Balwin Norry, der Erste Schreiber, und Reene Harfor, die Haushofmeisterin, traten gemeinsam ein; er machte eine ruckartige, ungelenke Verbeugung und sie einen anmutigen Hofknicks, der weder zu niedrig noch zu oberflächlich war. Sie hätten nicht unterschiedlicher sein können. Frau Harfor hatte ein rundliches Gesicht und wirkte majestätisch, ihr Haar war oben auf dem Kopf zu einem makellosen Knoten zusammengefasst. Meister Norry war hoch gewachsen und so schlank wie ein Stelzvogel, und das wenige Haar, das ihm noch geblieben war, stand hinter seinen Ohren wie ein Büschel weißer Federn ab. Jeder von ihnen trug eine reich verzierte, mit Papieren voll gestopfte Ledermappe, aber sie hielt sie an der Seite, so als wollte sie ihren scharlachroten Wappenrock nicht verknittern, der nie die geringste Falte aufwies, welche Stunde auch geschlagen hatte oder wie lange sie auf den Beinen gewesen war, während er die Mappe an die Brust klammerte, als wollte er alte Tintenflecken verbergen, von denen einige seinen Wappenrock sprenkelten, der große Fleck eingeschlossen, der die Schwanzspitze des Weißen Löwen in einem schwarzen Schöpf enden ließ. Nachdem sie die Höflichkeiten hinter sich gebracht hatten, nahmen sie sofort etwas Distanz zueinander ein, und jeder hielt den anderen verstohlen im Auge, Sobald sich die Tür hinter Rasoria geschlossen hatte, flammte um Aviendha der Schein Saidars auf, und sie webte ein Schutzgewebe gegen mögliche Lauscher, die an den Wänden klebten. Was nun zwischen ihnen gesagt werden würde, war so sicher, wie es möglich war, und Aviendha würde wissen, wenn jemand versuchte, mittels der Macht zu lauschen. Sie war sehr gut in dieser Art von Gewebe.
»Frau Harfor«, sagte Elayne, »Ihr fangt an.« Natürlich bot sie weder Wein noch einen Stuhl an. Meister Norry wäre über eine derartige Entgleisung bei der Etikette bis zu den Zehennägeln entsetzt und Frau Harfor vermutlich beleidigt gewesen. Tatsächlich zuckte Norry leicht zusammen und warf Reene einen Seitenblick zu, und ihr Mund wurde zu einem schmalen Strich. Selbst nach einer Woche gemeinsamer Berichterstattung war ihr Widerwillen, dass der andere Zeuge ihrer Vorträge wurde, deutlich zu spüren. Sie hüteten ihre Lehen eifersüchtig, und das umso mehr, seit die Haushofmeisterin auf ein Gebiet vorgedrungen war, das man einst als zu Meister Norrys Verantwortung gehörend hätte betrachten können. Natürlich war die Leitung des Königlichen Palasts immer die Aufgabe der Haushofmeisterin gewesen, und man hätte sagen können, dass ihre neuen Pflichten lediglich eine Erweiterung dessen darstellten. Natürlich hätte Halwin Norry das keineswegs so ausgedrückt. Die brennenden Scheite im Kamin setzten sich mit einem lauten Krachen, was eine Funkenflut den Schornstein hochschickte.
»Ich bin davon überzeugt, dass der zweite Bibliothekar ein ... Spion ist, meine Lady«, sagte Frau Harfor schließlich und ignorierte Norry, so als wollte sie ihn verschwinden lassen. Sie hatte sich dagegen gesträubt, auch nur eine Person wissen zu lassen, dass sie auf der Jagd nach Spionen im Palast war, aber dass es der Erste Schreiber wusste, schien ihr am meisten zu schaffen zu machen. Die einzige Autorität, die er, wenn überhaupt, über sie hatte, bestand darin, die Zahlungen für den Palast auszuführen, und er stellte niemals eine Ausgabe in Frage, aber selbst schon diese Kleinigkeit war mehr, als sie wünschte. »Alle drei oder vier Tage besucht Meister Harnder eine Schenke namens Ring und Pfeil, angeblich wegen des Ales, das die Wirtin, eine gewisse Mulis Fendry, macht, aber Frau Fendry hält auch Tauben, und bei jedem von Meister Harnders Besuchen schickt sie eine Taube nach Norden. Gestern statteten drei der Aes Sedai aus dem Silbernen Schwan dem Ring und Pfeil einen Besuch ab, obwohl es sich hier um ein wesentlich niedrigeres Publikum als im Schwan handelt. Sie kamen und gingen mit hochgeschlagenen Kapuzen und setzten sich über eine Stunde mit Frau Fendry unter vier Augen zusammen. Alle drei gehören zur Braunen Ajah. Ich fürchte, das ist ein Hinweis auf Meister Harnders Auftraggeber.«
»Frisöre, Köche, Diener, der Meisterkunsttischler, nicht weniger als fünf von Meister Norrys Schreibern, und jetzt einer der Bibliothekare.« Dyelin lehnte sich in ihrem Stuhl zurück, schlug die Beine übereinander und schaute düster drein. »Gibt es irgendjemanden, der kein Spion ist, Frau Harfor?« Norry streckte unbehaglich den Hals; er empfand die Missetaten seiner Schreiber als persönliche Beleidigung.
»Ich habe die Hoffnung, dass ich mich dem Grund dieses Fasses nähere, meine Lady«, sagte Frau Harfor selbstzufrieden. Sie konnten weder Spione noch die Hohen Herrinnen mächtiger Häuser aus der Ruhe bringen. Spione waren Ungeziefer, von dem sie den Palast so sicher befreien wollte, wie sie ihn von Flöhen und Ratten frei hielt — obwohl sie bei den Ratten in letzter Zeit Hilfe der Aes Sedai annehmen musste —, während mächtige Adlige wie Regen oder Schnee waren, ein Faktum der Natur, das man ertragen musste, bis es weg war, aber nichts, weswegen man sich aufregen musste. »Es gibt nur eine begrenzte Anzahl von Leuten, die man kaufen kann, und nur eine bestimmte Anzahl kann es sich überhaupt leisten, sie zu kaufen oder es zumindest zu versuchen.«
Elayne bemühte sich, Meister Harnder ins Gedächtnis zurückzurufen, aber da kam nur das unbestimmte Bild eines dicklichen Manns mit beginnender Glatze, der dauernd blinz elte. Er hatte ihrer Mutter gedient und davor schon Königin Mordrellen, wenn sie sich richtig erinnerte. Niemand schien die Tatsache für bemerkenswert zu halten, dass er anscheinend auch der Braunen Ajah diente. Jeder Herrscherpalast zwischen dem Rückgrat der Welt und dem Aryth-Meer hatte ein paar Augen-und-Ohren der Weißen Burg. Jeder Herrscher mit einem Funken Verstand ging davon aus. Zweifellos würden sogar bald die Seanchaner unter dem Blick der Burg leben, wenn sie es nicht schon bereits taten. Reene hatte mehrere Spione der Roten Ajah entdeckt, sicherlich Überbleibsel von Elaidas Zeit in Caemlyn, aber dieser Bibliothekar war der Erste, der einer anderen Ajah diente. Elaida hätte es während ihrer Zeit als Beraterin der Königin nicht gefallen, dass andere Ajahs über die Geschehnisse im Palast informiert gewesen wären.
»Eine Schande, dass wir keine falschen Geschichten für die Braune Ajah haben«, sagte Elayne leichthin. Es war wirklich bedauerlich, dass sie und die Roten über die Kusinen Bescheid wussten. Sie wussten zumindest, dass sich im Palast eine große Zahl von Frauen aufhielt, die die Macht lenken konnten, und sie würden nicht lange brauchen, um herauszufinden, um wen es sich dabei handelte. Das würde noch einigen Kummer verursachen, aber der lag in der Zukunft. Plane immer voraus, pflegte Lini zu sagen, aber mach dir wegen dem nächsten Jahr zu viele Sorgen, und du kannst morgen stolpern. »Behaltet Meister Harnder im Auge und versucht herauszufinden, wer seine Freunde sind.
Das muss im Augenblick reichen.« Manche Spione verließen sich auf ihre Ohren, entweder um den Klatsch aufzuschnappen oder an Türen zu lauschen, andere schmierten Zungen mit ein paar Pokalen Wein. Der erste Schritt, gegen einen Spion vorzugehen, bestand darin herauszufinden, wie er das erfuhr, was er ver — kaufte.
