2 Zwei Kapitäne

Etwa zwei Meilen nördlich der Stadt flatterte ein breites zwischen zwei Pfosten aufgespanntes blaues Spruchband im Wind; die hellroten Buchstaben, die groß genug waren, um auch noch von der hundert Schritte östlich gelegenen Straße gelesen werden zu können, kündigten Valan Lucas Großen Wanderzirkus und Prächtige Zurschaustellung von Mysterien und Wundern an. Und für jene, die nicht les en konnten, wies es auf einen Ort hin, an dem sich etwas Ungewöhnliches befand. Dies war der größte Wanderzirkus auf der ganzen Welt, zumindest behauptete dies das Banner. Luca behauptete vieles, aber in dem Punkt sagte er Mats Meinung zufolge die Wahrheit. Die zehn Fuß hohe und am Boden fest verankerte Segeltuchwand umgab die Fläche eines mittelgroßen Dorfes.

Die vorbeiströmenden Leute betrachteten das Banner neugierig, aber die Bauern und Kaufleute hatten ihre Arbeit vor sich und die Siedler ihre Zukunft, und keiner machte einen Abstecher. Dicke, an im Boden versenkten Pfosten befestigte Taue sollten die Menschenmengen zu dem breiten, torbogenförmigen Eingang direkt hinter dem Banner leiten, aber keiner wartete auf Einlass, nicht zu dieser Stunde. In letzter Zeit kamen nur wenige, egal zu welcher Stunde. Der Fall von Ebou Dar hatte nur ein leichtes Absinken der Zuschauerzahlen zur Folge gehabt, aber sobald die Leute erkannt hatten, dass die Stadt nicht geplündert werden würde und sie nicht um ihr Leben flüchten mussten, sondern dass die Wiederkehr die ganzen Schiffe und Siedler brachte, entschloss sich fast jeder, sein Geld für dringendere Bedürfnisse aufzuheben. Unter dem Banner standen zwei kräftige Männer in Umhängen, die aussahen, als kämen sie aus einer Kleidersammlung, und schoben dort ihren Dienst, der daraus bestand, jeden fernzuhalten, der sich ohne zu bezahlen umsehen wollte, aber selbst von denen gab es im Moment kaum jemanden. Die beiden kauerten auf den Fersen und würfelten, der eine hatte eine Hakennase und einen dicken Schnurrbart, dem anderen fehlte ein Auge.

Überraschenderweise schaute Petra Anhill, der Kraftprotz des Zirkus, den beiden Pferdeknechten beim Spiel zu, die Arme, die größer waren als die meisten Männerbeine, vor der Brust verschränkt. Er war kleiner als Mat, aber mindestens doppelt so breit, seine Schultern spannten den Stoff des schweren blauen Mantels, den seine Frau ihm wegen der Kälte aufgenötigt hatte. Petra schien völlig in das Würfelspiel versunken zu sei n, dabei spielte der Mann nicht, warf nicht einmal Kupfermünzen. Er und seine Frau Clarine, die Hunde dressierte, sparten jede Münze, die sie erübrigen konnten, und Petra brauchte keine große Aufmunterung, um lang und breit über den Gasthof zu sprechen, den sie eines Tages kaufen wollten. Noch überraschender war, dass Clarine an seiner Seite stand, vermummt in einen dunklen Umhang und anscheinend genauso in das Spiel vertieft wie er.

Petra schaute misstrauisch über die Schulter in Richtung Lager, als er Mat und Egeanin Arm in Arm näher kommen sah, was Mat die Stirn runzeln ließ. Leute, die über die Schulter blickten, das war nie gut. Aber Clarines ausdrucksloses braunes Gesicht verzog sich zu einem warmen Lächeln. Wie die meisten Frauen des Zirkus glaubte sie, dass er und Egeanin ein Liebespaar waren. Der Pferdeknecht mit der Hakennase, ein breitschultriger Tairener namens Col, grinste anzüglich, als er den bescheidenen Gewinn einstrich. Allein Domon konnte Egeanin etwas Attraktives abgewinnen, aber für ein paar Narren spendete Adel Schönheit. Oder das Geld sorgte dafür, und eine Adlige musste reich sein. Ein paar dachten, dass jede Adlige, die ihren Mann für jemanden wie Mat Cauthon aufgab, dazu bereit sein musste, auch ihn fallenzulassen und sich mit ihrem Geld dem nächsten zuzuwenden. Das war die Geschichte, die Mat und die anderen herumerzählt hatten, um zu erklären, warum sie sich vor den Seanchanern verbargen: ein bösartiger Ehemann und die Flucht von Liebenden. Jeder kannte solche Geschichten, von Märchenerzählern oder aus Büchern, wenn auch selten vom Leben selbst, aber alle hatten sie oft genug gehört, um sie zu akzeptieren. Col behielt jedoch seinen Kopf unten. Egeanin — Leilwin — hatte bereits bei einem Schwertjongleur, einem zu hübschen Burschen, der mit seiner Einladung zu einem Becher Wein in seinem Wagen zu forsch gewesen war, ihr Gürtelmesser gezückt, und keiner hegte auch nur den geringsten Zweifel, dass sie die Klinge benutzt hätte, wäre er auch nur einen Fingerbreit näher an sie herangekommen.

Als Mat den Kraftprotz erreichte, sagte Petra leise: »Seanchanische Soldaten sprechen gerade mit Luca, etwa zwanzig Mann. Das heißt, der Offizier spricht mit ihm.« Er klang nicht ängstlich, aber die Falten auf seiner Stirn kündeten von Besorgnis, und er legte seiner Frau eine beschützende Hand auf die Schulter. Clarines Lächeln verblasste, und sie hob eine Hand, um die seine zu berühren. Sie vertrauten Lucas Urteilsvermögen, aber sie kannten auch das Risiko, das sie eingingen. Oder glaubten es zu kennen. Das Risiko, an das sie glaubten, war schon schlimm genug.

