammten Trolloc die Nerven verlieren lassen.

Domon grunzte ungläubig. Nun, es war kaum die beste Geschichte, die Mat je eingefallen war. Allerdings schien sie jeder, der ihn brabbeln gehört hatte, zu akzeptieren — mit Ausnahme von Domon. Zumindest glaubte Mat, dass die anderen sie geglaubt hatten.

Egeanin mochte ja allein schon beim Gedanken an Tuon einen Knoten in der Zunge bekommen, aber sie hätte ihm ihre Meinung gesagt, hätte sie ihn ernst genommen. Vermutlich hätte sie ihn auf der Stelle erdolcht.

Der Illianer schaute in die Richtung, in der Egeanin verschwunden war, und schüttelte den Kopf. »Versucht von jetzt an, Eure Zunge im Zaum zu halten.

Jedes Mal, wenn ... Leilwin an Eure Worte denkt, bekommt sie beinahe einen Anfall. Ich habe sie murmeln gehört, und Ihr könnt darauf wetten, dass das Mädchen es keinesfalls leichter nimmt. Spielt bei ihr den Narren, und Ihr könntet uns alle einen Kopf kürzer machen.« Er fuhr sich mit dem Finger über die Kehle und nickte kurz, bevor er in der Menge verschwand.

Mat sah ihm hinterher und schüttelte den Kopf. Tuon, hart? Sicher, sie war die Tochter der Neun Monde und alles, was dazugehörte, und im Tarasin-Palast war ihm ihr Blick unter die Haut gegangen, als er sie noch für eine weitere seanchanische Adlige gehalten hatte, die die Nase zu hoch in der Luft trug, aber das war nur deshalb passiert, weil sie ständig da auftauchte, wo er sie nicht erwartete. Mehr gab es dazu nicht zu sagen. Hart? Sie sah aus wie eine Puppe aus schwarzem Porzellan. Wie hart konnte sie sein?

Es hat dich deine ganze Kraft gekostet, zu verhind ern, dass sie dir die Nase und wer weiß was sonst noch brach, erinnerte er sich.

Er hatte darauf geachtet, nicht das zu wiederholen, was Domon als »wirres Gerede« bezeichnet hatte, aber es war nun einmal die Wahrheit, er würde Tuon heiraten. Der Gedanke ließ ihn seufzen. Er wusste es so sicher, wie er die Prophezeiung kannte. Er konnte sich nicht vorstellen, wie eine solche Ehe zustande kommen sollte; nüchtern betrachtet erschien es unmöglich, und er würde nicht weinen, wenn es so kam. Aber er wusste, dass das nicht passieren würde. Warum verdammt noch mal hatte er immer Frauen am Hals, die ihn mit Messern bedrohten oder versuchten, ihm den Schädel einzuschlagen? Es war nicht fair.

Er wollte auf direktem Weg zu dem Wagen gehen, in dem Tuon und Selucia unter der Aufsicht von Setalle Anan standen — die Gastwirtin konnte einen Stein weich erscheinen lassen; eine verwöhnte Adlige und ihre Zofe würden ihr keine Schwierigkeiten bereiten, vor allem, da einer der Rotwaffen draußen Wache schob —, aber seine Füße trugen ihn die gewundenen Straßen entlang, die sich durch das Zirkusgelände zogen. Sie alle, die breiten und die schmalen, waren von hektischer Aktivität erfüllt. Männer zogen eilig Pferde, die scheuten und umhertänzelten, weil sie zu lange nicht bewegt wor den waren. Andere bauten Zelte ab und beluden Lastkarren oder schleppten in Tuch verpackte Bündel und messingbeschlagene Truhen und Fässer und Kanister in sämtlichen vorstellbaren Größen aus den hausähnlichen Wagen, die dort monatelang gestanden hatten, sie entluden sie teilweise, sodass alles für die Reise neu beladen werden konnte, während vorn die Gespanne angeschirrt wurden. Der Lärm war beständig: Pferde wieherten, Frauen riefen nach Kindern, Kinder weinten wegen verlorenem Spielzeug oder schrien aus purem Spaß am Lärm, Männer brüllten herum, weil sie wissen wollten, wer an ihren Gespannen gewesen oder wer sich ein Werkzeug ausgeliehen hatte. Eine Akrobatentruppe, schlanke, aber muskulöse Frauen, die an von hohen Pfosten herabhängenden Seilen arbeiteten, hatten einen der Pferdeknechte umzingelt; sie alle fuchtelten mit den Armen und kreischten so laut sie konnten herum, und keiner hörte zu. Mat blieb kurz stehen, um herauszufinden, wobei es bei dem Streit eigentlich ging, aber schließlich kam er zu der Erkenntnis, dass sie es selbst nicht wußten. Zwei Männer ohne Mantel wälzten sich am Boden, scharf beobachtet vom vermutlichen Anlass des Kampfes, einer gertenschlanken Näherin mit glühenden Augen namens Jameine, aber bevor Mat auch nur eine Wette auf den Ausgang abgeben konnte, erschien Petra und zog sie auseinander.

Er hatte keine Angst, Tuon wiederzusehen. Natürlich nicht. Nachdem er sie in diesem Wagen untergebracht hatte, hatte er sich von ihr ferngehalten, um ihr Zeit zu geben, wieder zur Ruhe zu kommen. Das war alles. Domon hatte sie als beherrscht bezeichnet, und das stimmte. Mitten in der Nacht entführt, von Leuten, die, soweit sie es wusste, ihr ohne zu zögern die Kehle durchschneiden würden, in einen Sturm verschleppt, und sie war von ihnen allen die ruhigste gewesen. Beim Licht, sie hätte es selbst geplant haben können, so wenig aufgebracht war sie! Es hatte ihm das Gefühl gegeben, als würde ein Messer zwischen seinen Schulterblättern schweben, und allein bei dem Gedanken an sie war das Messer wieder da. Und diese Würfel rollten in seinem Schädel.

Die Frau wird wohl kaum anbieten, das Ehegelöbnis hier und jetzt auszutauschen, dachte er mit einem Kichern, aber es klang selbst für seine Ohren gezwungen. Dennoch gab es für ihn keinen Grund unter der Sonne, Angst zu haben. Er war nur auf angemessene Weise vorsichtig, nicht ängstlich.

Der Zirkus entsprach der Größe eines durchschnittlichen Dorfes, aber ein Mann konnte nur eine gewisse Zeit auf dieser Fläche umherwandern, bevor er anfing, die gleichen Wege erneut einzuschlagen. Bald, zu bald, stand er vor einem fensterlosen Wagen in verblichenem Purpur in Sichtweite der südlichen Pferdeleinen, der von Planwagen umgeben wurde. Die Dungkarren waren an diesem Morgen nicht abgeholt worden, und der Geruch war stark. Der Wind trug auch schwere Gerüche von den nahen Tierkäfigen heran, den moschusartigen Duft von Großkatzen und Bären und das Licht allein wusste von was sonst noch. Jenseits der Planwagen und Pflöcke fiel ein Teil der Segeltuchwand und ein weiterer begann zu zittern, als Männer die Vertäuung lösten. Die mittlerweile von dunklen Wolken verborgene Sonne war auf dem halben Weg zur höchsten Stelle geklettert, aber es war noch immer zu früh.

Harnan und Merwyn, zwei der Rotwaffen, hatten bereits die ersten beiden Pferde an die Achse des purpurnen Wagens angeschirrt und waren mit dem zweiten Paar fast fertig. Als bei der Bande der Roten Hand gut ausgebildete Soldaten würden sie zum Aufbruch bereit sein, wenn das Zirkusvolk noch immer versuchte herauszufinden, wie man die Pferde anschirren musste. Mat hatte der Bande beigebracht, sich zu beeilen, wenn es notwendig war. Er schlurfte daher, als würde er durch Schlamm waten.