Aviendha schnaubte laut, raffte die Röcke und wollte sich auf den Teppich setzen, bevor ihr wieder einfiel, was sie da trug. Mit einem warnenden Blick in Dyelins Richtung hockte sie sich steif auf eine Stuhlkante und bot das Bild einer Hofdame mit blitzenden Augen, wenn man davon absah, dass eine Hofdame nicht die Schneide ihres Gürtelmessers mit dem Daumen geprüft hätte. Hätte Aviendha bestimmen können, hätte sie jedem Spion in dem Augenblick die Kehle durchgeschnitten, in dem man sie für das Messer straffen konnte. Ihrer Ansicht nach war Spionage ein widerwärtiges Geschäft, ganz egal, wie oft Elayne erklärte, dass jeder entlarvte Spion ein Werkzeug war, das man dazu benutzen konnte, ihre Feinde das glauben zu lassen, was sie wollte.
Nicht, dass jeder Spion notwendigerweise für einen Feind arbeitete. Die meisten, die die Haushofmeisterin entlarvt hatte, bekamen aus mehr als nur einer Quelle Geld, und unter denen, die sie identifiziert hatte, befanden sich auch König Roedran von Murandy, diverse tairenische Hochlords und Ladys, eine Hand voll cairhienischer Adlige und eine erkleckliche Zahl von Kaufleuten. Viele Leute waren daran interessiert, was in Caemlyn passierte, ob nun wegen der Auswirkungen auf den Handel oder aus anderen Gründen. Manchmal hatte es den Anschein, als würde jeder jeden ausspionieren.
»Frau Harfor«, sagte sie, »Ihr habt noch keine Augen-und-Ohren der Schwarzen Burg entdeckt.«
Dyelin fröstelte, wie die meisten Leute, vor denen man die Schwarze Burg erwähnte, und nahm einen tiefen Schluck, aber Reene verzog nur leicht das Gesicht. Sie hatte sich entschieden, die Tatsache zu ignorieren, dass es sich hier um Männer handelte, die die Macht lenken konnten; sie konnte ja doch nichts daran ändern. Für sie war die Schwarze Burg ein ... Ärgernis.
»Sie hatten nicht genug Zeit, meine Lady. Gebt ihnen ein Jahr, und Ihr werdet Diener und Bibliothekare finden, die auch ihre Münzen annehmen.«
»Vermutlich.« Ein scheußlicher Gedanke. »Was habt Ihr sonst noch?«
»Ich habe mit Jon Skellit gesprochen, meine Lady. Ein Mann, der seine Loyalität einmal wendet, ist oft dafür zugänglich, sie erneut zu wenden, und auf Skellit trifft das zu.« Skellit, ein Barbier, stand im Sold des Hauses Arawn, was ihn im Augenblick zu Arymillas Mann machte.
Birgitte stieß einen Fluch aus, den sie nicht zu Ende brachte — aus irgendeinem Grund versuchte sie in Anwesenheit von Reene Harfor ihre Ausdrucksweise zu zügeln —, und sagte dann gequält: »Ihr habt mit ihm gesprochen! Ohne vorher jemanden zu fragen?«
Dyelin hatte keine Vorbehalte, was die Haushofmeisterin betraf, und sie murmelte: »Muttermilch in einem Becher!« Elayne hatte sie noch nie zuvor eine Obszönität benutzen hören. Meister Norry blinzelte, ließ beinahe seine Mappe fallen und bemühte sich angestrengt, nicht in Dyelins Richtung zu sehen. Die Haushofmeisterin schwieg lediglich, bis sie sicher war, dass alle zuhörten, dann fuhr sie ruhig fort.
»Die Zeit erschien reif, und Skellit auch. Einer der Männer, denen er Bericht erstattet, hat die Stadt verlassen und ist noch nicht zurückgekehrt, während sich der andere anscheinend das Bein gebrochen hat. Die Straßen sind immer spiegelglatt, wo ein Feuer gelöscht wurde.« Sie sagte das so sanft, dass es mehr als wahr — scheinlich erschien, dass sie beim Sturz des Mannes irgendwie nachgeholfen hatte. Harte Zeiten brachten in vielen Leuten, bei denen man nun wirklich nicht damit gerechnet hätte, harte Talente zum Vorschein. »Skellit ist durchaus einverstanden, seine nächste Botschaft selbst ins Lager zu bringen. Er hat gesehen, wie ein Wegetor entstand, und er muss nicht so tun, als hätte er Angst.« Man hätte glauben können, sie hätte schon ihr ganzes Leben lang Kaufmannswagen aus Löchern in der Luft rattern sehen.
»Was soll diesen Barbier daran hindern weiterzulaufen, sobald er die Stadt verlassen hat?«, wollte Birgitte gereizt wissen und fing an, mit auf dem Rücken verschränkten Händen vor dem Kamin auf und ab zu gehen. Ihr schwerer goldener Zopf hätte sich eigentlich sträuben müssen. »Wenn er verschwindet, wird Arawn jemand anderen anheuern, und wir müssen mit der Suche von vorn anfangen. Beim Licht, Arymilla muss kurz nach ihrer Ankunft von den Wegetoren erfahren haben, und Skellit muss das wissen.« Es war nicht der Gedanke, dass Skellit entkommen konnte, der sie ärgerte. Oder nicht nur das. Die Söldner waren der Meinung, angeheuert worden zu sein, um Soldaten aufzuhalten, aber für ein paar Silberstücke würden sie einem oder zwei erlauben, in der Nacht durchs Tor zu schlüpfen, und zwar in beiden Richtungen. Ihrer Ansicht nach konnten einer oder zwei keinen Schaden anrichten. Birgitte gefiel es nicht, daran erinnert zu werden.
»Die Habgier wird ihn hindern, meine Lady«, erwiderte Frau Harfor ruhig. »Der Gedanke, sowohl von Lady Elayne wie auch von Lady Naean Gold zu erhalten, reicht aus, um diesen Mann schwer atmen zu lassen. Es ist richtig, Lady Arymilla muss bereits von den Wegetoren erfahren haben, aber das ist nur ein weiterer Grund für Skellit, persönlich zu ihr zu gehen.«
»Und wenn seine Habgier groß genug ist, um den Versuch zu unternehmen, mit einem dritten Verrat noch mehr Gold zu verdienen?«, sagte Dyelin. »Er könnte viel ... Unruhe stiften, Frau Harfor.«
Reenes Tonfall wurde etwas schärfer. Sie würde niemals ihre Grenzen überschreiten, aber es missfiel ihr, dass jemand glaubte, sie sei unvorsichtig. »Lady Naean würde ihn unter der nächsten Schneewehe begraben lassen, meine Lady, wie ich ihm überaus deutlich gemacht habe. Sie hatte noch nie Geduld, wie Ihr sicherlich wisst. Auf jeden Fall erhalten wir kaum Informa tionen aus dem Lager, um es vorsichtig auszudrücken, und er könnte ein paar Dinge sehen, die wir gern wüssten.«
»Wenn Skellit uns sagen kann, in welchem Lager sich Arymilla, Elenia und Naea n aufhalten und zu welchem Zeitpunkt, gebe ich ihm persönlich das Gold«, sagte Elayne wohlüberlegt. Elenia und Naean blieben in Arymillas Nähe, oder sie hielt sie in ihrer, und Arymilla war noch ungeduldiger als Naean und noch weniger zu der Annahme bereit, dass etwas ohne ihre Anwesenheit funktionierte. Sie verbrachte den halben Tag damit, von Lager zu Lager zu reiten, und soweit in Erfahrung zu bringen war, schlief sie keine zwei Nächte an einem Ort. »Das ist das Einzige, was ich von ihm wissen will.«
Reene neigte den Kopf. »Wie Ihr wünscht, meine Lady. Ich werde dafür sorgen.« Sie versuchte zu oft, vor Norry die Dinge nicht auszusprechen, aber sie ließ sich nicht anmerken, dass sie etwas als Tadel aufgefasst hatte. Natürlich war sich Elayne nicht sicher, ob sie diese Frau öffentlich tadeln würde. Frau Harfor würde ihre Pflichten auch weiterhin tadellos erfüllen, und sie würde sicherlich mit ungebrochenem Eifer Spione jagen, und sei es auch nur aus dem Grund, dass ihre Anwesenheit im Palast sie ärgerte, aber Elayne würde vermutlich jeden Tag ein Dutzend Unbequemlichkeiten vorfinden, ein Dutzend kleine Ärgernisse, die sich zu echtem Elend aufhäufen würden, und nicht eine davon würde sie der Haushofmeisterin ankreiden können. Wir müssen den Tanzschri tten genauso folgen wie unsere Diener auch, hatte ihr ihre Mutter einmal gesagt. Du kannst ständig neue Diener einstellen und deine ganze Zeit damit verbringen, sie auszubilden, und sie ertragen, bis sie es gelernt haben, nur um dich dann am Ausgangspunkt wiederzufinden, oder du kannst genau wie sie die Regeln ak — zeptieren und bequem leben, während du deine Zeit zum Herrschen nutzt.