»Was wollen sie?«, verlangte Egeanin zu wissen und löste sich von Mat, bevor er etwas sagen konnte.

»Haltet das für mich«, sagte Noal und drückte dem Einäugigen, der ungläubig zu ihm hochschaute, Korb und Angel in die Hand. Er richtete sich wieder auf und schob eine knotige Hand unter den Mantel, wo er zwei Messer mit langen Klingen versteckte. »Können wir es zu den Pferden schaffen?«, fragte er Petra. Der Kraftprotz musterte ihn zweifelnd. Mat war nicht der Einzige, der sich nicht ganz sicher war, ob Noal noch immer alle Sinne beisammen hatte.

»Sie scheinen nicht an einer Durchsuchung interessiert zu sein«, sagte Clarine hastig und deutete vor Egeanin einen Knicks an. Jeder sollte so tun, als gehörten Mat und die anderen zum Zirkus, aber nur wenigen gelang das bei Egeanin. »Die Offiziere sind seit einer guten halben Stunde in Lucas Wagen, aber die Soldaten waren die ganze Zeit bei ihren Pferden.«

»Ich glaube nicht, dass sie wegen Euch gekommen sind«, fügte Petra respektvoll hinzu. Ebenfalls an Egeanin gemünzt. Warum sollte er auch anders sein? Vermutlich übte er, Adlige in dem Gasthof willkommen zu heißen. »Wir wollten bloß nicht, dass Ihr überrascht seid oder Euch Sorgen macht, wenn Ihr sie seht. Ich bin sicher, dass Luca sie bald wieder los wird.« Trotz seines Tonfalls blieben die Sorgenfalten auf seiner Stirn. Die meisten Männer wurden wütend, wenn ihre Frauen wegliefen, und Adlige konnten andere die Macht ihres Zorns spüren lassen. Ein durchreisender Wanderzirkus bot da ein besonders leichtes Ziel ohne Komplikationen. »Ihr müsst Euch keine Sorgen machen, dass jemand etwas Falsches sagt, meine Lady.« Petra warf dem Pferdeknecht einen Blick zu. »Oder, Col?« Hakennase schüttelte den Kopf, den Blick auf die Würfel in seiner Hand gerichtet. Er war ein großer Mann, aber nicht so kräftig wie Petra, und der Kraftprotz konnte mit bloßen Händen Hufeisen verbiegen.

»Jedem gefällt dann und wann die Gelegenheit, einem Adligen auf die Stiefel zu spucken«, murmelte der Einäugige und schaute in den Korb mit den Fischen. Er war fast so groß und breitschultrig wie Col, aber sein Gesicht bestand fast nur aus Falten, und er verfügte über noch weniger Zähne als Noal. Mit einem Seitenblick auf Egeanin zog er den Kopf ein und fügte hinzu: »Entschuldigt, Lady. Außerdem kommen wir auf diese Weise alle an ein paar Münzen, und von denen hat es in letzter Zeit nicht viel gebeben. Stimmt's, Col? Wenn jemand den Mund aufmacht, dann nehmen uns die Seanchaner alle mit, hängen uns vielleicht auf wie diese Leute vom Meervolk.

Oder sie lassen uns die Kanäle auf der anderen Hafenseite säubern.« Pferdeknechte erledigten im Zirkus alle anfallenden Arbeiten, vom Säubern der Tierkäfige bis zum Auf- und Abbau der Segeltuchwand, aber er erschauderte, als wäre die Vorstellung, im Rahad versandete Kanäle freizugraben, viel schlimmer, als gehängt zu werden.

»Hab ich was davon gesagt, dass einer redet?«, protestierte Col und breitete die Hände aus. »Ich hab bloß gefragt, wie lange wir hier noch rumsitzen, das ist alles. Ich hab bloß gefragt, wann wir etwas von dem Geld zu sehen bekommen.«

»Wir bleiben so lange hier, wie ich es sage.« Es war schon erstaunlich, wie hart Egeanin diesen breiten Akzent klingen lassen konnte, ohne die Stimme zu heben, es klang wie eine Klinge, die aus der Scheide glitt. »Ihr seht euer Geld, wenn wir unser Ziel erreichen. Für die, die mir treu gedient haben, wird es etwas extra geben.

Und ein kaltes Grab für jeden, der an Verrat denkt.«

Col zog seinen flickenübersäten Umhang enger und weitete die Augen gerade genug, um erstaunt oder vielleicht auch unschuldig auszusehen, aber das war nur gespielt, als würde er hoffen, dass sie so nahe an ihn herankam, dass er ihren Geldbeutel stehlen konnte.

Mat knirschte mit den Zähnen. Zum einen war es sein Gold, das sie hier so großzügig verteilte. Sie hatte selbst welches, aber bei weitem nicht genug für das hier. Aber viel wichtiger war, dass sie erneut versuchte, die Zügel in die Hand zu nehmen. Beim Licht, ohne ihn würde sie noch immer in Ebou Dar hocken und Pläne schmieden, wie sie den Suchern entwischen konnte, oder bereits der Befragung unterzogen werden. Ohne ihn wäre sie nie auf die Idee gekommen, in der Nähe von Ebou Dar zu bleiben, um die Verfolger abzuschütteln, oder hätte einen Unterschlupf bei Lucas Zirkus gefunden. Aber warum waren die Soldaten hier? Schon beim Hauch eines Verdachts, Tuon könnte sich hier befinden, hätten die Seanchaner hundert, nein, tausend Mann geschickt. Wenn sie den Verdacht hatten, dass die Aes Sedai ... Nein, Petra und Clarine wußten nicht, dass sie dabei halfen, Aes Sedai zu verstecken, aber sie hätten Sul'dam und Damane erwähnt, und die Soldaten würden ohne sie keine Schwestern jagen. Er berührte den Fuchskopf durch den Mantel. Er trug ihn Tag und Nacht, und vielleicht würde er ihm eine kleine Warnung zukommen lassen.