Harnan, der diese alberne Falkentätowierung auf der Wange hatte, entdeckte ihn zuerst. Der Gruppenführer mit dem kantigen Kiefer war gerade dabei, einen Zugriemen festzuschnallen, und er wechselte einen Blick mit Metwyn, dem Cairhiener mit dem jungenhaften Aussehen, das sowohl seinem Alter wie auch seiner Schwäche für Wirtshausschlägereien widersprach. Sie hatten kein Recht, überrascht auszusehen.

»Läuft alles glatt? Ich will noch heute hier weg sein.« Mat rieb sich die Hände warm und musterte den purpurnen Wagen unbehaglich. Er hätte ihr ein Geschenk mitbringen sollen, Geschmeide oder Blumen. Beides funktionierte gut, jedenfalls bei den meisten Frauen.

»Glatt genug, mein Lord«, erwiderte Harnan vorsichtig. »Kein Geschrei, keine Proteste, keine Tränen.«

Er sah den Wagen an, als könnte er es selbst nicht glauben.

»Die Ruhe gefällt mir«, sagte Metwyn und schob einen Zügel durch einen Ring des Kummets. »Wenn Frauen zu weinen anfangen, dann kann man nur gehen, wenn einem seine Haut etwas bedeutet, und wir können sie schlecht am Straßenrand absetzen.« Aber auch er warf dem Wagen einen Blick zu und schüttelte ungläubig den Kopf.

Mat blieb wirklich nichts anderes mehr übrig, als ihn zu betreten. Also tat er es. Er benötigte nur zwei Anläufe mit einem aufgesetzten Lächeln, um die kurze, bemalte Holztreppe an der Hinterseite des Wagens zu erklimmen. Er hatte keine Angst, aber jeder Narr würde genug wissen, um nervös zu sein.

Trotz der fehlenden Fenster war das Wageninnere hell erleuchtet; vier Spiegellampen brannten, und sie waren mit gutem Öl gefüllt, sodass es keine ranzigen Gerüche gab. Allerdings wäre das durch den draußen herrschenden Gestank kaum aufgefallen. Er musste einen besseren Stellplatz für diesen Wagen finden. Ein kleiner Ziegelofen mit Eisenklappe und einem Eisengitter zum Kochen machte den Raum mollig warm. Es war kein großer Wagen, und jede freie Handspanne Wand wurde mit Kommoden oder Regalbrettern oder Haken zum Aufhängen von Kleidung und Handtüchern und dergleichen genutzt, aber der Tisch, den man an Schnüren herablassen konnte, hing oben an der Decke, und die Frauen im Wagen waren kaum in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt.

Die drei Frauen hätten nicht unterschiedlicher sein können. Frau Anan saß auf einem der beiden schmalen Betten, die in die Wände eingebaut waren, eine gebieterische Frau, deren Haar die ersten Spuren von Grau aufwies; auf ihren Stickrahmen konzentriert, erweckte sie nicht im mindesten den Eindruck einer Wächterin. An jedem ihrer Ohren hing ein großer goldener Ohrring, von der eng anliegenden Silberkette baumelte ihr Hochzeitsdolch, dessen mit roten und weißen Steinen verzierter Griff sich in das Dekollete schmiegte, das der schmale, tief nach unten führende Ausschnitt ihres Kleids freigab; der Rocksaum war an der einen Seite hochgenäht und entblößte die gelben Unterröcke. Sie trug noch ein weiteres Messer mit langer, gebogener Klinge, das hinter dem Gürtel steckte, aber das war nur ein Brauch aus Ebou Dar. Setalle hatte jede Verkleidung verweigert, was vernünftig erschienen war. Keiner hatte einen Grund, sie zu verfolgen, und es war auch so schon schwer genug gewesen, für jeden der anderen passende Kleidung zu finden.

Selucia saß mit untergeschlagenen Beinen zwischen den Betten auf dem Boden. Sie war eine hübsche Frau mit heller Haut, ihr kahl rasierter Kopf wurde von einem dunklen Tuch verborgen. Auf ihrem Gesicht lag ein mürrischer Ausdruck, obwohl sie für gewöhnlich würdevoll genug aussah, um Frau Anan wie ein leichtes Mädchen erscheinen zu lassen. Ihre Augen waren so blau wie die Egeanins und noch durchbohrender, und sie hatte wegen des Verlusts ihrer restlichen Haare noch mehr Theater als sie gemacht. Sie verabscheute auch das dunkelblaue Gewand, das man ihr gegeben hatte, und behauptete, der tiefe Ausschnitt sei unanständig, aber er machte sie so unkenntlich wie eine Maske. Nur wenige Männer würden sich lange auf Selucias Gesicht konzentrieren können, nachdem sie einen Blick auf ihren eindrucksvollen Busen geworfen hatten. Mat hätte den Anblick gern selbst für kurze Zeit genossen, aber da war Tuon, die auf dem einzigen Stuhl des Wagens saß, ein in Leder gebundenes, aufgeschlagenes Buch auf dem Schoß, und er konnte sich kaum dazu überwinden, woanders hinzuschauen. Seine zukünftige Gemahlin. Beim Licht!

Tuon war winzig, nicht nur klein, sondern auch noch fast so schlank wie ein Junge, und das lose sitzende braune Wollkleid, ausgeliehen von einer Artistin, ließ sie wie ein Kind aussehen, das die Kleider seiner älteren Schwester auftrug. Nicht im mindesten die Sorte von Frau, die er bevorzugte, vor allem mit den seit ein paar Tagen sprießenden schwarzen Haarstoppeln, die ihren Kopf bedeckten. Wenn man das ignorierte, war sie auf eine zurückgenommene Art und Weise durchaus hübsch zu nennen; sie hatte ein herzförmiges Gesicht mit vollen Lippen, und ihre dunklen Augen waren wie ruhige Teiche. Diese absolute Ruhe machte ihn beinahe nervös. Nicht einmal eine Aes Sedai wäre in ihrer Lage so gelassen gewesen. Die verdammten Würfel in seinem Kopf waren auch keine Hilfe.

»Setalle hat mich auf dem Laufenden gehalten«, sagte sie kühl, als er die Tür schloss. Mittlerweile konnte er Unterschiede in seanchanischen Akzenten erkennen; Tuon ließ Egeanin klingen, als hätte sie den Mund voll Brei, aber sie alle klangen langsam und verwaschen. »Sie hat mir die Geschichte erzählt, die Ihr über mich verbreitet habt, Spielzeug.« Tuon hatte im Tarasin-Palast angefangen, ihn so zu nennen. Damals hatte es ihn nicht gestört. Jedenfalls nicht besonders.

»Mein Name ist Mat«, fing er an. Er vermochte nicht zu sagen, wo die Tasse in ihrer Hand hergekommen war, aber er konnte sich noch rechtzeitig zu Boden werfen, damit sie die Tür statt seinen Kopf traf.

»Bin ich eine Dienerin, Spielzeug?« War Tuons Tonfall zuvor kühl gewesen, war er jetzt so hart wie Eis. Ihr Gesichtsausdruck hätte einen Richter, der gerade eine Todesstrafe verhängte, fröhlich aussehen lassen.

»Eine diebische Dienerin?« Das Buch rutschte von ihrem Schoß, als sie aufstand und sich bückte, um den weißen Nachttopf mit Deckel zu ergreifen. »Eine treulose Dienerin?«

»Den brauchen wir noch«, sagte Selucia bedächtig und nahm Tuon das bauchige Gefäß aus den Händen.

Sie stellte es vorsichtig auf der Seite ab und hockte geduckt zu Tuons Füßen, so als wäre sie bereit, sich selbst auf Mat zu werfen, so lächerlich diese Vorstellung auch war. Obwohl im Augenblick eigentlich nichts lächerlich war.

Frau Anan griff nach einem der mit einer Holzstange gesicherten Regalbretter über ihrem Kopf und reichte Tuon eine weitere Tasse. »Davon haben wir genug«, murmelte sie.

Mat warf ihr einen wütenden Blick zu, aber in ihren haselnussbraunen Augen funkelte es amüsiert. Amüsiert! Sie sollte die beiden bewachen\ Eine Faust pochte an die Tür. »Braucht Ihr Hilfe?«, rief Harnan unsicher. Mat fragte sich, wen er wohl meinte.