»Danke, Frau Harfor«, sagte sie, wofür sie einen weiteren präzisen Hofknicks erhielt. Reene Harfor war eine weitere Person, die ihren Wert kannte. »Meister Norry?«
Der reiherähnliche Mann zuckte zusammen und hörte auf, Reene stirnrunzelnd anzusehen. In gewisser Weise betrachtete er die Wegetore als die seinen, und da durfte ihm keiner in die Quere kommen. »Ja, meine Lady. Natürlich.« Seine Stimme war trocken und monoton. »Ich gehe davon aus, dass Lady Birgitte Euch bereits über die Kaufmannszüge aus Illian und Tear unterrichtet hat. Ich glaube, das ist ihre ... Angewohnheit, wenn Ihr in die Stadt zurückkehrt.« Einen Augenblick lang ruhte sein Blick vorwurfsvoll auf Birgitte.
Ihm würde nicht im Traum einfallen, Elayne auch nur den geringsten Grund zur Klage zu geben, selbst wenn sie ihn angeschrien hätte, aber er lebte nach seinen eigenen Regeln, und auf eine mäßige Art und Weise nahm er es Birgitte übel, dass sie ihm die Gelegenheit stahl, die eingetroffenen Wagen und Kisten und Fässer zu zählen. Er liebte seine Zahlen. Elayne glaubte zumindest, dass es eine mäßige Art und Weise war. In Meister Norry schien es keine großen Leidenschaften zu geben.
»Das hat sie«, sagte sie in einem leicht entschuldigenden Tonfall, nicht genug, um ihn in Verlegenheit zu bringen. »Ich fürchte, einige Meervolkfrauen werden uns verlassen. Nach dem heutigen Tag werden wir nur noch die Hälfte an Leuten haben, die uns Wegetore erschaffen können.«
Seine Finger tasteten spinnenhaft über die Ledermappe an seiner Brust, als wollte er die darin befindlichen Papiere befühlen. Sie hatte noch nie gesehen, dass er jemals darin etwas nachgelesen hätte. »Ah. Wir werden ... damit zurecht kommen, meine Lady.« Halwin Norry kam immer zurecht. »Um fortzufahren, es gab gestern und letzte Nacht neun Brandstiftungen, etwas mehr als gewöhnlich. Es wurden drei Versuche unternommen, Lagerhäuser mit Lebensmitteln anzuzünden.
Keiner davon war erfolgreich, wie ich betonen möchte.« Er wollte es betonen, aber er tat es in dem gleichen leiernden Tonfall. »Wenn ich so sagen darf, die in den Straßen patrouillierenden Wachen zeigen Wirkung die Zahl der Überfälle und Diebstähle ist auf einen Stand zurückgegangen, der nur wenig über dem für diese Jahreszeit üblichen liegt —, aber es scheint offensichtlich, dass diese Brandstiftungen gesteuert werden.
Siebzehn Gebäude wurden zerstört, bis auf eines waren sie alle verlassen.« Er verzog missbilligend den Mund; es würde mehr als eine Belagerung brauchen, um ihn aus Caemlyn zu vertreiben. »Meiner Meinung nach wurden alle Brände so gelegt, dass die Löschwagen so weit wie möglich von den Lagerhäusern entfernt waren. Ich bin jetzt der festen Überzeugung, dass dieses Muster für jeden Brand gilt, den wir in den vergangenen Wochen erlebt haben.«
»Birgitte?«, sagte Elayne.
»Ich kann die Lagerhäuser auf einer Karte eintragen«, erwiderte Birgitte zweifelnd, »und auf den am weitesten entfernten Straßen zusätzliche Wachen aufstellen, aber das überlässt noch immer ver... viel dem Zufall.« Sie schaute nicht in Frau Harfors Richtung, aber Elayne verspürte einen Hauch von Verlegenheit von ihr ausgehen. »Jeder kann Feuerstein und Stahl in der Gürteltasche haben und mit etwas trockenem Stroh im Handumdrehen ein Feuer machen.«
»Tu, was du kannst«, sagte Elayne. Es würde reines Glück sein, wenn sie einen Brandstifter auf frischer Tat ertappten, und mehr als Glück, wenn er mehr aussagen konnte, als dass ihm eine vermummte Gestalt ein paar Münzen in die Hand gedrückt hatte. Dieses Gold zu Arymilla oder Elenia oder Naean zurückverfolgen zu können würde Mat Cauthons Glück erfordern.
»Sonst noch etwas, Meister Norry?«
Er fuhr sich mit dem Knöchel über die lange Nase und mied ihren Blick. »Mir ist ... äh ... zu Ohren gekommen«, sagte er zögernd, »dass Marne, Arawn und Sarand kürzlich große Darlehen aufgenommen und die Einkünfte ihrer Güter als Sicherheit verpfändet haben.« Frau Harfor runzelte die Stirn, glättete sie jedoch sofort wieder.
Ein Blick in ihre Teetasse verriet Elayne, dass sie sie tatsächlich geleert hatte. Bankiers verrieten einem nie, wie viel sie wem geliehen hatten oder was als Sicherheit gedient hatte, aber sie fragte ihn nicht, woher er es wusste. Es würde ... peinlich sein. Für sie beide. Sie lächelte, als ihre Schwester ihr die Tasse abnahm, und verzog dann das Gesicht, als Aviendha sie aufgefüllt zurückbrachte. Aviendha schien zu glauben, sie könnte verwässerten Tee trinken, bis ihre Augen schwammen!
Ziegenmilch war besser, aber Spülwasser als Tee war in Ordnung. Nun, sie würde die verdammte Tasse halten, aber sie würde nichts davon trinken.
»Die Söldner«, knurrte Dyelin, und die Hitze in ihren Augen hätte gereicht, um einen Bären zurückweichen zu lassen. »Ich habe es zuvor gesagt, und ich werde es wieder sagen; das Problem mit den Mietschwertern ist, dass sie nicht immer gemietet bleiben.« Sie war von Anfang an dagegen gewesen, zur Verteidigung der Stadt zusätzlich Söldner anzuheuern, obwohl es eine Tatsache war, dass Arymilla ohne diese Männer sich ein Tor hätte aussuchen können, durch das sie ihr Heer hineingeführt hätte. Es waren einfach nicht genug Soldaten da gewesen, um jedes Tor ordentlich zu beschützen, von den Mauern ganz zu schweigen.
Birgitte war ebenfalls gegen Söldner gewesen, aber sie hatte Elaynes Einwände wenn auch zögernd akzeptiert. Sie misstraute ihnen immer noch, aber jetzt schüttelte sie den Kopf. Sie saß in der Nähe des Feuers auf einer Stuhllehne und hatte die gespornten Stiefel auf den Sitz gelegt. »Söldner sorgen sich um ihren Ruf, wenn nicht sogar um ihre Ehre. Die Seiten zu wechseln ist eine Sache, ein Tor zu verraten eine andere. Eine Kompanie, die das tun würde, würde nie wieder Ar — beit rinden, nirgendwo. Arymilla müsst dem Hauptmann so viel Gold anbieten, dass er den Rest seines Lebens wie ein Lord leben könnte, und auch seine Männer davon überzeugen, dass sie das auch könnten.«
Norry räusperte sich. Selbst das klang irgendwie trocken. »Es hat den Anschein, als hätten sie dieselben Sicherheiten zwei- oder sogar dreimal verpfändet, um Geld zu leihen. Natürlich sind sich die Bankiers dessen nicht ... bewusst, noch nicht.«
Birgitte fing an zu fluchen und unterbrach sich dann.
Dyelin starrte finster genug in ihren Wein, damit er sauer wurde. Aviendha drückte kurz Elaynes Hand.