Es wäre ihm nicht im Traum eingefallen, den Versuch zu unternehmen, zu den Pferden zu gelangen, und das nicht nur, weil Col und ein Dutzend weitere wie er zu den Seanchanern rennen würden, noch bevor er außer Sicht war. Soweit er wusste, hatten sie zwar nichts gegen ihn oder Egeanin — selbst Rumann, der Schwertjongleur, schien sich mit einer Verrenkungskünstlerin namens Adria zusammengetan zu haben —, aber manche Leute würden der Versuchung, etwas mehr Gold zu erhalten, gewiss nicht wiederstehen. Auf jeden Fall rollten keine warnenden Würfel in seinem Kopf. Und hinter dieser Segeltuchwand befanden sich Menschen, die er nicht zurücklassen konnte.

»Wenn sie nichts suchen, dann haben wir auch nichts zu befürchten«, sagte er zuversichtlich. »Aber danke für die Warnung, Petra. Ich habe Überraschungen noch nie ausstehen können.« Der Kraftmensch machte eine kleine Geste, als wollte er sagen, dass das doch nichts Besonderes war, aber Egeanin und Clarine sahen Mat an, als wären sie überrascht, ihn dort stehen zu sehen. Sogar Col und der Einäugige schauten ihn an. Es kostete ihn wieder einige Mühe, nicht mit den Zähnen zu knirschen. »Ich gehe hinüber zu Lucas Wagen und sehe, was ich herausfinde. Leilwin, du und Noal sucht Olver und bleibt bei ihm.« Sie mochten den Jungen, das tat jeder, und das würde sie ihm vom Leib halten. Lauschen konnte er besser allein. Und falls sie die Flucht ergreifen mussten, konnten Egeanin und Noal vielleicht wenigstens den Jungen rausschaffen. Das Licht gebe, dass es nicht dazu kommen würde. Das konnte nur in einer Katastrophe enden.

»Nun, ich schätze, niemand lebt ewig«, seufzte Noal und holte seine Angel und den Korb zurück. Sollte er doch zu Asche verbrennen, aber der Bursche konnte eine Ziege mit einer Kolik fröhlich erscheinen lassen! Petras Stirnfalten vertieften sich. Verheiratete Männer schienen sich immer Sorgen zu machen, ein weiterer Grund, warum Mat es nicht mit dem Heiraten eilig hatte. Als Noal hinter der Ecke der Segeltuchwand verschwand, sah der Einäugige dem Fisch bedauernd nach. Er schien auch zu den Burschen zu gehören, die anscheinend nicht alle beisammen hatten. Vermutlich hatte er irgendwo eine Frau.

Mat zog sich die Mütze bis fast zu den Augen hinunter. Noch immer keine Würfel. Er versuchte nicht daran zu denken, wie oft ihm ohne die Würfel bei — nahe der Schädel gespalten oder die Kehle durchgeschnitten worden war. Aber sicherlich wären sie da gewesen, hätte es eine Gefahr gegeben. Natürlich wä — ren sie das.

Er hatte noch keine drei Schritte in den Eingang hinein gemacht, als Egeanin ihn auch schon einholte und ihm den Arm um die Taille legte. Er blieb stehen und starrte sie unheilvoll an. Sie wiedersetzte sich seinen Befehlen wie eine Forelle dem Angelhaken, aber das hier ging über jede Sturheit hinaus. »Was soll das werden? Was ist, wenn dieser seanchanische Offizier dich erkennt, Leilwin?« Das erschien so wahrscheinlich, als hätte Tylin persönlich den Zirkus betreten, aber alles, was sie zum Verschwinden brachte, war einen Versuch wert.

»Wie stehen die Chancen, dass dieser Bursche jemand ist, den ich kenne?«, spottete sie. »Ich habe nicht ...« — ihr Gesicht verzog sich kurz — »... hatte nicht viele Freunde auf dieser Seite des Ozeans, und in Ebou Dar überhaupt keine.« Sie berührte das Ende der langen Perücke, das über ihrem Busen hing. »Außerdem würde mich meine eigene Mutter nicht erkennen.« Am Ende wurde ihre Stimme kalt.

Er würde sich noch ein Stück von einem Zahn absplittern, wenn er weiterhin die Zähne so hart zusammenbiss. Hier herumzustehen und sich mit ihr zu streiten würde schlimmer als sinnlos sein, aber ihm war noch immer der Blick im Gedächtnis, mit dem sie die seanchanischen Soldaten angestarrt hatte. »Sieh niemanden böse an«, warnte er sie. »Sieh am besten gar keinen an.«

»Ich bin eine zurückhaltende Ebou Dari.« Sie ließ es wie eine Herausforderung klingen. »Du kannst das Reden übernehmen.« Das klang jetzt wie eine Warnung. Beim Licht! Wenn eine Frau nicht dafür sorgte, dass alles reibungslos verlief, dann machte sie die Dinge richtig ungemütlich, und Egeanin sorgte niemals dafür, dass etwas reibungslos verlief. Er schwebte eindeutig in Gefahr, einen Zahn abzusplittern.

Jenseits des Eingangs schlängelte sich der Hauptweg des Zirkus an Wagen vorbei, die denen von Kessel — flickern ähnelten, Behausungen auf Rädern, deren Achsen vor die Kutschböcke hochgeklappt waren, und Zelte, die oftmals die Größe von kleinen Häusern hatten. Die meisten Wagen waren bunt gestrichen, rot, grün, gelb oder blau in allen Schattierungen, und viele Zelte waren genauso bunt, manche sogar gestreift. Hier und dort standen Podeste am Wegrand, auf denen die Artisten ihre Vorstellungen geben konnten, ihre bunten Fähnchen fingen langsam an, vergilbt auszusehen. Der Pfad, fast dreißig Schritte breit und von Tausenden von Füßen festgetreten, war wirklich eine Straße, eine von vielen, die durch den Zirkus führten. Der Wind riss dünne graue Rauchfa hnen von den Schornsteinen auf den Wagendächern und von einigen Zelten mit sich. Die meisten Artisten waren entweder beim Frühstück oder noch im Bett. Sie standen meist spät auf — eine Regel, die Mat gut fand —, und bei dieser Kälte würde keiner draußen um ein Lagerfeuer sitzen wollen. Die einzige Person, die er sah, war Aludra, deren hellblauer Wagen an der Ecke einer kleineren Seitenstraßen stand; sie hatte die Ärmel ihres dunkelgrünen Kleids bis zu den Ellbogen hinaufgeschoben und zerstampfte etwas in dem Mörser auf dem Tisch, der sich von der Wagenseite herunterklappen ließ.