»Wir haben hier alles im Griff«, rief Setalle zurück und stieß ruhig ihre Nadel durch den auf dem Stickrahmen aufgespannten Stoff. Man hätte glauben können, die Stickarbeit sei die wichtigste Sache auf der Welt. »Macht mit eurer Arbeit weiter. Trödelt nicht herum.« Die Frau war keine Ebou Dari, aber sie hatte deren Art offensichtlich in sich aufgesogen. Einen Augenblick später polterten draußen Stiefel die Treppe hinunter. Anscheinend hatte sich auch Harnan zu lange in Ebou Dar aufgehalten.

Tuon drehte die neue Tasse in ihrer Hand, als wollte sie die aufgemalten Blumen studieren, und ihre Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, das so kurz währte, dass Mat beinahe glaubte, es sich nur eingebildet zu haben. Sie war mehr als nur hübsch, wenn sie lächelte, aber es war eines jener Lächeln, das besagte, dass sie Dinge wusste, die ihm unbekannt waren. Wenn sie so weitermachte, würde er einen Schluckauf bekommen.

»Man wird mich nicht für eine Dienerin halten, Spielzeug.«

»Mein Name ist Mat, nicht ... diese andere Sache«, sagte er, stellte sich auf die Füße und belastete vorsichtig seine Hüfte. Überraschenderweise schmerzte sie nach der Bekanntschaft mit dem Boden nicht stärker. Tuon hob eine Braue und wog die Tasse in der Hand.

»Ich konnte den Zirkusleuten ja wohl kaum sagen, dass ich die Tochter der Neun Monde entführt habe«, sagte er verzweifelt.

»Die Hochlady Tuon, Bauer!«, sagte Selucia entschieden. »Sie ist unter dem Schleier!« Schleier? Tuon hatte im Palast einen Schleier getragen, jetzt aber nicht.

Die kleine Frau machte eine anmutige Geste, eine Königin, die eine Gnade erwies. »Das ist nicht von Bedeutung, Selucia. Er ist unwissend. Noch. Wir müssen ihn unterrichten. Aber Ihr werdet diese Geschichte ändern, Spielzeug. Ich werde keine Dienerin sein.«

»Es ist zu spät, um etwas zu ändern«, sagte Mat und behielt die Tasse im Auge. Ihre Hände sahen zerbrechlich aus, jetzt, da die langen Fingernägel kurz geschnitten waren, aber er erinnerte sich, wie schnell sie sein konnten. »Niemand hat von Euch verlangt, als Dienerin zu arbeiten.« Luca und seine Frau kannten die Wahrheit, aber es war eine Erklärung erforderlich gewesen, warum Tuon und Selucia in diesem Wagen eingesperrt worden waren und unter Bewachung standen. Die perfekte Lösung war die Geschichte von zwei Dienerinnen gewesen, die wegen Diebstahls entlassen werden sollten und die Flucht ihrer Herrin mit ihrem Liebhaber verraten wollten. Für Mat hatte das perfekt geklungen. Für das Zirkusvolk machte es die Sache nur noch romantischer. Er hatte befürchtet, Egeanin würde ihre Zunge verschlucken, als er es Luca erklärte. Vielleicht hatte sie ja gewusst, wie Tuon das aufnehmen würde. Beim Licht, fast wünschte er, die Würfel würden verstummen. Wie sollte ein Mann mit so etwas im Kopf nachdenken können?

»Ich konnte Euch nicht zurücklassen, damit Ihr Alarm schlagt«, fuhr er geduldig fort. Das stimmte auch, gewissermaßen. »Ich weiß, dass Frau Anan es Euch erklärt hat.« Er dachte daran zu erklären, dass ihn seine blankliegenden Nerven zu der Behauptung veranlasst hatten, sie sei seine Frau — sie musste ihn für völlig verrückt halten! —, aber es schien am besten, das gar nicht mehr zu erwähnen. Wenn sie die Sache auf sich beruhen ließ, umso besser. »Ich weiß, dass sie es Euch bereits gesagt hat, aber ich verspreche, dass Euch keiner etwas antun wird. Wir sind nicht auf Lösegeld aus, wir wollen nur unsere Köpfe auf den Schultern behalten. Sobald ich weiß, wie ich Euch unversehrt nach Hause zurückschicken kann, werde ich das tun. Das verspreche ich Euch. Bis dahin werde ich es Euch so bequem machen, wie es mir möglich ist. Ihr werdet Euch nur mit dem anderen abfinden müssen.«

Tuons große dunkle Augen funkelten, ein Wärmegewitter am Nachthimmel, aber sie sagte: »Es hat den Anschein, als musste ich abwarten, was Eure Versprechungen wert sind, Spielzeug.« Zu ihren Füßen fauchte Selucia wie eine nass gespritzte Katze und drehte den Kopf, als wollte sie widersprechen, aber Tuon gestikulierte mit der linken Hand, und die Frau mit den blauen Augen errötete und verstummte. Manchmal benutzte das Blut etwas Ähnliches wie die Aiel-Handsprache bei ihren hochrangigen Dienern. Mat wünschte sich, er könnte die Signale verstehen.

»Beantwortet mir eine Frage, Tuon«, sagte er.

Er glaubte, Setalle »Narr« murmeln zu hören. Selucia biss die Zähne zusammen, und in Tuons Augen funkelte es gefährlich, aber wenn sie ihn weiterhin »Spielzeug« nannte, wollte er verdammt sein, wenn er ihr ihre Titel zugestand.

»Wie alt seid Ihr?« Er hatte gehört, dass sie nur wenige Jahre jünger als er war, aber wenn er sie in diesem Sack von Kleid ansah, erschien das unmöglich.

Zu seiner Überraschung entzündete sich das gefährliche Funkeln zu einer Flamme. Diesmal war es nicht nur ein Wärmegewitter. Er hätte auf der Stelle geröstet werden müssen. Tuon warf die Schultern zurück und richtete sich zu ihrer vollen Größe auf. So hoch das auch sein mochte: er bezweifelte, dass sie auf mehr als fünf Fuß kam, selbst wenn sie sich streckte. »Mein vierzehnter Wahrer —Namensgebungstag ist in fünf Monaten«, sagte sie mit einer Stimme, die alles andere als kalt war. Tatsächlich hätte sie den Wagen besser als der Ofen heizen können. Er verspürte einen Augenblick der Hoffnung, aber sie war noch nicht fertig. »Nein, ihr pflegt eure Geburtsnamen zu behalten, nicht wahr?

Das wird mein zwanzigster Namensgebungstag sein.

Seid Ihr zufrieden, Spielzeug? Habt Ihr befürchtet, Ihr hättet ein ... Kind entführt?« Die letzten Worte zischte sie förmlich.

Mat fuchtelte mit beiden Händen, um diese Vorstellung hektisch zu entkräften. Wenn eine Frau anfing, einen wie ein Teekessel anzufauchen, fand ein Mann, der auch nur einen Funken Verstand sein eigen nannte, ganz schnell einen Weg, sie wieder abzukühlen. Sie hielt die Tasse so fest umklammert, dass auf ihrem Handrücken die Sehnen hervortraten, und er wollte seine Hüfte nicht mit einem weiteren Sturz auf die Probe stellen. Und wenn er darüber nachdachte, konnte er nicht abschätzen, wie sehr sie sich bemüht hatte, ihn das erste Mal zu treffen. Ihre Hände waren sehr schnell. »Ich wollte es nur wissen«, sagte er hastig. »Ich war neugierig, wollte ein wenig plaudern. Ich bin nur etwas älter.« Zwanzig. Soviel also zu der Hoffnung, dass sie zu jung war, um in den nächsten drei oder vier Jahren zu heiraten. Alles, was sich zwischen ihn und seinen Hochzeitstag stellte, wäre willkommen gewesen.