Funken stoben aus dem Kamin, ein paar hätten beinahe den Teppich erreicht.
»Man wird die Söldnerkompanien im Auge behalten müssen.« Elayne hob eine Hand, um Birgitte zuvorzukommen. Sie hatte den Mund noch nicht geöffnet, aber der Bund sprach Bände. »Du wirst eben irgendwo die Männer dafür finden müssen.« Beim Licht! Sie schienen sich in der Stadt gegen genauso viele Leute schützen zu müssen wie außerhalb! »Dafür sollte man nicht allzu viele brauchen, Birgitte, aber wir müssen wissen, ob sie anfangen, sich seltsam oder verstohlen zu benehmen. Möglicherweise ist das unsere einzige Warnung.«
»Ich habe gerade daran gedacht, was zu tun ist, sollte uns eine der Kompanien verraten«, sagte Birgitte trocken. »Bescheid zu wissen reicht nicht aus, solange ich keine Männer habe, die zu jedem Tor eilen können, das womöglich verraten wird. Und die Hälfte der Soldaten in der Stadt sind Söldner. Der Rest sind zur Hälfte alte Männer, die vor ein paar Monaten von ihren Pensionen gelebt haben. Ich werde die Posten der Söldner in unregelmäßigen Abständen verändern.
Wenn sie nicht wissen, wo sie am nächsten Tag sind, wird das jeden Verrat erschweren, aber das macht ihn nicht unmöglich.« Sie konnte noch so oft protestieren, dass sie kein General war, aber sie hatte mehr Schlachten und Belagerungen erlebt als zehn Generäle, und sie wusste sehr gut, wie sich solche Dinge abspielten.
Elayne wünschte sich beinahe, in ihrer Tasse wäre Wein. Aber nur beinahe. »Besteht irgendeine Chance, dass die Bankiers das erfahren, was Ihr wisst, Meister Norry? Bevor die Darlehen fällig werden?« Falls das geschah, würden einige vielleicht zu dem Schluss kommen, dass sie lieber Arymilla auf dem Thron sehen würden. In diesem Fall würde sie nämlich die Staatskasse plündern können, um das Geld zurückzuzahlen.
Vermutlich würde sie es sogar tun. Kaufleute ließen sich von den politischen Winden treiben, ganz egal, in welche Richtung sie wehten. Bankiers waren dafür bekannt, dass sie durchaus versuchten, die Ereignisse zu beeinflussen.
»Meiner Meinung nach ist das unwahrscheinlich, meine Lady. Sie müssten ... den richtigen Leuten die richtigen Fragen stellen, aber für gewöhnlich sind Bankiers bei ihresgleichen sehr ... verschlossen. Ja, ich halte das für unwahrscheinlich. Jedenfalls im Augenblick.«
Man konnte sowieso nichts tun. Außer Birgitte zu sagen, dass möglicherweise neue Aufträge für Attentäter und Entführer im Umlauf waren. Aber ihrer harten Miene und der grimmigen Entschlossenheit im Bund nach zu urteilen, war ihr das bereits klar. Jetzt würde es so gut wie unmöglich sein, die Leibwache auf weniger als hundert Frauen zu begrenzen. Falls es je möglich gewesen war.
»Vielen Dank, Meister Norry«, sagte Elayne. »Ihr habt gute Arbeit geleistet, wie immer. Lasst mich sofort wissen, falls es Anhaltspunkte gibt, dass die Bankiers diese Fragen gestellt haben.«
»Natürlich, meine Lady«, murmelte er und stieß den Kopf nach unten wie ein Reiher, der nach einem Fisch schnappte. »Meine Lady ist sehr freundlich.«
Als Reene und Norry den Raum verlassen hatten — er hielt für sie die Tür auf und machte eine Verbeugung, die eine Spur anmutiger war als gewöhnlich, und sie widmete ihm ein leichtes Nicken, als sie an ihm vorbei auf den Korridor rauschte —, löste Aviendha das Gewebe, das sie hielt, nicht auf. Sobald die Tür ins Schloss fiel und der satte Laut von dem Gewebe verschluckt wurde, sagte sie: »Jemand hat zu lauschen versucht.«
Elayne schüttelte den Kopf. Man konnte unmöglich feststellen, wer der Lauscher war — eine Schwarze Schwester oder eine neugierige Kusine? —, aber wenigstens hatte er versagt. Nicht, dass große Aussicht bestand, an Aviendhas Geweben vorbeizukommen, möglicherweise würden das nicht einmal die Verlorenen schaffen, aber sie hätte es sofort gesagt, wenn es jemandem gelungen wäre.
Dyelin nahm Aviendhas Mitteilung weniger selbstsicher auf und murmelte etwas vom Meervolk. Sie hatte keine Miene verzogen, als sie gehört hatte, dass die Hälfte der Windsucherinnen abreiste, nicht vor Reene und Norry, aber jetzt wollte sie die ganze Geschichte wissen. »Ich habe Zaida nie vertraut«, knurrte sie, als Elayne zum Ende kam. »Der Handel dürfte von dieser Vereinbarung vermutlich profitieren, aber es würde mich nicht überraschen, wenn sie eine ihrer Windsucherinnen damit beauftragt hat, uns zu belauschen. Ich halte sie für eine Frau, die alles wissen will, nur für den Fall, dass es ihr eines Tages von Nutzen sein könnte.« Dyelin war noch nie zögerlich gewesen, aber jetzt hielt sie inne und rollte den Pokal zwischen den Händen. »Seid Ihr sicher, dass uns dieses ... Fanal ... nicht schaden kann, Elayne?«
»So sicher, wie ich sein kann. Falls es die Welt spalten sollte, würde das wohl mittlerweile geschehen sein.« Aviendha lachte, aber Dyelin wurde aschfahl. Also wirklich! Manchmal musste man lachen, wenn man nicht weinen wollte.
»Wenn wir noch länger herumtrödeln, jetzt, da Norry und Frau Harfor gegangen sind«, sagte Birgitte, »könnte sich jemand nach dem Grund dafür fragen.« Sie deutete auf die Wand und meinte das Gewebe, das sie nicht wahrnehmen konnte. Aber sie wusste, dass es noch bestand. Die täglichen Besprechungen mit der Haushofmeisterin und dem Ersten Schreiber verbargen immer etwas mehr.
Alle versammelten sich um sie, als sie auf einem Seitentisch zwei Porzellanschüsseln des Meervolks aus dem Weg räumte und eine vielfach gefaltete Karte aus dem kurzen Mantel zog. Sie steckte immer dort, außer wenn Birgitte schlief, dann lag sie unter ihrem Kopfkissen. Ausgebreitet und an den Ecken mit leeren Pokalen beschwert, zeigte die Karte Andor vom Erinin bis zur Grenze zwischen Altara und Murandy. Im Grunde zeigte sie eigentlich ganz Andor, denn alles, was weiter westlich lag, hatte sich schon seit Generationen dem Einfluss von Caemlyn entzogen. Die Karte stellte kein Meisterwerk der Kartografie dar, und Falten machten viele Einzelheiten unkenntlich, aber sie zeigte Flüsse und Gebirge, und jede Stadt und jedes Dorf waren genauso eingezeichnet wie jede Straße und Brücke und Furt. Elayne stellte die Tasse eine Armlänge entfernt ab, um keinen Tee darauf zu verschütten und noch mehr Flecken zu machen. Und um sich von dieser lächerlichen Entschuldigung für einen Tee zu befreien.
»Die Grenzländer sind auf dem Marsch«, sagte Birgitte und zeigte auf die Wälder nördlich von Caemlyn, und zwar auf eine Stelle oberhalb von Andors nördlichster Grenze. »Aber sie sind noch nicht weit gekommen. Bei diesem Tempo wird es noch über einen Monat dauern, bis sie Caemlyn erreichen.«
Dyelin spielte mit ihrem Silberpokal, blickte in den dunklen Wein und schaute dann plötzlich auf. »Ich dachte, Ihr Nordleute wärt an Schnee gewöhnt, Lady Birgitte.« Selbst jetzt musste sie nachhaken, und keine Antwort würde sie nur noch mehr davon überzeugen, dass Birgitte Geheimnisse hatte, und ihre Entschlossenheit stärken, sie zu enthüllen.