Ganz in ihre Arbeit versunken, konnte die schlanke Tarabonerin Egeanin und Mat nicht sehen. Er konnte jedoch nicht widerstehen, sie zu betrachten. Mit ihren schmalen, bis zur Taille reichenden Zöpfen war Aludra möglicherweise das Exotischste von Lucas Wundern.

Er pries sie als Feuerwerkerin an, und im Gegensatz zu den anderen Artisten und Wundern was sie wirklich genau das, was Luca behauptete, obwohl er es vermutlieh nicht einmal selbst glaubte. Mat fragte sich, was sie da zerkleinerte. Und ob es explodieren würde. Sie hatte versprochen, ihm das Geheimnis des Feuerwerks zu verraten, wenn er ein Rätsel löste, aber bis jetzt hatte er nicht einmal den Ansatz zur Lösung gefunden. Aber das würde er. Egal, auf welche Weise.

Egeanin stieß ihm einen Finger in die Rippen. »Wir sollen ein Liebespaar darstellen, wie du mich ständig erinnerst«, knurrte sie. »Wer wird das glauben, wenn du diese Frau anstarrst, als hättest du Hunger?«

Mat grinste lüstern. »Ich sehe mir hübsche Frauen immer an, ist dir das noch nicht aufgefallen?« Sie richtete den Schal mit etwas mehr Nachdruck als gewöhnlich und grunzte verächtlich, und er war zufrieden. Gelegentlich war ihre prüde Ader ganz nützlich. Egeanin lief um ihr Leben, aber sie war noch immer eine Seanchanerin, und sie wusste bereits mehr über ihn, als ihm recht war. Er würde ihr nicht alle seine Geheimnisse anvertrauen. Nicht einmal jene, die er selbst noch nicht kannte.

Lucas Wagen stand in der Mitte des Lagers auf der besten Position, soweit wie nur möglich von den Tierkäfigen und Pferdehalteseilen entfernt, die sich entlang der Segeltuchwand zogen. Selbst im Vergleich zu den anderen war der Wagen grell, ein rotes und blaues Ding, das wie eine kostbare Lackarbeit glänzte, jede Oberfläche war mit goldenen Kometen und Sternen gesprenkelt. Die Mondphasen zogen sich in Silber bis kurz unter das Dach um ihn herum. Selbst der Zinnschornstein war mit roten und blauen Ringen bemalt.

Ein Kesselflicker wäre errötet. An der einen Seite des Wagens standen zwei Reihen seanchanische Soldaten mit aufgesetzten Helmen stramm neben ihren Pferden, die mit grünen Quasten ausgestatteten Lanzen in genau dem gleichen Winkel ausgerichtet. Einer der Männer hielt die Zügel eines zweiten Pferdes, ein prächtiger grauer Wallach mit starken Keulen und guten Fesseln. Neben Lucas Wagen erschien die blaue und grüne Rüstung des Soldaten farblos.

Es überraschte Mat nicht, dass sich noch andere für die Seanchaner interessierten. Bayle Domon hockte etwa dreißig Schritte von den Soldaten entfernt auf den Fersen, den Rücken gegen ein Rad des grünen Wagens gelehnt, der Petra und Clarine gehörte; eine dunkle Strickmütze verbarg seinen rasierten Schädel. Clarines Hunde lagen unter dem Wagen, ein kunterbuntes Rudel kleiner Tiere, die dicht aneinandergedrängt schliefen. Der kräftige Illianer tat so, als würde er schnitzen, aber bis jetzt hatte er nur einen kleinen Haufen Späne produziert. Mat wünschte sich, der Kerl würde sich entweder einen Schnurrbart wachsen lassen, um die Oberlippe zu verbergen, oder den Rest des Barts abrasieren. Jemand könnte einen Illianer mit Egeanin in Verbindung bringen. Blaeric Negina, ein großer Bursche, der an dem Wagen lehnte, als wollte er Domon Gesellschaft leisten, hatte nicht gezögert, seinen schienarischen Haarknoten zu entfernen, um bei den Seanchanern keine Aufmerksamkeit zu erregen, obwohl er ungefähr genauso oft mit der Hand über die nachwachsenden Stoppeln fuhr, wie Egeanin ihre Perücke überprüfte. Vielleicht hätte er eine Mütze aufsetzen sollen.

Beide Männer konnten in ihren dunklen Mänteln mit den ausgefransten Ärmeln und abgetragenen Stiefeln als Zirkusleute durchgehen, sie hätten durchaus Pferdeknechte sein können. Allerdings nicht bei anderen Zirkusleuten. Sie beobachteten die Seanchaner, taten aber so, als würden sie es nicht tun. Blaeric war darin glaubwürdiger, wie man es von einem Behüter auch erwarten konnte. Abgesehen von gelegentlichen Blicken zu den Seanchanern hinüber schien seine volle Aufmerksamkeit auf Domon gerichtet zu sein. Domon starrte die Seanchaner finster an, wenn er nicht düster auf das Stück Holz in seinen Händen blickte, als wollte er ihm befehlen, sich in eine schöne Schnitzarbeit zu verwandeln. Der Mann hatte sich seine Rolle als So'jhin zu sehr zu Herzen genommen.