Tuon musterte ihn mit schräg gelegtem Kopf, dann warf sie die Tasse neben Frau Anan aufs Bett und setzte sich wieder auf den Stuhl; dabei richtete sie ihren voluminösen Wollrock mit der gleichen Aufmerksamkeit, als hätte es sich um ein Seidengewand gehandelt. Aber dabei musterte sie ihn weiterhin durch die langen Wimpern. »Wo ist Euer Ring?«, wollte sie wissen.

Unbewusst strich er mit dem Daumen über den Finger der linken Hand, an dem für gewöhnlich der lange Ring steckte. »Ich trage ihn nicht immer.« Nicht, wenn jeder im Tarasin-Palast von ihm wusste. Das Ding wäre bei seiner groben Tagelöhnertracht sowieso nur aufgefallen. Es war nicht einmal sein Siegelring, sondern bloß das Versuchsstück eines Schnitzer s. Seltsam, wie sich seine Hand beträchtlich leichter ohne diesen Ring anfühlte. Zu leicht. Seltsam auch, dass sie es erwähnte. Andererseits, warum auch nicht? Beim Licht, diese Würfel ließen ihn vor Schatten zurückzucken und bei Seufzern zusammenschrecken. Aber vielleicht war das ja auch nur sie, ein beunruhigender Gedanke.

Er wollte sich auf das unbenutzte Bett setzen, aber Selucia schwang sich so schnell darauf, dass jeder Akrobat neidisch gewesen wäre, und streckte sich aus, den Kopf auf eine Hand gestützt. Das ließ einen Augenblick lang das Tuch verrutschen, aber sie richtete es hastig, und die ganze Zeit starrte sie ihn so stolz und kalt wie eine Königin an. Er schaute auf das andere Bett, und Frau Anan legte ihre Stickarbeit lange genug ab, um eingehend ihre Röcke zu glätten und deutlich zu machen, dass sie nicht vorhatte, auch nur einen Fingerbreit zur Seite zu rücken. Sollte sie doch zu Asche verbrennen, sie benahm sich, als würde sie Tuon vor ihm beschützen! Frauen schienen sich immer zusammenzurotten, sodass kein Mann jemals eine faire Chance hatte. Nun, bis jetzt war es ihm gelungen, Egeanin davon abzuhalten, das Kommando zu übernehmen, und er würde sich nicht von Setalle Anan oder einer vollbusigen Zofe oder der ach so mächtigen Hochlady Tochter der Neun verdammten Monde herumschubsen lassen! Jedoch konnte er wohl kaum eine von ihnen aus dem Weg drängen, um einen Sitzplatz zu finden.

Er lehnte sich an eine Kommode am Fuß des Bettes, auf dem Frau Anan saß, und versuchte sich etwas einfallen zu lassen, was er sagen konnte. Er hatte nie Probleme damit, mit Frauen zu sprechen, aber der Lärm dieser Würfel lahmte seinen Verstand. Alle drei Frauen warfen ihm missbilligende Blicke zu — er konnte förmlich hören, wie zumindest eine von ihnen ihm befahl, sich gerade hinzustellen! —, also lächelte er. Die meisten Frauen fanden sein bestes Lächeln sehr gewinnend.

Tuon gab einen langen Seufzer von sich, der nicht im mindesten angetan klang. »Erinnert Ihr Euch an Falkenflügels Gesicht, Spielzeug?« Frau Anan blinzelte überrascht, und Selucia setzte sich mit einem finsteren Blick auf. Der Blick galt ihm! Wieso denn ihm? Tuon sah ihn einfach nur weiterhin an, die Hände im Schoß gefaltet, so ruhig und gesammelt wie eine Seherin am Sonntag.

Mats Lächeln fühlte sich wie erstarrt an. Beim Licht, was wusste sie? Wie konnte sie überhaupt etwas wissen? Er lag unter der brennenden Sonne, hielt sich mit bei den Händen die Seite, versuchte den Rest seines Lebens daran zu hindern, aus ihm herauszuströmen, und fragte sich, ob es überhaupt einen Grund gab, daran festzuhalten.

Nach den Anstrengungen dieses Tages war Aldeshar erle digt. Einen Augenblick lang verdeckte ein Schatten die Sonne, dann kniete ein großer Mann in einer Rüstung neben ihm nieder, den Helm un ter den Arm geklemmt, mit tiefliegenden Augen, die eine Hakennase einrahmten. »Ihr habt heute gut gegen mich gekämpft, Culain, wie schon viele Tage in der Vergangenheit«, sagte diese markante Stimme.

»Werdet Ihr mit mir in Frieden leben?« Mit seinem letz ten Atemzug lachte er Artur Falkenflügel ins Gesicht. Mat hasste es, sich an das Sterben zu erinnern. Ein Dutzend weitere Begegnungen schössen ebenfalls durch seinen Verstand, uralte Erinnerungen, die jetzt die seinen waren. Mit Artur Paendrag war auch schon schwierig auszukommen gewesen, bevor die Kriege angefangen hatten.

Er holte tief Luft und wählte seine Worte mit Sorgfalt. Das war nicht der richtige Zeitpunkt, um in der Alten Sprache zu sprechen. »Natürlich nicht!«, log er. Mit einem Mann, der nicht überzeugend lügen konnte, machten Frauen kurzen Prozess. »Beim Licht, Falkenflügel starb vor tausend Jahren! Was für eine Frage ist denn das?«

Ihr Mund öffnete sich langsam, und einen Augenblick lang war er überzeugt, sie wollte eine Frage mit einer Frage beantworten. »Eine dumme, Spielzeug«, erwiderte sie stattdessen. »Ich kann nicht sagen, warum sie mir in den Sinn kam.«

Die Anspannung in Mats Schultern ließ etwas nach.

Natürlich. Er war ta'veren. In seiner Nähe taten und sagten Leute Dinge, die sie anderswo niemals tun würden. Unsinn gehörte auch dazu. Trotzdem konnte eine Sache wie diese doch sehr unangenehm sein, wenn sie zu nahe ans Ziel traf. »Mein Name ist Mat. Mat Cauthon.« Das hätte er sich genauso gut sparen können.

»Ich kann nicht sagen, was ich nach meiner Rückkehr nach Ebou Dar tun werde, Spielzeug. Ich habe mich noch nicht entschieden. Vielleicht lasse ich Euch zu einem Da'covale machen. Ihr seid nicht hübsch genug für einen Pokalträger, aber es könnte mich trotzdem erfreuen. Aber egal, Ihr habt mir gewisse Versprechungen gemacht, also erfreut es mich jetzt, ebenfalls etwas zu versprechen. Solange Ihr Eure Versprechen haltet, werde ich weder fliehen noch Euch auf irgendeine Weise verraten, und ich werde unter Euren Anhängern auch keine Unruhe stiften. Ich glaube, das deckt alles Nötige ab.« Diesmal starrte Frau Anan sie an, und Selucia machte tief in ihrer Kehle einen Laut, aber Tuon schien keine von ihnen zu beachten. Sie sah ihn bloß erwartungsvoll an und wartete auf eine Antwort.

Auch er machte einen Laut. Es war kein Wimmern, nur ein Laut. Tuons Gesicht war so glatt wie eine Maske aus dunklem Glas. Ihre Ruhe war verrückt, aber das hier ließ das Gestammel eines Verrückten völlig normal erscheinen! Sie musste verrückt sein, wenn sie glaubte, er würde ihr dieses Angebot abnehmen. Aber er glaubte, dass sie es tatsächlich ernst meinte. Entweder das, oder sie war die beste Lügnerin, der er jemals begegnet war. Wieder beschlich ihn das unangenehme Gefühl, dass sie mehr als er wusste. Das war natürlich lächerlich, aber es war da. Er schluckte den Kloß in seinem Hals herunter. Es war ein harter Kloß.

»Nun, das alles gilt für Euch«, sagte er und ver suchte Zeit zu schinden, »aber was ist mit Selucia?«

Zeit wofür? Er konnte nicht na chdenken, solange diese Würfel in seinem Schädel herumkollerten.