Aviendha sah die ältere Frau stirnrunzelnd an — sie konnte sehr beschützend werden, was Birgittes Geheimnisse anging —, aber Birgitte erwiderte Dyelins Blick ganz ruhig und ohne jede Aufregung, wie der Bund verriet. Sie konnte mittlerweile gut mit der Lüge über ihre Herkunft leben. »Ich bin schon lange nicht mehr in Kandor gewesen.« Das war die schlichte Wahrheit, auch wenn es länger her war, als sich Dyelin hätte vorstellen können. Damals hatte man das Land nicht einmal mit dem Namen Kandor bezeichnet. »Es braucht seine Zeit, im Winter zweihunderttausend Soldaten zu bewegen, ganz zu schweigen von dem Tross, von dem nur allein das Licht weiß, wie groß er ist. Und schlimmer noch, ich habe Frau Ocalin und Frau Fote einige der Dörfer südlich der Grenze besuchen lassen.« Sabeine Ocalin und Julanya Fote waren Kusinen, die das Schnelle Reisen beherrschten. »Den Bauern zufolge haben die Grenzländer ein Winterlager aufgeschlagen.«
Elayne schnalzte mit der Zunge, als sie mit dem Finger Entfernungen berechnete. Sie verließ sich auf Neuigkeiten über die Grenzländer, wenn nicht sogar auf die Grenzländer selbst. Die Nachricht, dass ein Heer dieser Größe in Andor eindrang, würde sich wie ein Buschfeuer in einer Steppe verbreiten. Nur ein Narr würde glauben, dass sie diese Hunderte von Meilen marschiert waren, um Andor zu erobern, aber jeder, der davon hörte, würde über ihre Absichten spekulieren und was man da gegen tun konnte, und jeder würde eine andere Meinung haben. Sobald sich die Nachricht verbreitete. Wenn es so weit war, hatte sie allen anderen gegenüber einen Vorteil. Sie hatte da — für gesorgt, dass die Grenzländer den Boden von Andor betraten, und ebenso, dass sie auch wieder ver schwanden.
Die Entscheidung war nicht schwer gefallen. Sie aufzuhalten wäre eine blutige Angelegenheit geworden, falls es überhaupt möglich gewesen wäre, und sie verlangten nicht mehr als eine Straßenbreite, um weiter nach Murandy zu marschieren, wo sie den Wieder geborenen Drachen zu finden glaubten. Auch das war Elaynes Werk. Sie hatten den Grund für ihre Suche nach Rand für sich behalten, und sie hatte ihnen keinen verlässlichen Ort nennen wollen, an dem er sich möglicherweise aufhielt, nicht, wenn sie mindestens ein Dutzend Aes Sedai dabei hatten und auch diese Tatsache verbargen. Aber sobald die Hohen Herrinnen und Herren davon erfuhren ...
»Es sollte funktionieren«, sagte sie leise. »Nötigenfalls können wir die Gerüchte über die Grenzländer selbst ausstreuen.«
»Es sollte funktionieren«, stimmte Dyelin ihr zu, um dann finster hinzuzufügen: »So lange Bashere und Bael ihre Männer im Zaum halten. Es wird eine explosive Mischung werden, Grenzländer, Aiel und die Legion des Drachen alle nur wenige Meilen voneinander entfernt. Und ich weiß nicht, ob wir uns darauf verlassen sollen, dass die Asha'man nichts Verrücktes tun.« Sie endete mit einem Schniefen. Ihrer Meinung nach musste ein Mann schon verrückt sein, um überhaupt auf die Idee zu kommen, ein Asha'man zu werden. Aviendha nickte. Sie war fast so oft anderer Meinung als Dyelin wie Birgitte, aber was die Asha'man anging, stimmten sie größtenteils überein.
»Ich werde dafür sorgen, dass sich die Grenzländer von der Schwa rzen Burg fern halten«, versicherte Elayne ihnen, obwohl sie das nicht zum ersten Mal tat. Selbst Dyelin wusste, dass Bael und Bashere ihre Streitkräfte unter Kontrolle hatten — keiner der Männer wollte eine Schlacht, die er nicht brauchen konnte, und Da vram Bashere würde bestimmt nicht gegen seine Landsleute kämpfen —, aber jeder hatte das Recht, misstrauisch zu sein, was die Asha'man und ihre Unberechenbarkeit betraf. Sie schob den Finger von dem sechszackigen Stern, der Caemlyn symbolisierte, ein paar Meilen weiter bis zu der Stelle, die die Asha'man für sich in Anspruch genommen hatten. Die Schwarze Burg war nicht eingezeichnet, aber sie wusste nur zu gut, wo sie sich befand. Wenigstens war das ein ordentliches Stück von der Lugard-Straße entfernt. Es würde nicht schwierig sein, die Grenzländer auf den Weg ins südlich befindliehe Murandy zu schicken, ohne die Asha'man aufzuschrecken.
Der Gedanke, die Asha'man nicht aufschrecken zu dürfen, ließ sie die Lippen zusammenpressen, aber es gab nichts, was sie daran in absehbarer Zeit ändern konnte, also schob sie die schwarz gekleideten Männer im Geiste zur Seite. Um was man sich jetzt nicht kümmern konnte, musste man sich eben später kümmern.
»Und die anderen?« Sie musste nicht mehr sagen. Sechs große Häuser hatten sich noch nicht erklärt — jedenfalls weder ihr noch Arymilla gegenüber. Dyelin behauptete, am Ende würden sie sich alle Elayne anschließen, aber bis jetzt ließen sie nichts dergleichen erkennen. Auch Sabeine und Julanya hatten nach der Entscheidung dieser sechs Häuser Erkundigungen eingezogen. Die beiden Frauen hatten die letzten zwanzig Jahre als Hausierer verbracht, sie waren an die harte Art des Reisens gewöhnt, hatten in Ställen oder unter Bäumen geschlafen und weniger auf das gehört, was die Leute erzählten, als vielmehr auf das, was sie nicht sagten. Sie waren die perfekten Kundschafterinnen. Es würde ein großer Verlust sein, wenn man sie dafür einteilen musste, bei der Versorgung der Stadt zu helfen.
»Den Gerüchten zufolge hat man Lord Luan an einem Dutzend Orte gesichtet, im Osten und Westen.«
Birgitte musterte die faltige Karte finster, so als musste Luans Aufenthalt eingezeichnet sein, und murmelte einen Fluch, der wesentlich obszöner als angebracht war, jetzt, da Reene Harfor nicht mehr anwesend war.
»Immer im nächsten Dorf, oder im übernächsten. Lady Ellorien und Lord Abelle scheinen spurlos verschwunden zu sein, so schwer das für die Herrscher von Häusern auch sein muss. Zumindest haben Frau Ocalin und Frau Porte nicht ein Gerücht über sie aufschnappen können, genauso wenig wie über die Waffenmänner von Haus Traemane oder Haus Pendar. Weder über Mann noch Pferd.« Das war sehr ungewöhnlich. Hier gab sich jemand außerordentlich große Mühe.
»Abelle konnte immer schon ein Geist sein, wenn er wollte«, murmelte Dyelin, »der schaffte es immer, einen auf dem falschen Fuß zu erwischen. Ellorien ...« Sie strich sich mit den Fingern über die Lippen und seufzte. »Die Frau ist zu schrill, um verschwinden zu können. Es sei denn, sie ist bei Abelle oder Luan. Oder bei beiden.« Ganz egal, was sie sonst sagte, diese Vorstellung schien ihr nicht zu behagen.
»Und was unsere anderen ›Freunde‹ angeht«, sagte Birgitte, »Lady Arathelle hat vor fünf Tagen die Grenze von Murandy überschritten.« Sie tippte etwa zweihundert Meilen südlich von Caemlyn entfernt auf die Karte. »Vor vier Tagen hat Lord Pelivar die Grenze fünf oder sechs Meilen weiter westlich überschritten, und Lady Aemlyn hier, wieder etwa sechs Meilen weiter.«
»Nicht zusammen«, sagte Dyelin und nickte. »Haben sie Murandianer mitgebracht? Nicht? Gut. Sie könnten zu ihren Gütern wollen, Elayne. Wenn sie sich noch weiter voneinander entfernen, dann wissen wir es genau.« Diese drei Häuser hatten ihr von allen das größte Unbehagen bereitet.