Mat sann nach einer Möglichkeit, wie er ungesehen von den Soldaten zu Lucas Wagen schleichen und dort lauschen konnte, als sich die Tür am hinteren Ende des Wagens öffnete und ein Seanchaner mit hellem Haar die Stufen hinuntermarschierte und sich einen Helm mit einem schmalen blauen Federbusch aufstülpte, als die Stiefel den Boden berührten. Luca erschien hinter ihm, prächtig anzuschauen in seinem scharlachroten Mantel mit aufgestickten Sonnen, und verbeugte sich ausgiebig, während er dem Offizier folgte. Luca besaß mindestens zwei Dutzend Mäntel, von denen die meisten rot und noch geschmackloser als die Vorgänger waren. Es war gut, dass sein Wagen der größte des ganzen Zirkus war, sonst hätte er dafür keinen Platz gehabt.

Der Seanchaner ignorierte Luca und schwang sich in den Sattel, richtete das Schwert und bellte Befehle, die seine Männer anmutig aufsitzen und eine Zweierreihe bilden ließen, die im langsamen Schritt auf den Eingang zuhielt. Luca sah ihnen mit einem starren Lächeln auf dem Gesicht hinterher, bereit für eine weitere Verbeugung, falls jemand zurücksah.

Mat verharrte ein Stück hinter dem Straßenrand und ließ den Mund offen stehen, so als würde er staunend die vorbeireitenden Soldaten betrachten. Nicht, dass auch nur einer in seine Richtung blickte — der Offizier starrte stur geradeaus, und die Soldaten hinter ihm folgten seinem Beispiel —, aber niemand verschwendete je einen Gedanken an einen Bauerntrampel oder erinnerte sich an einen.

Zu seiner Überraschung musterte Egeanin den Boden vor ihren Zehen und umklammerte den Schalknoten unter dem Kinn, bis der letzte Reiter vorbei war. Als sie den Kopf hob, um ihnen hinterherzusehen, schürzte sie einen Augenblick lang die Lippen. »Ich glaube, diesen Jungen kenne ich«, sagte sie leise. »Ich habe ihn auf der Furchtlos nach Falme gebracht. Mitten auf der Reise starb sein Diener, und er dachte, er könnte sich einen aus meiner Mannschaft schnappen. Ich musste ihm den Kopf zurechtsetzen. Er hat ein solches Theater gemacht, man hätte meinen können, er würde zum Blut gehören.«

»Blut und verfluchte Asche«, zischte Mat. Wie viele Leute hatte sie vor den Kopf gestoßen, die sich ihr Gesicht eingeprägt hatten? So wie Egeanin nun einmal war, vermutlich Hunderte. Und er hatte sie lediglich mit einer Perücke und anderer Kleidung umherspazieren lassen! Hunderte? Vermutlich Tausende! Sie konnte einen Ziegel zur Weißglut bringen.

Aber was soll's, der Offizier war jetzt weg. Mat atmete langsam aus. Manchmal glaubte er, dass dies das Einzige war, das ihn davon abhielt, wie ein Säugling zu flennen. Er ging auf Luca zu, um herauszufinden, was die Soldaten gewollt hatten.

Domon und Blaeric erreichten Luca zur gleichen Zeit wie er und Egeanin, und Domons finsterer Blick wurde noch finsterer, als er auf Mats Arm um Egeanins Schulter starrte. Der Illianer verstand die Notwendigkeit des Schauspiels, oder behauptete zumindest, es zu verstehen, aber er schien der Meinung zu sein, dass man das ohne Händchenhalten machen konnte. Mat nahm den Arm von ihr — hier musste keiner schauspielern; Luca kannte die ganze Wahrheit —, und Egeanin fing ebenfalls an, auch von ihm abzurücken, aber nach einem Blick auf Domon fasste sie Mats Taille fester, und das, ohne auch nur die geringste Miene zu verziehen. Domon schaute weiter finster drein, aber nun richtete er den Blick zu Boden. Mat kam zu dem Schluss, dass er Seanchaner viel eher verstehen würde als die Frauen. Oder Illianer, was das betraf.

»Pferde«, knurrte Luca fast, bevor Mat stehenblieb. Seine düstere Miene schien sie alle mit einzuschließen, aber dann konzentrierte er seine ganze Wut auf Mat. Luca war etwas größer als Mat, und er richtete sich zu seiner vollen Größe auf, um auf ihn hinunterzustarren.

»Das wollte er. Ich habe ihm das Dokument gezeigt, das mich von der Pferdelotterie befreit, unterschrieben von Hochlady Suroth höchstpersönlich, aber war er beeindruckt? Ihm war es egal, dass ich eine hochrangige Seanchanerin gerettet habe.« Die Frau war alles andere als hochrangig gewesen, und er hatte sie auch weniger gerettet als ihr vielmehr die Möglichkeit gegeben, als Artistin mitzureisen, aber Luca übertrieb immer zu seinem Vorteil. »Ich weiß sowieso nicht, wie lange diese Ausnahmeverfügung noch gültig sein wird. Die Seanchaner suchen verzweifelt nach Pferden. Sie könnten sie jeden Tag beschlagnahmen!« Sein Gesicht nahm langsam die Farbe seines Mantels an, und er stieß mehrmals mit dem Finger nach Mat. »Ihr werdet noch dafür sorgen, dass man mir die Pferde wegnimmt! Wie soll ich meinen Zirkus ohne Pferde transportieren? Beantwortet mir das, wenn ihr könnt. Ich wollte aufbrechen, als ich diesen Wahnsinn im Hafen sah, bis Ihr mich gezwungen habt, es nicht zu tun. Ihr werdet es noch schaffen, dass sie mir den Kopf abschlagen! Ohne Euch könnte ich schon hundert Meilen weit weg sein, aber nein, Ihr musstet in der Nacht angeritten kommen und mich in einen Eurer verrückten Pläne verstricken!