»Selucia folgt meinen Wünschen, Spielzeug«, sagte Tuon ungeduldig. Die blauäugige Frau richtete sich auf und starrte ihn an, als fände sie es schockierend, dass er daran gezweifelt hatte. Für eine Zofe konnte sie wild aussehen, wenn sie es versuchte.

Mat wusste nicht, was er tun oder sagen sollte. Ohne nachzudenken spuckte er in seine Hand und bot sie an, so als wollte er einen Pferdekauf besiegeln.

»Eure Bräuche sind sehr ... rustikal«, sagte Tuon trocken, aber sie spuckte in die Hand und ergriff seine.

»›So ist unser Abkommen geschrieben; so ist die Abmachung erfolgt. ‹ Was bedeutet diese Aufschrift auf Eurem Speer, Spielzeug?«

Diesmal war es ein Wimmern, und das nicht, weil sie die Inschrift in der Alten Sprache auf seinem Ashandarei gelesen hatte. Ein verdammter Stein hätte gewimmert. Die Würfel waren in dem Moment verstummt, als er ihre Hand berührt hatte. Beim Licht, was war geschehen?

Knöchel pochten an die Tür, und er stand so unter Anspannung, dass er ohne nachzudenken handelte; er fuhr herum, in jeder Hand ein Messer, dazu bereit, sie auf alles zu schleudern, was auch immer hereinkam.

»Bleibt hinter mir«, fauchte er.

Die Tür öffnete sich, und Thom steckte den Kopf herein. Die Kapuze seines Umhangs war hochgeschlagen, und Mat erkannte, dass es draußen regnete. Mit Tuon und den Würfeln waren ihm die Laute des prasselnden Regens überhaupt nicht aufgefallen. »Ich störe doch nicht, oder?« sagte Thom und strich mit den Knöcheln über seinen langen weißen Schnurrbart.

Mats Gesicht wurde heiß. Setalle war mit der Nadel ihrer Stickarbeit in der Hand erstarrt, und ihre Brauen schienen unter ihren Haaransatz kriechen zu wollen. Selucia hockte angespannt auf der anderen Bettkante und verfolgte mit beträchtlichem Interesse, wie er die Messer wieder in den Ärmeln verschwinden ließ. Er hätte sie nicht für die Art Frau gehalten, die gefährliche Männer mochte. Diese Art Frau mied man besser; sie neigten dazu zu sorgen, dass ein Mann gefährlich sein musste. Er sah Tuon nicht an. Vermutlich starrte sie ihn an, als hätte er sich benommen wie Luca. Nur weil er nicht heiraten wollte, hieß das noch lange nicht, dass seine zukünftige Frau ihn für einen Narren halten sollte.

»Was hast du herausgefunden, Thom?«, fragte er kurz angebunden. Etwas war geschehen, oder die Würfel wären nicht verstummt. Ihm kam ein Gedanke, bei dem sich seine Haare sträuben wollten. Da war das zweite Mal, dass sie in Tuons Gegenwart verstummt waren. Das dritte Mal, wenn er das Stadttor in Ebou Dar mitzählte. Drei verdammte Male, und immer hatten sie mit ihr zu tun.

Der weißhaarige Mann kam mit einem leichten Hinken herein, schob die Kapuze zurück und zog die Tür hinter sich zu. Sein Hinken kam von einer alten Verletzung, nicht von Ärger in der Stadt. Hochgewachsen und schlank, mit scharfen blauen Augen und einem schneeweißen Schnurrbart, dessen Spitzen bis unters Kinn gingen, schien er überall sofort Aufmerksamkeit zu erregen, aber er hatte Übung darin, nirgendwo aufzufallen, und sein dunkeler Mantel und der braune Wollumhang passten zu einem Mann, der über etwas Geld verfügte, wenn auch nicht viel. »Auf den Straßen wimmelt es nur so von Gerüchten über sie«, sagte er und deutete mit dem Kopf auf Tuon, »aber nichts über ihr Verschwinden. Ich habe ein paar seanchanischen Offizieren einen Becher Wein ausgegeben, und sie scheinen zu glauben, dass sie gemütlich im Palast sitzt oder auf einer Inspektionsreise ist. Ich habe keine Heuchelei gespürt, Mat. Sie haben keine Ahnung.«

»Habt Ihr öffentliche Verlautbarungen erwartet, Spielzeug?«, sagte Tuon ungläubig. »Möglicherweise denkt Suroth darüber nach, sich wegen der Schande das Leben zu nehmen. Erwartet Ihr, dass sie ein so schlechtes Omen für die Wiederkehr verbreitet?«

Also hatte Egeanin recht gehabt. Es erschien trotzdem unmöglich. Und verglichen mit den verstummten Würfeln erschien es auch nicht im mindesten wichtig. Was war passiert? Er hatte Tuon die Hand geschüttelt, das war alles. Die Hände geschüttelt und ein Abkommen besiegelt. Er hatte vor, sich daran zu halten, aber was hatten die Würfel ihm gesagt? Dass sie sich ebenfalls daran halten würde? Oder doch nicht? Soweit er wusste, heirateten seanchanische Adlige für gewöhnlich — zu was hatte sie ihn noch mal machen wollen, ach ja, zu einem Pokalträger —, vielleicht verheirateten sie sich ja ständig mit Pokalträgern.

»Da ist noch mehr, Mat«, sagte Thom und musterte Tuon nachdenklich und mit einer gewissen Überraschung. Mat wurde klar, dass der Gedanke, Suroth könnte sich umbringen, sie nicht besonders zu belasten schien. Vielleicht war sie ja so hart, wie Domon glaubte. Was hatten die verdammten Würfel ihm bloß sagen wollen? Das war es, was hier wichtig war. Dann sprach Thom weiter, und Mat vergaß Tuon und sogar die Würfel. »Tylin ist tot. Sie halten es geheim, weil sie Angst vor Unruhen haben, aber eine der Palastwachen, ein junger Leutnant, der nicht viel vertragen konnte, hat mir verraten, dass sie ihre Begräbnisfeier und Beslans Krönung für denselben Tag vorbereiten.«

»Wie?«, wollte Mat wissen. Sie war älter als er, aber nicht so viel älter! Beslans Krönung! Beim Licht! Wie würde Beslan damit zurechtkommen, wo er die Seanchaner doch hasste? Es war sein Plan gewesen, den Nachschub auf der Buchtstraße in Brand zu setzen.

Hätte Mat ihn nicht davon überzeugen können, dass ein Aufstand nur in einem Massaker geendet hätte, und zwar nicht unter den Seanchanern, hätte er auch das versucht.

Thom zögerte und fuhr sich mit einem Daumen über den Schnurrbart. Schließlich seufzte er. »Man hat sie in ihrem Schlafgemach gefunden, Mat, am Morgen nach unserem Aufbruch, noch immer an Händen und Füßen gefesselt. Ihr Kopf ... Man hat ihr den Kopf abgerissen.«

Mat war sich nicht bewusst, dass seine Knie unter ihm nachgegeben hatten, bis er sich mit dröhnendem Schädel auf dem Boden sitzend wiederfand. Er konnte ihre Stimme hören. Du wirst deinen Kopf verlieren, wenn du nicht vorsichtig bist, Schweinchen, und das würde mir nicht gefallen. Setalle beugte sich vor und fuhr ihm mitfühlend über die Wange.

»Die Windsucherinnen?«, fragte er tonlos. Er musste nicht mehr sagen.

»Diesem Leutnant zufolge haben die Seanchaner beschlossen, die Aes Sedai dafür verantwortlich zu machen, weil Tylin den Seanchanern die Treue geschworen hat. Das werden sie bei ihrer Begräbnisfeier verkünden.«

»Tylin stirbt in derselben Nacht, in der die Windsucherinnen entkommen, und die Seanchaner glauben, die Aes Sedai hätten sie getötet?« Er konnte es noch gar nicht fassen, dass Tylin tot war. Du wirst mein Abendessen sein, Schweinchen. »Das ergibt doch keinen Sinn, Thom.«

Thom zögerte und dachte mit gerunzelter Stirn nach.