»Sie könnten auf dem Heimweg sein«, stimmte Birgitte zögerlich hinzu, so wie immer, wenn sie mit Dyelin einer Meinung war. Sie zog ihren aufwändig geflochtenen Zopf über die Schulter und umklammerte ihn beinahe auf die gleiche Weise mit der Faust wie sonst Nynaeve. »Die Männer und Pferde müssen erschöpft sein, nachdem sie im Winter in Murandy einmarschiert sind. Aber mit Sicherheit wissen wir nur, dass sie auf dem Marsch sind.«
Aviendha schnaubte. Zog man ihr elegantes Samtgewand in Betracht, überraschte einen dieser Laut. »Gehe immer davon aus, dass dein Feind das tut, was du nicht willst. Entscheide, was für dich das Schlimmste wäre, und plane dementsprechend.«
»Aemlyn, Arathelle und Pelivar sind keine Feinde«, protestierte Dyelin schwach. Ob sie nun glaubte, dass sie ihren Treueid noch rechtzeitig leisten würden oder nicht, diese drei hatten Dyelins Thronanspruch unterstützt.
Elayne hatte nie davon gelesen, dass man eine Königin auf den Thron gezwungen hatte — vermutlich hätte das sowieso keinen Einzug in die Chroniken gefunden —, aber Aemlyn, Arathelle und Pelivar schienen bereit zu sein, es zu versuchen, und nicht, weil sie Macht für sich selbst erhofften. Dyelin wollte den Thron nicht, aber sie würde kaum eine untätige Herrscherin sein. Es war schlichtweg so, dass es im letzten Jahr von Morgase Trakands Herrschaft eine Katastrophe nach der anderen gegeben hatte, und nur wenige wussten oder glaubten, dass sie während dieser Zeit die Gefangene eines der Verlorenen gewesen war. Einige Häuser wollten jeden anderen anstelle einer weiteren Trakand auf dem Thron sehen. Oder glaubten zumindest, dass sie es wollten.
»Was ist das Schlimmste, das sie tun könnten?«, fragte Elayne. »Wenn sie sich auf ihre Güter zurückziehen, dann sind sie bis zum Frühling aus dem Spiel, und dann wird alles entschieden sein.« Wenn es das Licht wollte. »Aber wenn sie nach Caemlyn kommen?«
»Ohne die Murandianer haben sie nicht genug Waffenmänner, um Arymilla herauszufordern.« Birgitte studierte die Karte und rieb sich das Kinn. »Wenn sie bis jetzt noch nicht wissen, dass sich die Aiel und die Legion des Drachen heraushalten, dann werden sie es bald erfahren müssen, aber sie werden Vorsicht walten lassen. Keiner von ihnen scheint dumm genug zu sein, um einen Kampf zu provozieren, den sie nicht gewinnen können; nicht, wenn sie es nicht müssen. Ich würde sagen, sie schlagen irgendwo im Osten oder Südosten ein Lager auf, wo sie die Ereignisse verfolgen und vielleicht auch beeinflussen können.«
Dyelin trank den Rest des Weins, der mittlerweile kalt sein musste, atmete tief aus und ging, um den Pokal erneut zu füllen. »Wenn sie nach Caemlyn kommen«, sagte sie in bleiernem Tonfall, »dann hofft jeder von ihnen, dass sich ihm Luan oder Abelle oder Ellorien anschließt. Oder alle drei.«
»Dann müssen wir herausfinden, wie wir sie davon abhalten können, Caemlyn zu erreichen, bevor unsere Pläne sich erfüllen, und zwar ohne sie für immer zu unseren Feinden zu machen.« Elayne bemühte sich, ihre Stimme so energisch klingen zu lassen, wie Dyelins leblos war. »Und wir müssen einen Plan schmieden, was wir tun wollen, wenn sie zu früh eintreffen. Dyelin, wenn das geschieht, dann müsst Ihr sie da — von überzeugen, dass sie zwischen mir und Arymilla wählen müssen. Sonst sind wir in einem Durcheinander gefangen, das wir möglicherweise niemals wieder entwirren können, und Andor mit uns.«
Dyelin grunzte, als hätte man sie geschlagen. Es war fast fünfhundert Jahre her, dass die großen Häuser drei unterschiedliche Anwärter auf den Löwenthron unterstützt hatten, und der nachfolgende Krieg hatte sieben Jahre gedauert, bevor eine Königin gekrönt worden war. Zu diesem Zeitpunkt waren alle ursprünglichen Thronanwärter schon lange tot gewesen.
Ohne nachzudenken, griff Elayne nach ihrer Tasse und trank einen Schluck. Der Tee war kalt geworden, aber der Geschmack nach Honig explodierte förmlich auf ihrer Zunge. Honig! Sie sah Aviendha erstaunt an, und die Lippen ihrer Schwester verzogen sich zu einem schmalen Lächeln. Einem verschwörerischen Lächeln, als ob Birgitte nicht genau gewusst hätte, was passiert war. Zwar versetzte nicht einmal ihr auf seltsame Weise überhöhter Bund sie in die Lage, das zu schmecken, was Elayne schmeckte, aber sie hatte mit Sicherheit ihre Überraschung und das Vergnügen wahrgenommen, das sie beim Trinken des Tees emp — funden hatte. Sie stützte die Fäuste in die Hüften und setzte eine strenge Miene auf. Das heißt, sie versuchte es; trotz ihrer Bemühungen konnte auch sie sich eines Lächelns nicht erwehren. Plötzlich wurde sich Elayne bewusst, dass Birgittes Kopfschmerzen verflogen wa — ren. Sie vermochte nicht zu sagen, wann das passiert war, aber sie waren nicht mehr da.
»Hoffe für das Beste und plane für das Schlimmste«, sagte sie. »Manchmal passiert sogar das Beste.«
Dyelin wusste nicht über den Honig Bescheid, sie sah nur, dass sie alle drei grinsten, und räusperte sich lautstark. »Und manchmal auch nicht. Wenn Euer kluger Plan in allen Einzelheiten funktioniert, Elayne, dann brauchen wir weder Aemlyn oder Ellorien oder die anderen, aber es ist ein schrecklich riskantes Spiel. Es muss nur etwas schief gehen und ...«
Der linke Türflügel öffnete sich und ließ einen Schwall kalter Luft und eine rotwangige Frau mit eiskaltem Blick und dem goldenen Knoten eines Unterleutnants auf der Schulter herein. Sie hätte auch anklopfen können, aber selbst wenn sie es getan hatte, hatte das Gewebe den Laut verschluckt. Genau wie Rasoria war Tzigan Sokorin eine Jägerin des Horns gewesen, bevor sie sich Elaynes Leibwache angeschlossen hatte. Anscheinend war die Wachablösung vollzogen worden. »Die Weise Frau Monaelle wünscht Lady Elayne zu sprechen«, verkündete Tzigan. »Sie wird von Frau Karistovan begleitet.«
Sumeko konnte man abwimmeln, aber nicht Monaelle. Arymillas Leute würden sich genauso wenig mit den Aiel wie mit den Aes Sedai anlegen, aber nur eine Sache von äußerster Wichtigkeit würde eine Weise Frau in die Stadt geführt haben. Das wusste auch Birgitte; sie faltete die Karte zusammen. Aviendha löste ihr Gewebe sich auf und ließ die Quelle los.
»Bittet sie einzutreten«, sagte Elayne.
Monaelle wartete nicht auf Tzigan, sondern rauschte in dem Augenblick herein, in dem das Gewebe verschwand; ihre vielen goldenen und elfenbeinernen Armreifen klirrten, als sie in der vergleichsweise warmen Luft das Schultertuch in die Ellbeugen rutschen ließ. Elayne wusste nicht, wie alt Monaelle war — Weise Frauen waren nicht so zögerlich wie Aes Sedai, wenn es um ihr Alter ging, aber sie waren verschwiegen —, doch sie schien die mittleren Jahre noch nicht weit hinter sich gelassen zu haben. In ihrem taillenlangen blonden Haar waren ein paar rote Strähnen, aber nicht eine graue. Für eine Aiel war sie klein, kleiner sogar als Elayne, und sie hatte ein gütiges, mütterliches Gesicht.