Ich verdiene hier keine Münze! In den letzten drei Tagen waren nicht einmal genügend Zuschauer da, um das Tierfutter für einen Tag zu bezahlen! Für einen halben Tag! Ich hätte vor einem Monat aufbrechen sollen!

Noch früher! Das hätte ich tun sollen!«

Beinahe hätte Mat gelacht, als Luca die Worte ausgingen. Pferde. Das war alles; bloß Pferde. Davon abgesehen war die Annahme, die schwerbeladenen Zirkuswagen könnten in fünf Tagen hundert Meilen zurücklegen, genauso lächerlich wie Lucas Wagen. Der Mann hätte schon vor einem, nein, vor zwei Monaten aufbrechen können, aber er hatte aus Ebou Dar und seinen seanchanischen Eroberern jedes Kupferstück herauspressen wollen, das möglich war. Und ihn vor sechs Nächten zum Bleiben zu überreden war so einfach gewesen, wie aus dem Bett zu fallen.

Aber statt zu lachen, legte Mat ihm die Hand auf die Schulter. Der Bursche war so eitel wie ein Pfau, darüber hinaus auch gierig, aber es brachte nichts, ihn noch wütender zu machen, als er ohnehin schon war.

»Wärt Ihr in dieser Nacht aufgebrochen, glaubt Ihr nicht, dass sie misstrauisch geworden wären? Die Seanchaner hätten Euch die Wagen auseinandergerissen, bevor Ihr zwei Meilen weit gekommen wärt. Man könnte sagen, ich habe Euch das erspart.« Luca starrte ihn finster an. Manche Leute konnten einfach nicht weiter als bis zur eigenen Nasenspitze sehen. »Aber egal, Ihr könnt aufhören, Euch Sorgen zu machen. Sobald Thom aus der Stadt zurückgekehrt ist, können wir so viele Meilen hinter uns legen, wie Ihr wollt.«

Luca sprang so plötzlich hoch, dass Mat alarmiert zurücktrat, aber der Mann tanzte bloß in einem kleinen Kreis herum und lachte. Domon starrte ihn an, und selbst Blaeric riss die Augen auf. Manchmal schien Luca nichts weiter als ein alberner Narr zu sein.

Der Zirkusbesitzer hatte kaum mit seinem Tanz angefangen, als Egeanin Mat von sich stieß. »Sobald Merrilin zurückkehrt? Ich habe den Befehl gegeben, dass hier keiner geht!« Ihr Blick schwenkte zwischen ihm und Luca in kalter Wut hin und her. »Ich erwarte, dass meine Befehle befolgt werden!«

Luca blieb wie angewurzelt stehen und musterte sie aus den Augenwinkeln, dann machte er eine Verbeugung, die so anmutig war, dass man förmlich den nicht vorhandenen, ausgebreiteten Umhang sehen konnte. Man konnte förmlich die Stickerei auf dem Umhang sehen! Luca glaubte allen Ernstes, mit Frauen umgehen zu können. »Ihr befehlt, süße Lady, und ich springe, um zu gehorchen.« Er richtete sich wieder auf und zuckte entschuldigend mit den Schultern. »Aber Meister Cauthon hat Gold, und ich fürchte, Gold ist ein gewichtigeres Argument, um mir zu befehlen.« Mats mit Goldstücken gefüllte Truhe in seinem Wagen war der einzige Zwang gewesen, den man gebraucht hatte, um ihn zu überzeugen. Vielleicht hatte es geholfen, dass Mat Ta'veren war, aber für genug Gold würde Valan Luca dabei helfen, den Dunklen König zu entführen.

Egeanin holte zischend Luft, bereit, Luca weiter anzubrüllen, aber er wandte ihr den Rücken zu und tänzelte die Stufen zu seinem Wagen hinauf. Dabei rief er: »Latelle! Latelle! Wir müssen sofort jeden wecken! Wir brechen endlich auf, in dem Augenblick, in dem Merrilin zurückkehrt! Das Licht sei gesegnet!«

Einen Augenblick später war er wieder da und kam die kurze Treppe hinuntergeschossen, gefolgt von seiner Frau, die einen schwarzen, mit funkelndem Flitter bestickten Samtumhang um sich zog. Sie hatte ein ernstes Gesicht, und sie rümpfte die Nase, als würde Mat streng riechen. Egeanin warf sie einen Blick zu, der ihre dressierten Bären vermutlich die Bäume hochgejagt hätte. Latelle missfiel die Vorstellung, dass eine Frau ihrem Mann fortlief, obwohl sie wusste, dass es eine Lüge war. Glücklicherweise schien sie Luca aus unerfindlichen Gründen anzubeten, und sie liebte das Gold fast genauso sehr wie er. Luca rannte zum nächsten Wagen und trommelte gegen die Tür, und Latelle tat das gleiche beim übernächsten.

Mat blieb nicht stehen, um zuzusehen, sondern eilte in eine der Seitenstraßen. Mehr eine Gasse, die von der Hauptstraße abzweigte, wand sie sich um die gleiche Art von Wagen und Zelten, die alle hermetisch gegen die Kälte verschlossen waren und aus deren eisernen Schornsteinen Rauch emporstieg. Hier gab es keine Plattformen für Artisten, sondern Wäscheleinen zwischen den Wagen und hier und da auf dem Boden liegendes Holzspielzeug. Diese Straße war nur zum Leben gedacht, ihre Enge sollte Fremde abschrecken.