»Es könnte teilweise politisch veranlasst sein, aber ich vermute, sie glauben das wirklich, Mat. Der Leutnant meinte, sie seien davon überzeugt, dass die Windsucherinnen es viel zu eilig hatten, um Umwege zu machen, und von den Domäne-Zwingern führt der schnellste Weg aus dem Palast nicht einmal annähernd an Tylins Gemächern vorbei.«

Mat grunzte. Er war davon überzeugt, dass das nicht die Wahrheit war. Und wenn doch, gab es nichts auf der Welt, was er daran ändern konnte.

»Die Mamth'damane hatten Grund, Tylin zu ermorden«, sagte Selucia plötzlich. »Sie mussten fürchten, dass sie anderen ein Beispiel gab. Welchen Grund hätten die Damane, von denen Ihr sprecht? Keinen. Die Hand der Gerechtigkeit benötigt Motive und Beweise, selbst für Damane und Da'covale.« Sie hörte sich an, als würde sie die Worte von einem Blatt ablesen. Und sie sah Tuon aus den Augenwinkeln an.

Mat blickte über die Schulter, aber wenn die zierliche Frau Selucia mit den Händen vorgesagt hatte, ruhten sie jetzt wieder in ihrem Schoß. Sie beobachtete ihn, einen neutralen Ausdruck auf dem Gesicht. »Hegtet Ihr so tiefe Gefühle für Tylin?«, fragte sie vorsichtig.

»Ja. Nein. Soll man mich doch zu Asche verbrennen, ich habe sie gemocht*.« Er wandte sich ab, fuhr sich mit den Fingern durchs Haar, schob die Mütze herunter. Noch nie in seinem Leben war er so froh gewesen, von einer Frau wegzukommen, aber das ...! »Und ich habe sie gefesselt und geknebelt zurückgelassen, sodass sie nicht einmal um Hilfe rufen konnte, dass sie eine leichte Beute für den Gholam war«, sagte er bitter. »Er war auf der Suche nach mir. Schüttle nicht den Kopf, Thom. Du weißt es genauso gut wie ich.«

»Was ist ein ... Gholam?«, fragte Tuon.

»Schattengezücht, meine Lady«, antwortete Thom. Er sah besorgt aus. Er machte sich nie schnell Sorgen, aber nur ein Narr würde sich wegen eines Gholams keine Sorgen machen. »Er sieht aus wie ein Mann, aber er kann durch ein Mausloch gehen oder unter einer Tür hindurchschlüpfen, und er ist stark genug, um ...« Er räusperte sich. »Nun, genug davon. Mat, sie hätte von hundert Wachen umgeben sein können, und es hätte diese Kreatur nicht aufgehalten.« Sie hätte keine hundert Wachen gebraucht, hätte sie sich nicht mit Mat Cauthon eingelassen.

»Ein Gholam«, murmelte Tuon trocken. Plötzlich klopfte sie Mat hart mit den Knöcheln auf den Kopf. Er starrte ungläubig über die Schulter. »Ich bin sehr erfreut, dass Ihr Loyalität zu Tylin zeigt, Spielzeug«, sagte sie streng, »aber ich werde Euch keinen abergläubischen Unsinn durchgehen lassen. Das lasse ich nicht zu. Es erweist Tylin keine Ehre.« Sollte er doch zu Asche verbrennen, Tylins Tod schien sie genauso wenig zu berühren wie die Frage, ob sich Suroth umbrachte oder nicht. Was für eine Frau würde er da bloß heiraten?

Als eine Faust an die Tür klopfte, machte er sich gar nicht erst die Mühe aufzustehen. Er fühlte sich taub bis ins Mark. Blaeric platzte ohne zu fragen in den Wagen, von seinem dunkelbraunen Umhang tropfte der Regen. Es war ein alter Umhang, an einigen Stellen durchgescheuert, aber es schien ihm egal zu sein, dass er den Regen nicht abhielt. Der Behüter ignorierte jeden außen Mat — oder fast jeden. Der Mann nahm sich doch tatsächlich einen Augenblick Zeit, Selucias Busen zu bewundern! »Joline will Euch sprechen, Cauthon«, sagte er und betrachtete sie immer noch. Beim Licht! Das war alles, was Mat noch zu einem perfekten Tag fehlte.

»Wer ist Joline?«, wollte Tuon wissen.

Mat beachtete sie nicht. »Bestellt Joline, dass ich sie besuche, wenn wir unterwegs sind, Blaeric.« Sich noch mehr Beschwerden der Aes Sedai anzuhören war das letzte, was er jetzt wollte.

»Sie will Euch jetzt sprechen, Cauthon.«

Seufzend stand Mat auf und hob seine Mütze vom Boden auf. Blaeric sah aus, als würde er ihn notfalls auch mitzerren. Bei seiner derzeitigen Stimmung würde er dem Mann vielleicht einen Dolch in den Leib rammen, falls er es versuchen sollte. Und er selbst würde ein gebrochenes Genick davontragen; ein Behüter ließ sich nicht so ohne weiteres einen Dolch zwischen die Rippen jagen. Mat war ziemlich davon überzeugt, das eine Mal gestorben zu sein, das ihm zustand, und das nicht in alten Erinnerungen. Jedenfalls überzeugt genug, keine Risiken einzugehen, die sich umgehen ließen.

»Wer ist Joline, Spielzeug?« Hätte er es nicht besser gewusst, hätte er gesagt, dass Tuon eifersüchtig klang.

»Eine verdammte Aes Sedai«, murmelte er, setzte die Mütze auf und erhielt eine kleine Freude an diesem Tag. Tuon blieb entsetzt der Mund offen stehen. Er schloss hinter sich die Tür, bevor sie ihre Sprache wiederfand. Eine sehr kleine Freude. Ein Schmetterling auf einem Misthaufen. Tylin war tot, und man würde die Windsucherinnen dafür verantwortlich machen, ganz egal, was Thom sagte. Und dann waren da noch Tuon und die verfluchten Würfel. Ein sehr kleiner Schmetterling auf dem Misthaufen.

Der Himmel war jetzt voller dunkler Wolken, und der Regen fiel stetig. Trotz der Mütze klebte er ihm das Haar an den Schädel und sickerte durch den Mantel, sobald er draußen war. Blaeric schien ihn nicht weiter wahrzunehmen. Mat blieb nichts anderes übrig, als die Schultern einzuziehen und durch die immer größer werdenden Pfützen zu stapfen. Bis er an seinem Wagen gewesen wäre, um einen Umhang zu holen, wäre er sowieso bis auf die Haut durchnässt gewesen. Außerdem passte das Wetter gut zu seiner Stimmung.

Zu seiner Überraschung war trotz des Regens in der kurzen Zeit seiner Abwesenheit im Wagen viel Arbeit erledigt worden. Soweit er sehen konnte, war die Zeltwand in beiden Richtungen verschwunden, und die Hälfte der Frachtwagen, die um Tuons Wagen gestanden hatten, fehlten ebenfalls. So wie die meisten der Tiere, die an den Pferdeleinen angezurrt gewesen waren. Ein großer Eisenkäfig mit einem schwarzmähnigen Löwen rollte von einem mühsam stampfenden Gespann gezogen der Straße entgegen, die Pferde störten sich anscheinend genauso wenig an dem scheinbar schlafenden Löwen hinter ihnen wie an dem Regenguss. Auch Artisten befanden sich bereits auf der Straße, wie sie die Reihenfolge ihres Aufbruchs festgelegt hatten, blieb ein Geheimnis. Die meisten Zelte waren verschwunden; an einer Stelle schienen drei hellbunt bemalte Wagen zu fehlen, an einer anderen jeder zweite Wagen, während anderswo die abgestellten Wagen noch immer eine solide Masse bildeten. Luca stolzierte in seinem hellroten Umhang die Straße entlang und blieb gelegentlich stehen, um einem Mann auf die Schulter zu schlagen oder einer Frau etwas zuzumurmeln, das sie lachen ließ. Wäre der Zirkus auseinandergebrochen, hätte Luca jene, die weg wollten, zu erwischen versucht. Er hielt den Zirkus nicht zuletzt mit Überredungskunst zusammen, und er würde niemals jemanden ziehen lassen, ohne sich vorher heiser zu reden bei dem Versuch, ihn davon abzubringen. Mat war klar, dass es ihn hätte freuen müssen, Luca noch immer hier zu sehen, obwohl ihm nie in den Sinn gekommen war, dass der Mann sich mit dem Gold hätte absetzen können, aber in diesem Augenblick bezweifelte er, dass es irgendetwas gab, das ihn sich anders als betäubt und wütend fühlen lassen würde.