Sie war kaum stark genug in der Macht, dass man sie in der Weißen Burg aufgenommen hätte, aber unter Weisen Frauen zählte die Stärke nicht, und sie nahm bei ihnen einen sehr hohen Rang ein. Was aber für Elayne und Aviendha noch viel wichtiger war, sie hatte bei ihrer Wiedergeburt als Erstschwestern als Hebamme fungiert. Elayne machte einen tiefen Knicks vor ihr und ignorierte Dyelins abfälliges Schnauben, und Aviendha machte mit gefalteten Händen eine tiefe Verbeugung. Abgesehen von den Pflichten, die sie nach den Aiel-Bräuchen ihrer Hebamme gegenüber hatte, nahm sie unter den Weisen Frauen immer noch den Rang eines Lehrlings ein.
»Ich gehe davon aus, dass dein Bedürfnis nach Abgeschiedenheit gestillt ist«, sagte Monaelle, »und es ist Zeit, dass ich deinen Zustand überprüfe, Elayne Trakand.
Das sollte bis zum Ende der Schwangerschaft zweimal monatlich geschehen.« Warum sah sie Aviendha stirnrunzelnd an? Oh, beim Licht, das Samtgewand!
»Und ich bin mitgekommen, um ihr dabei zuzusehen«, fügte Sumeko hinzu und folgte der Weisen Frau ins Zimmer. Sumeko war eine beeindruckende Person, eine stämmige Frau mit selbstsicherem Blick; sie trug ein hervorragend geschnittenes gelbes Wollgewand mit einem roten Gürtel, in ihrem glatten schwarzen Haar steckten Silberkämme und an dem hohen roten Kragen ein kreisförmiger Anstecker aus Silber. Sie hätte eine Adlige oder eine wohlhabende Kauffrau sein können. Früher hatte sie eine gewisse Schüchternheit gezeigt, zumindest in Anwesenheit von Aes Sedai, aber das war vorbei. Nicht bei Aes Sedai oder Soldaten der Königlichen Garde. »Ihr dürft gehen«, sagte sie zu Tzigan. »Das geht Euch nichts an.« Oder bei Adligen, was das anging. »Ihr dürft auch gehen, Lady Dyelin, und Ihr auch, Lady Birgitte.« Sie musterte Aviendha, als zöge sie in Betracht, sie auch auf die Liste zu setzen.
»Aviendha darf bleiben«, sagte Monaelle. »Sie versäumt viel Unterricht, und sie muss das hier früher oder später lernen.« Sumeko nickte zustimmend, aber sie richtete weiterhin einen kühlen, ungeduldigen Blick auf Dyelin und Birgitte.
»Lady Dyelin und ich haben einiges zu besprechen«, sagte Birgitte, schob sich die zusammengefaltete Karte unter den roten Mantel und setzte sich in Richtung Tür in Bewegung. »Ich erzähle dir heute Abend, was wir uns haben einfallen lassen, Elayne.«
Dyelin warf ihr einen Blick zu, der fast so scharf wie der war, den sie Sumeko gewidmet hatte, aber sie stellte ihren Pokal auf einem Tablett ab und entbot Elayne ihren Hofknicks, um dann mit sichtlicher Ungeduld zu warten, während Birgitte Monaelle in aller Ruhe etwas ins Ohr flüsterte und die Weise Frau genauso leise etwas erwiderte. Worüber flüsterten sie? Vermutlich ging es um Ziegenmilch.
Sobald sich die Tür hinter Tzigan und den beiden Frauen geschlossen hatte, bot Elayne an, nach frischem Wein zu schicken, da der Wein in den Kannen kalt war, aber Sumeko lehnte kurz angebunden ab und Monaelle gedankenverloren. Die Weise Frau musterte Aviendha mit solcher Intensität, dass die junge Aiel errötete und zur Seite schaute.
»Ihr dürft Aviendha nicht wegen ihrer Kleidung schelten, Monaelle«, sagte Elayne. »Ich habe sie gebeten, das zu tragen, und sie hat es mir zuliebe getan.«
Monaelle schürzte die Lippen, bevor sie antwortete.
»Erstschwestern sollten einander Gefallen tun«, sagte sie schließlich. »Du kennst deine Pflicht deinem Volk gegenüber, Aviendha. Bis jetzt hast du eine schwierige Aufgabe gut gemeistert. Du musst lernen, in zwei Welten zu leben, also ist es gut, dass du dich an solche Kleidung gewöhnst.« Aviendha fing an, sich zu entspannen. Bis Monaelle fortfuhr. »Aber nicht zu sehr. Von jetzt an wirst du jeden dritten Tag und die Nacht in den Zelten verbringen. Du kannst morgen mit mir zurückkehren. Du musst noch viel lernen, bevor du zur Weisen Frau werden kannst, und das ist genauso sehr deine Pflicht, wie eine Bindeschnur zu sein.«
Elayne ergriff die Hand ihre Schwester, und als Aviendha versuchte, nach einem kurzen Druck loszulassen, hielt sie sie weiter fest. Nach kurzem Zögern erwiderte Aviendha den Druck. Auf eine seltsame Weise tröstete sie Elayne über die Abwesenheit Rands hinweg; sie war nicht nur eine Schwester, sondern eine Schwester, die ihn ebenfalls liebte. Sie konnten sich ihre Kräfte teilen und einander zum Lachen bringen, wenn sie weinen wollten, und sie konnten gemeinsam weinen, wenn sie das brauchten. Eine Nacht von dreien, das bedeutete vermutlich, eine Nacht von dreien allein weinen zu müssen. Beim Licht, was tat Rand da bloß? Das fürchterliche Fanal im Westen leuchtete noch immer so stark wie zuvor, und sie war davon überzeugt, dass er sich genau in seinem Herzen befand. Nicht ein Partikel hatte sich an ihrem Bund geändert, aber sie war davon überzeugt.
Plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie Aviendhas Hand fast zerquetschte, und ihre Schwester hielt sie genauso fest. Sie lockerten ihre Griffe gleichzeitig. Aber keine von ihnen ließ los.
»Männer machen selbst dann noch Ärger, wenn sie nicht da sind«, meinte Aviendha leise.
»Das ist wahr«, stimmte Elayne ihr zu.
Monaelle lächelte, als sie das vernahm. Sie gehörte zu den wenigen Personen, die über den Bund mit Rand Bescheid wussten, und wer der Vater ihres Kindes war. Aber von den Kusinen wusste es niemand.
»Ich glaube, Ihr habt Euch von einem Mann genug Ärger eingebrockt, Elayne«, sagte Sumeko steif. Die Kusinen folgten den Regeln für Novizinnen und Aufgenommenen, die nicht nur Kinder verboten, sondern auch alles, was zu ihnen führen konnte, und sie hielten sich strikt daran. Früher hätte eine Kusine eher ihre Zunge verschluckt, bevor sie vorgeschlagen hätte, dass eine Aes Sedai die Regeln verletzt. Aber seitdem hatte sich vieles verändert. »Ich soll heute noch nach Tear Reisen, damit ich morgen eine Ladung Öl und Getreide mitbringen kann, und es wird spät. Wenn Ihr also mit Eurem Gerede über Männer fertig seid, schlage ich vor, dass Ihr Monaelle das tun lasst, weswegen sie gekommen ist.«
Monaelle stellte Elayne vor den Kamin, nahe genug an den fast verbrannten Scheiten, dass es fast schon unbehaglich war — es war gut, wenn die Mutter sehr warm war, erklärte sie —, dann umgab sie der Schimmer Saidars, und sie fing an, Stränge aus Geist und Erde und Feuer zu weben. Aviendha sah fast genauso aufmerksam zu wie Sumeko.
»Was ist das?«, fragte Elayne, als das Gewebe sie einhüllte und dann in ihr versank. »Ist das so etwas wie die Tiefenschau?« Jede Aes Sedai im Palast hatte sie der Tiefenschau unterzogen, obwohl nur Merilille ausreichende Fähigkeiten im Heilen hatte, um etwas damit anfangen zu können, aber weder sie noch Sumeko hatten ihr mehr verraten können, als dass sie schwanger war. Sie verspürte ein sanftes Kribbeln, eine Art Summen tief in ihrem Leib.