Er bewegte sich trotz seiner schmerzenden Hüfte schnell, aber er hatte noch keine zehn Schritte zurückgelegt, als Egeanin und Domon ihn eingeholt hatten. Blaeric war verschwunden, vermutlich um die Schwestern zu benachrichtigen, dass sie noch immer in Sicherheit waren und endlich aufbrechen konnten. Die Aes Sedai, die sich als Dienerinnen verkleidet hatten, die krank vor Sorge waren, dass der Ehemann ihrer Herrin sie finden würde, hatten genug davon, in ihrem Wagen eingesperrt zu sein, davon abgesehen reichte es ihnen, ihn auch noch mit den Sul'dam teilen zu müssen. Mat hatte sie dazu gebracht, sich den Wagen zu teilen, damit die Aes Sedai die Sul'dam unter Kontrolle halten konnten, während die Sul'dam ihm die Aes Sedai vom Hals hielten. Dennoch war Mat froh, dass Blaeric ihm abgenommen hatte, diesen Wagen noch einmal aufsuchen zu müssen. Seit ihrer Flucht aus der Stadt hatte jede der Schwestern ihn vier oder fünf Mal am Tag zu sich befohlen, und er ging, wenn es sich nicht vermeiden ließ, aber es war niemals eine erfreuliche Erfahrung.

Diesmal legte Egeanin nicht den Arm um ihn. Sie ging an seiner Seite, schaute stur geradeaus und ließ es ausnahmsweise einmal sein, die Perücke zu überprüfen. Domon stapfte wie ein Bär hinter ihnen her und murmelte dabei etwas Unverständliches vor sich hin.

Die Mütze verriet die Tatsache, dass sein Bart abrupt auf der halben Höhe eines jeden Ohrs aufhörte und darüber nur Stoppeln zu sehen waren. Es ließ ihn ... irgendwie unfertig aussehen.

»Zwei Kapitäne auf einem Schiff steuern es nur in die Katastrophe«, sagte Egeanin in überbetrieben geduldigem Tonfall. Ihr verständnisvolles Lächeln sah aus, als würde es ihr Schmerzen bereiten.

»Wir sind auf keinem Schiff«, erwiderte Mat.

»Das Prinzip ist das gleiche, Cauthon! Ihr seid ein Bauer. Ich weiß, dass Ihr in kritischen Situationen ein guter Mann seid.« Egeanin warf Domon über die Schulter einen finsteren Blick zu. Er hatte sie und Mat zusammengebracht, damals, als sie noch glaubte, einen Mann einzustellen. »Aber diese Situation braucht Urteilsvermögen und Erfahrung. Wir segeln in gefährlichen Gewässern, und Ihr habt nicht die geringste Ahnung vom Befehlen.«

»Mehr, als Ihr vielleicht glauben würdet«, sagte er trocken. Er hätte eine Liste der Schlachten hervorbeten können, in denen er das Kommando geführt hatte, aber die meisten würden nur einem Historiker etwas sagen, und vielleicht nicht einmal dem. Davon abgesehen würde es ihm ohnehin niemand glauben. Er hätte es gewiss nicht getan, hätte ein anderer etwas Vergleichbares behauptet. »Solltet Ihr und Domon euch nicht fertig machen? Ihr wollt doch nicht alles zurücklassen.« Ihr ganzer Besitz war bereits in dem Wagen verstaut, den sie und Mat sich mit Domon teilten wahrlich kein bequemes Arrangement —, aber er beschleunigte den Schritt in der Hoffnung, dass sie den Wink verstand. Außerdem sah er sein Ziel vor sich.

Das hellblaue Zelt, das sich zwischen einen giftgelben und einen smaragdgrünen Wagen drängte, war kaum groß genug für drei Pritschen, aber für jeden, den er aus Ebou Dar herausgeschafft hatte, eine Unterkunft zu besorgen, hatte Bestechungsgelder erfordert, die Leute umziehen ließen, und noch mehr Geld, damit andere sie einziehen ließen. Er hatte nur mieten können, was ihm die Besitzer bereitwillig überlassen hatten. Mit Preisen, die eines guten Gasthofs würdig gewesen wären. Juilin, ein dunkler stämmiger Mann mit kurzem schwarzem Haar, saß mit untergeschlagenen Beinen zusammen mit Olver, dem dünnen kleinen Jungen, der für seine zehn Jahre — zumindest behauptete er, so alt zu sein — recht klein geraten und nicht mehr ganz so dünn war wie zu der Zeit, als Mat ihn kennengelernt hatte, vor dem Zelt auf dem Boden. Beide trugen trotz des Winds keine Mäntel und spielten eine Partie Schlangen und Füchse auf dem Spielbrett, das der verstorbene Vater des Jungen für ihn auf ein rotes Stück Tuch gemalt hatte. Olver warf die Würfel, zählte sorgfältig die Augen und überlegte seinen Zug auf dem Spinnennetz aus schwarzen Linien und Pfeilen. Der tairenische Diebefänger schenkte dem Spiel weniger Aufmerksamkeit. Bei Mats Anblick richtete er sich auf.

Plötzlich kam Noal um das Zelt herumgeschossen und atmete so schwer, als wäre er gerannt. Juilin schaute überrascht zu dem Alten hoch, und Mat runzelte die Stirn. Er hatte Noal befohlen, sich unverzüglich hierherzubegeben. Wo war er stattdessen gewesen? Noal blickte ihn erwartungsvoll an, ohne jedes schlechte Gewissen oder Verlegenheit, begierig zu hören, was Mat zu sagen hatte.

»Weißt du über die Seanchaner Bescheid?«, fragte Juilin und richtete ebenfalls die Aufmerksamkeit auf Mat.

Im Zelteingang bewegte sich ein Schatten, und eine dunkelhaarige Frau, die in einen alten grauen Umhang gewickelt auf dem Ende einer der Pritschen saß, beugte sich vor, um Juilin die Hand auf den Arm zu legen.