Der Wagen, zu dem Blaeric ihn führte, war fast so groß wie Lucas Wagen, aber er war weiß gestrichen statt bemalt. Das Weiß war schon vor langer Zeit abgeblättert und verblichen, und der Regen wusch ihn dort, wo das Holz nicht schon bereits blank lag, etwas mehr dem Grau entgegen. Der Wagen gehörte einer Truppe von Spaßmachern, vier mürrischen Männern, die sich für die Zuschauer die Gesichter anmalten, sich mit Wasser überschütteten und mit aufgeblasenen Schweinsblasen aufeinander einschlugen, und die den Rest ihrer Zeit und ihres Geldes damit verbrachten, soviel Wein zu trinken, wie sie kaufen konnten. Mit dem, was Mat als Miete gezahlt hatte, konnten sie sich monatelang betrinken, und es hatte noch mehr gekostet, jemanden zu finden, der sie aufnahm.

Vier zottige, unauffällige Pferde waren bereits angeschirrt, und Fen Mizar, Jolines anderer Behüter, saß in einen grauen Umhang gehüllt und mit den Zügeln in der Hand oben auf dem Kutschbock. Seine schräg stehenden Augen betrachteten Mat, so wie ein Wolf einen unbotmäßigen Welpen betrachten mochte. Die Behüter waren von Anfang an gegen Mats Plan gewesen, davon überzeugt, dass sie, sobald sie außerhalb der Stadtmauern waren, die Schwestern in Sicherheit hätten bringen können. Vielleicht stimmte das sogar, aber die Seanchaner machten gnadenlos Jagd auf Frauen, welche die Macht lenken konnten — in den Tagen nach der Eroberung von Ebou Dar war der Zirkus viermal durchsucht worden —, und es hätte nur eines Versprechers bedurft, um sie alle im Kerker landen zu lassen. Wenn man Egeanin und Domon Glauben schenken wollte, konnten die Sucher einen Stein dazu bringen, ihnen alles zu erzählen, was er je gesehen hatte. Glücklicherweise waren nicht alle Schwestern so überzeugt wie Jolines Behüter.

Aes Sedai neigten zum Zaudern, wenn sie sich nicht darauf einigen konnten, was zu tun war.

Als Mat die Treppe am Wagenende erreichte, hielt Blaeric ihn zurück, indem er ihm die Hand auf die Brust legte. Das Gesicht des Behüters hätte geschnitzt sein können, der Regen, der ihm die Wangen hinunterlief, schien ihn nicht mehr zu stören, als es ein Stück Holz gestört hätte. »Fen und ich sind Euch dankbar, dass Ihr sie aus der Stadt geschafft habt, Cauthon, aber so kann es nicht weitergehen. Die Schwestern sind eng zusammengepfercht, da sie den Wagen mit den anderen Frauen teilen müssen, und sie verstehen sich nicht. Es wird Ärger geben, wenn wir keinen anderen Wagen finden können.«

»Geht es darum?«, fragte Mat ärgerlich und zog den Kragen enger. Nicht, dass es etwas nützte. Sein Rücken war bereits nass, und vorn sah es nicht viel besser aus. Wenn Joline ihn hergezerrt hatte, um wieder über die Unterbringung zu jammern ...

»Sie wird Euch sagen, worum es geht, Cauthon. Ver gesst nur nicht, was ich Euch gesagt habe.«

Mat erklomm leise vor sich hinmurmelnd die schmutzigen Stufen und trat ein; er knallte die Tür nicht hinter sich zu, aber es fehlte nicht viel daran.

Vom Aufbau ähnelte er Tuons Wagen, allerdings gab es hier vier Betten, von denen zwei über den anderen beiden flach an die Wand geklappt waren. Mat hatte keine Ahnung, wie die sechs Frauen die Betten verteilt hatten, aber er vermutete, dass es nicht friedlich abgelaufen war. Die Luft im Wagen knisterte förmlich. Auf jedem der unteren Betten saßen drei Frauen, von denen jede die Frauen auf der gegenüberliegenden Seite entweder beobachtete oder ignorierte. Joline war niemals als Damane gehalten worden, und sie verhielt sich, als würden die drei Sul'dam nicht existieren. Sie las in einem kleinen Buch und war trotz des abgetragenen blauen Kleids, das einst einer Löwendompteuse gehört hatte, jeden Zoll Aes Sedai, die personifizierte Arroganz. Aber die anderen beiden Schwestern wußten aus eigener Erfahrung, was es bedeutete, Damane zu sein. Edesina musterte die drei Sul'dam argwöhnisch, die Hand in der Nähe ihres Gürtelmessers, während Teslyns Augen in ständiger Bewegung waren und alles betrachteten außer den Sul'dam, und sie knetete unablässig den Stoff ihres dunkelbraunen Wollrocks.

Mat hatte nicht die geringste Ahnung, wie Egeanin die drei Sul'dam dazu überredet hatte, den Damane bei der Flucht zu helfen, aber obwohl sie mit Sicherheit genau wie sie von den Behörden gesucht wurden, hatten sie keineswegs ihre Einstellung Frauen gegenüber geändert, die die Macht lenken konnten. Bethamin war hochgewachsen und sah in der Tracht Ebou Dars mit dem tiefen Ausschnitt und den an der einen Seite hochgenähten Röcken, die verblichene rote Unterröcke entblößten, genauso dunkel wie Tuon aus; sie erinnerte an eine Mutter, die auf das unausweichliche schlechte Benehmen ihrer Kinder wartete. Die blonde Seta in hochgeschlossener grauer Wolle, die sie von Kopf bis Fuß bedeckte, schien gefährliche Hunde im Auge zu behalten, die früher oder später in einem Zwinger eingesperrt werden mussten. Renna, die vom Abhacken der Hände und Füße gesprochen hatte, tat ebenfalls so, als würde sie lesen, aber ihre täuschend sanften braunen Augen hoben sich ständig von dem schmalen Buch, um die Aes Sedai zu beäugen, und wenn sie es tat, lächelte sie bösartig. Mat hätte am liebsten geflucht, noch bevor eine von ihnen den Mund aufmachen konnte. Ein kluger Mann hielt sich fern, wenn Frauen Streit hatten, vor allem, wenn Aes Sedai darunter waren, aber so war es immer gewesen, wenn er diesen Wagen betreten hatte.