Und Mat einen misstrauischen Blick zuzuwerfen. Thera war hübsch, wenn einem ein Mund gefiel, der ständig zu schmollen schien, was bei Juilin wohl der Fall war, wenn man sah, wie er sie beruhigend anschaute und ihre Hand tätschelte. Sie war außerdem Amathera Aelfdene Casmir Lounault, Panarchin von Tarabon und so etwas ähnliches wie eine Königin. Zumindest war sie das einst gewesen. Juilin hatte das gewusst, Thom auch, aber keiner von ihnen hatte daran gedacht, Mat davon in Kenntnis zu setzen, jedenfalls nicht, bevor sie den Zirkus erreicht hatten. Bedachte man alles andere, so spielte das wohl kaum noch eine Rolle. Sie reagierte schneller auf Thera als auf Amathera, stellte abgesehen von Juilins Zeit keine Ansprüche, und es erschien unwahrscheinlich, dass jemand sie hier erkennen würde. Auf jeden Fall hoffte Mat, dass sie für ihre Rettung mehr als nur Dankbarkeit empfand, denn Juilin empfand mehr für sie. Wer konnte schon ausschließen, dass eine entthronte Panarchin sich in einen Diebfänger verlieben konnte? Seltsamere Dinge waren geschehen. Auch wenn sich Mat nicht sicher war, aus dem Stegreif eins benennen zu können.

»Sie wollten bloß die Freistellungsurkunde für Lucas Pferde sehen«, sagte er, und Juilin nickte und entspannte sich sichtlich.

»Gut, dass sie nicht die Pferdeseile gezählt haben.« Die Urkunde listete die genaue Zahl an Pferden auf, die Luca besitzen durfte. Die Seanchaner konnten großzügig mit ihren Belohnungen sein, aber bei ihrem Bedarf an Reittieren und Gespannen würden sie niemandem eine Lizenz zum Pferdehandel überlassen.

»Bestenfalls hätten sie die Überzähligen mitgenommen. Schlimmstenfalls ...« Der Diebefänger zuckte mit den Schultern. Noch eine fröhliche Seele.

Plötzlich keuchte Thera auf, zog den Umhang enger und zuckte in die Tiefen des Zelts zurück. Juilin schaute an Mat vorbei, Härte trat in seinen Blick, und der Tairener konnte es mit Behütern aufnehmen, wenn es um Dinge wie Härte ging. Egeanin schien Andeutungen nicht zu verstehen, und sie starrte das Zelt finster an. Domon stand mit verschränkten Armen neben ihr und kaute gedankenverloren oder in erzwungener Geduld an seiner Unterlippe.

»Baut Euer Zelt ab, Sandar«, befahl Egeanin. »Der Wanderzirkus bricht auf, sobald Merrilin zurückkehrt.« Ihr Kinn spannte sich, und der Blick, den sie Mat zuwarf, war nicht besonders giftig. Jedenfalls hielt es sich in Grenzen. »Kümmert Euch darum, dass Eure ... Frau keinen Ärger macht.« Thera war zuletzt Dienerin gewesen, Da'covale, Besitz der Hochlady Suroth. Bis Juilin sie gestohlen hatte. Für Egeanin war der Diebstahl einer Da'covale beinahe so schlimm wie die Befreiung einer Damane.

»Darf ich Wind reiten?«, rief Olver aus und sprang auf die Füße. »Darf ich, Mat? Darf ich, Leilwin?« Egeanin lächelte ihn tatsächlich an. Mat hatte noch nie zuvor gesehen, dass sie jemanden anlächelte, nicht mal Domon.

»Noch nicht«, sagte Mat. Nicht, bis sie so weit von Ebou Dar weg waren, dass sich niemand mehr an den Grauen erinnerte, der mit einem kleinen Jungen auf dem Rücken Rennen gewann. »Vielleicht in ein paar Tagen. Juilin, sagst du den anderen Bescheid? Blaeric weiß es bereits, also kümmert sich schon jemand um die Schwestern.«

Juilin vergeudete keine Zeit, wenn man davon absah, dass er im Zelt verschwand, um Thera zu beruhigen. Sie schien oft beruhigt werden zu müssen. Als er herauskam, trug er einen abgetragenen tairenischen Mantel; er befahl Olver, das Spiel wegzuräumen und Thera bis zu seiner Rückkehr beim Packen zu helfen, dann set zte er den konischen roten Hut auf und ging los. Er ignorierte Egeanin. Sie hielt ihn für einen Dieb, was für einen Diebefänger besonders verwerflich war, und der Tairener hatte ebenfalls nichts für sie übrig.

Mat wollte Noal fragen, wo er gewesen war, aber der Alte eilte flink hinter Juilin her und rief über die Schulter, er würde dabei helfen, die anderen über den bevorstehenden Aufbruch zu informieren. Nun, zwei konnten die Nachricht schneller verbreiten als einer — Vanin und die vier überlebenden Rotwaffen teilten sich ein zu enges Zelt an der Seite des Zirkus, während Noal sich auf der anderen Seite eins mit Thom und den beiden Dienern Lopin und Nerim teilte —, und die Frage konnte warten. Vermutlich hatte er bloß seinen kostbaren Fisch irgendwo in Sicherheit gebracht. Auf jeden Fall erschien die Frage plötzlich unwichtig.

Das Lager hallte wider vom Lärm der Leute, die nach Pferdeknechten riefen, um ihre Gespanne zu bringen, und anderen, die lauthals wissen wollten, was denn los sei. Adria, eine schlanke Frau, die sich in einen grünen Morgenrock mit Blumenmustern hüllte, kam mit nackten Füßen angelaufen und verschwand in dem gelben Wagen, wo die anderen vier Verrenkungskünstler hausten. Jemand in dem grünen Wagen brüllte heiser, hier gäbe es Leute, die schlafen wollten. Ein paar voll Artistenkinder, von denen einige schon selbst Artisten waren, rannten vorbei, und Olver schaute vom Zusammenpacken des Spiels auf. Das war sein kostbarster Besitz, und wenn es ihn nicht gegeben hätte, wäre er ihnen offensichtlich gern nachgelaufen. Es würde noch einige Zeit dauern, bis der Wanderzirkus zur Reise bereit war, aber nicht das ließ Mat stöhnen.

Er hatte gerade gehört, dass die verdammten Würfel wieder in seinem Kopf rollten.

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