»Ich hoffe, es ist wichtig, Joline.« Er knöpfte den Mantel auf und versuchte, ein paar Regentropfen abzuschütteln. Vermutlich wäre es vernünftiger gewesen, ihn gleich auszuwringen. »Ich habe gerade erfahren, dass der Gholam Tylin in der Nacht unseres Aufbruchs ermordet hat, und ich bin nicht in Stimmung für Beschwerden.«

Joline markierte die Stelle sorgfältig mit einem verzierten Lesezeichen und faltete die Hände auf dem Buch, bevor sie sprach. Aes Sedai beeilten sich niemals; das erwarteten sie bloß von allen anderen. Ohne ihn hätte sie vermutlich mittlerweile selbst ein A'dam getragen, aber er hatte auch nie erlebt, dass Aes Sedai viel für Dankbarkeit übrig hatten. Sie ignorierte das, was er von Tylin erzählt hatte. »Blaeric hat mir gesagt, dass der Zirkus im Aufbruch begriffen ist«, sagte sie kühl, »aber Ihr müsst ihn aufhalten. Luca hört nur auf Euch.« Bei diesen Worten spannten sich ihre Lippen leicht an. Aes Sedai waren es auch nicht gewöhnt, dass man nicht auf sie hörte, und die Grünen waren nicht gut darin, ihre Unzufriedenheit zu verbergen. »Wir müssen den Plan, nach Lugard zu gehen, für den Augenblick aufgeben. Wir müssen die Fähre über den Hafen nehmen und nach Illian reisen.«

Das war der dümmste Vorschlag, den er je von ihr gehört hatte, obwohl sie es natürlich keineswegs als Vorschlag gemeint hatte; in dieser Beziehung war sie loch schlimmer als Egeanin. Da die Hälfte oder fast die Hälfte der Zirkuswagen bereits unterwegs war, mrde man den ganzen Tag benötigen, nur um alle zur Fährstelle zu bekommen, davon abgesehen, müssten sie die Stadt betreten. Die Reise nach Lugard brachte den Zirkus so schnell wie möglich von den Seanchanern weg, während sie entlang der Grenze zu Illian und möglicherweise sogar darüber hinaus überall Soldatenlager errichtet hatten. Egeanin zögerte, ihr Wissen preiszugeben, aber Thom hatte so seine Möglichkeiten, solche Dinge in Erfahrung zu bringen. Mat machte sich gar nicht erst die Mühe, mit den Zähnen zu knirschen. Er brauchte es nicht.

»Nein«, sagte Teslyn angespannt und mit starkem illianischem Akzent. Sie lehnte sich an Edesina vorbei und sah aus, als würde sie dreimal am Tag Felsen verspeisen, so hart war ihre Miene, aber die Wochen als Damane hatten ein nervöses Flackern in ihre Augen treten lassen. »Nein, Joline. Ich habe Euch gesagt, dass wir das nicht wagen können! Wir können es nicht wagen!«

»Beim Licht!«, fauchte Joline und warf ihr Buch zu Boden. »Reißt Euch endlich zusammen, Teslyn. Nur weil Ihr eine Zeitlang eine Gefangene gewesen seid, ist das noch lange kein Grund, sich derart gehenzulassen!«

»Sich gehenzulassen? Sich gehenzulassen? Lasst Euch den Kragen um den Hals legen, dann wollen wir doch mal sehen, ob Ihr noch immer davon redet, sich gehenzulassen!« Teslyns Hand fuhr zu ihrem Hals, als würde sie das A'dam noch immer dort spüren. »Helft mir, sie zu überzeugen, Edesina. Wenn wir sie nicht aufhalten, wird sie dafür sorgen, dass man uns wieder an die Leine legt!«

Edesina drückte sich an die Wand hinter dem Bett — sie war eine schlanke hübsche Frau, deren langes schwarzes Haar bis zu ihrer Taille reichte, die immer, wenn sich die Rote und die Grüne stritten — was häufig geschah — ganz stumm wurde —, aber Joline hatte nicht einmal einen Blick für sie übrig. »Ihr bittet eine Rebellin um Hilfe, Teslyn? Wir hätten sie für die Seanchaner zurücklassen sollen! Hört mir zu. Ihr könnt es genauso fühlen wie ich. Würdet Ihr wirklich eine größere Gefahr in Kauf nehmen, um einer geringeren aus dem Weg zu gehen?«

»Geringer!«, fauchte Teslyn. »Ihr habt doch keine Ahnung ...'.«

Renna streckte die Hand mit dem Buch aus und ließ es mit einem Knall auf dem Boden landen. »Wenn mein Lord uns einen Augenblick entschuldigen würde, wir haben unsere A'dam noch, und wir können diesen Mädchen in kurzer Zeit wieder beibringen, wie man sich benimmt.« Ihr Akzent hatte etwas Melodisches, aber das Lächeln auf ihren Lippen reichte nie bis zu ihren braunen Augen. »Es funktioniert nie, wenn man bei ihnen auf diese Weise die Zügel schleifen lässt.« Seta nickte grimmig und stand auf, als wollte sie die Peitsche holen.

»Ich glaube, mit den Adam sind wir durch«, sagte Bethamin und ignorierte die entsetzten Blicke der anderen beiden Sul'dam, »aber es gibt andere Methoden, diese Mädchen zur Vernunft zu bringen. Darf ich vorschlagen, dass mein Lord in einer Stunde wieder kommt? Dann werden sie Euch sagen, was Ihr wissen wollt, ohne das geringste Gezänk. Sobald sie wieder sitzen können.« Sie klang, als würde sie genau das meinen, was sie da sagte. Joline starrte die drei Sul'dam in ungläubigem Zorn an, aber Edesina saß stocksteif da und hielt mit entschlossenem Gesichtsausdruck ihr Messer, während Teslyn jetzt diejenige war, die sich mit verschränkten Händen gegen die Wand drückte.

»Das wird nicht nötig sein«, sagte Mat nach einem Augenblick. So befriedigend es auch sein mochte, Joline »zur Vernunft gebracht« zu sehen, Edesina würde vielleicht das Messer zücken, und das würde die Katze auf die Hühner loslassen, ganz egal, wie der Ausgang war. »Von welcher größeren Gefahr sprecht Ihr, Joline?

Welche Gefahr ist größer als jene, die im Moment von den Seanchanern ausgeht?«

Die Grüne war zu dem Schluss gekommen, dass ihr vernichtender Blick auf Bethamin keinen Eindruck machte und richtete ihn stattdessen auf Mat. Wäre sie keine Aes Sedai gewesen, hätte er gesagt, sie würde schmollen; Joline hasste es, etwas erklären zu müssen.

»Wenn Ihr es unbedingt wissen müsst, jemand lenkt die Macht.« Teslyn und Edesina nickten, die Rote Schwester zögernd, die Gelbe mit Nachdruck.

»Im Lager?«, sagte er alarmiert. Seine rechte Hand hob sich wie von allein, um den silbernen Fuchskopf unter dem Hemd zu berühren, aber das Medaillon war nicht kalt geworden.

»Weit entfernt«, erwiderte Joline noch immer unwillig. »Im Norden.«

»Viel weiter entfernt, als eine von uns Machtlenkerinnen wahrnehmen dürfte«, sagte Edesina. In ihrer Stimme lag ein Anflug von Furcht. »Die Menge an Saidar, die dort benutzt wird, muss unvorstellbar groß sein.« Ein scharfer Blick von Joline ließ sie verstummen, die sich dann wieder Mat zuwandte und ihn ansah, als müsste sie sich entscheiden, wie viel sie ihm verraten durfte.

»Auf diese Entfernung würden wir nicht einmal spüren können, wenn jede Schwester in der Weißen Burg die Macht lenkt«, fuhr sie fort. »Es müssen die Verlorenen sein, und was auch immer sie tun, wir wollen nicht näher heran, als unbedingt notwendig ist.«

Mat schwieg einen Augenblick lang, dann sagte er schließlich: »Wenn es weit weg ist, bleiben wir bei unserem Plan.«

Joline wollte das nicht akzeptieren, aber er hörte ihr nicht weiter zu. Wann immer er an Rand oder Perrin dachte, wirbelten in seinem Kopf Farben. Vermutlich hatte das damit zu tun, dass man ein Ta'veren war. Diesmal hatte er an keinen der beiden Freunde gedacht, aber die Farben waren plötzlich dagewesen, wie ein Fächer aus tausend Regenbogen. Diesmal hatten sie fast ein Bild geformt, einen vagen Eindruck, möglicherweise einen Mann und eine Frau, die einander gegenüber auf dem Boden saßen. Es war sofort wieder verschwunden gewesen, aber er wusste es so sicher, wie er seinen Namen kannte. Nicht die Verlorenen. Rand. Und eine Frage ging ihm nicht mehr aus dem Sinn: Was hatte Rand getan, als die Würfel verstummt waren?

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