»Seid nicht albern, Mädchen«, sagte Sumeko geistesabwesend. Elayne hob eine Braue und dachte sogar daran, Sumeko ihren Großen Schlangenring unter die Nase zu halten, aber sie schien es nicht zu bemerken. Vermutlich hätte sie auch den Ring nicht bemerkt. Sie beugte sich vor und schaute, als könnte sie das Gewebe in Elaynes Leib sehen. »Die Weisen Frauen haben von mir das Heilen gelernt. Und von Nynaeve, schätze ich«, gestand sie einen Augenblick später ein. Oh, hätte Nynaeve das gehört, wäre sie wie ein Feuerwerk in die Luft gegangen. Aber Sumeko hatte Nynaeve schon lange weit hinter sich gelassen. »Und die einfache Form haben sie von den Aes Sedai gelernt.« Ein Schnauben, das wie zerreißendes Segeltuch klang, verriet, was Sumeko von der einfachen Form hielt, die einzige Art des Heilens, die Aes Sedai seit Tausenden von Jahren praktizierten. »Das hier ist etwas, das die Weisen Frauen selbst konnten.«
»Man nennt es ›das Kind Liebkosen‹«, sagte Monaelle abwesend. Der größte Teil ihrer Aufmerksamkeit war auf das Gewebe gerichtet. Eine einfache Tiefenschau, um festzustellen, was jemandem fehlte — es war einfach, wenn man darüber nachdachte —, wäre mittlerweile längst beendet, aber sie veränderte die Ströme, und das Summen in Elaynes Innerem veränderte sich und drang tiefer. »Möglicherweise ist es ein Teil des Heilens, aber uns war das schon vor der Zeit bekannt, als man uns ins Dreifache Land schickte. Ein paar der benutzten Ströme ähneln dem, was Sumeko Karistovan und Nynaeve al'Meara uns gezeigt haben. Beim Liebkosen des Kindes erfährt man etwas über die Gesundheit von Mutter und Kind, und indem man die Gewebe verändert, kann man auch so manches Problem beseitigen, das sich bei beiden einstellen könnte, aber es funktioniert nicht bei einer Frau, die nicht schwanger ist. Natürlich auch bei keinem Mann.« Das Summen wurde lauter, bis es den Anschein hatte, als müsste es jeder hören können. Elayne hatte das Gefühl, als würden ihre Zähne vibrieren.
Ein früherer Gedanke kehrte zurück, und sie sagte: »Kann das Lenken der Macht meinem Kind schaden?
Ich meine, wenn ich sie ergreife?«
»Nicht mehr als das Atmen«, sagte Monaelle und ließ das Gewebe mit ei nem Grinsen verschwinden.
»Du hast zwei. Es ist zu früh, um sagen zu können, ob es Mädchen oder Jungen sind, aber sie sind gesund, und du bist es auch.«
Zwei! Elayne teilte ein breites Lächeln mit Aviendha.
Sie konnte die Freude ihrer Schwester förmlich fühlen.
Sie würde Zwillinge bekommen. Rands Babys. Hoffentlich ein Junge und ein Mädchen, oder zwei Jungen.
Zwillingsmädchen würden die Thronnachfolge erheblich erschweren. Niemand errang die Rosenkrone und hatte alle Häuser geschlossen hinter sich versammelt.
Sumeko gab einen drängenden Laut von sich und zeigte auf Elayne, und Monaelle nickte. »Macht es genauso wie ich, und Ihr werdet es sehen.« Sie sah zu, wie Sumeko die Quelle umarmte und das Gewebe erschuf, und sie nickte erneut, und die pummelige Kusine ließ es in Elayne hineinsinken. Sie stieß ein Keuchen aus, als würde sie das Summen selbst spüren.
»Du wirst dir wegen der Morgenkrankheit keine Sorgen machen müssen«, fuhr Monaelle fort, »aber das Lenken der Macht wird dir manchmal Schwierigkeiten bereiten. Die Stränge können dir entgleiten, als wären sie eingefettet oder wie Nebel, und du wirst auch die einfachsten Gewebe immer wieder von vorn beginnen müssen. Das kann mit dem Fortschreiten der Schwangerschaft schlimmer werden, und während der Wehen und der Geburt selbst wirst du die Macht überhaupt nicht lenken können, aber das gibt sich sofort wieder, nachdem die Kinder da sind. Du wirst auch bald launisch werden, falls das nicht schon angefangen hat, im einen Augenblick weinerlich, im nächsten gereizt. Der Vater deines Kindes wird klug beraten sein, dir so gut wie möglich aus dem Weg zu gehen.«
»Wie ich gehört habe, hat sie ihm heute Morgen schon den Kopf abgerissen«, murmelte Sumeko. Sie ließ das Gewebe los, richtete sich auf und rückte den roten Gürtel zurecht. »Das ist erstaunlich, Monaelle. Ich wäre nie darauf gekommen, dass es ein Gewebe gibt, das nur bei schwangeren Frauen angewandt werden kann.«
Elaynes Mund verzog sich, aber dann sagte sie nur: »Das alles könnt Ihr mit diesem Gewebe sagen, Monaelle?« Es war besser, wenn die Leute Doilan Mellar für den Vater ihrer Kinder hielten. Die Kinder Rand al'Thors würden Ziele darstellen, denen man aus Hass oder Furcht oder um des Vorteils willen nachstellte, aber niemand würde einen Gedanken an sie verschwenden, wenn sie von Mellar stammten, vermutlich nicht einmal Mellar selbst. Es war besser so, und damit war das Thema erledigt.
Monaelle warf den Kopf in den Nacken und lachte so heftig, dass sie sich mit der Spitze des Schultertuchs die Augen trocknen musste. »Ich weiß das, weil ich sieben Kinder zur Welt gebracht und drei Ehemänner hatte, Elayne Trakand. Das Lenken der Macht beschützt dich vor der Morgenkrankheit, aber dafür ist dann ein anderer Preis zu entrichten. Komm, Aviendha, du musst es auch versuchen. Vorsichtig, jetzt. Genau, wie ich es gemacht habe.«
Eifrig umarmte Aviendha die Quelle, aber bevor sie einen Strang weben konnte, ließ sie Saidar los und wandte den Kopf, um auf die holzgetäfelte Wand zu starren. In Richtung Westen. Elayne, Monaelle und Sumeko schlössen sich ihr an. Das Fanal, das so lange gebrannt hatte, war verschwunden. In dem einen Augenblick war es noch da gewesen, wild loderndes Saidar, dann war es verschwunden, als hätte es nie existiert.
Sumekos massiger Busen hob sich, als sie tief Luft holte. »Ich glaube, heute ist entweder etwas sehr Wunderbares oder sehr Schreckliches geschehen«, sagte sie leise. »Und ich glaube, ich habe Angst zu erfahren, was es ist.«
»Etwas Wunderbares«, sagte Elayne. Es war vollendet, was auch immer es war, und Rand lebte. Das allein war schon wunderbar genug. Monaelle sah sie fragend an. Da sie über den Bund Bescheid wusste, konnte sie den Rest erraten, aber sie spielte gedankenverloren an einer ihrer Ketten herum. Sie würde es sowieso aus Aviendha herausholen.
Ein Klopfen an der Tür ließ alle zusammenzucken.
Jedenfalls alle bis auf Monaelle. Sie tat so, als würde sie nicht sehen, wie die anderen zusammenzuckten, konzentrierte sich aber zu übertrieben darauf, ihr Schultertuch zu richten, was den Kontrast nur noch größer machte. Sumeko hustete, um ihre Verlegenheit zu überspielen.
»Herein«, sagte Elayne laut. Selbst ohne Schutzgewebe musste man fast schreien, um durch die Tür gehört zu werden.
Caseille schob den Kopf durch die Tür, den Hut mit der Feder in der Hand, dann folgte der Rest von ihr, und sie schloss die Tür sorgfältig hinter sich. Der Spitzenbesatz am Hals und an den Handgelenken war blütenweiß, die Spitze und die Löwen auf ihrer Schärpe glänzten, und ihr Harnisch funkelte wie frisch poliert, aber offensichtlich hatte sie ihren Dienst sofort wieder aufgenommen, nachdem sie sich nach ihrem Ausflug frisch gemacht hatte. »Verzeiht die Störung, meine Lady, aber ich fand, Ihr solltet es sofort erfahren. Das Meervolk ist in Aufruhr, jedenfalls die, die noch da sind. Anscheinend wird ein Lehrling vermisst.«
»Und was noch?«, fragte Elayne. Ein vermisster Lehrling war schon schlimm genug, aber etwas an Caseilles Gesicht verriet ihr, dass da noch mehr war.
»Gardistin Azeri hat mir erzählt, dass sie gesehen hat, wie Merilille Sedai vor drei Stunden den Palast verließ«, sagte Caseille zögernd. »Merilille und eine Frau in Umhang und hochgeschlagener Kapuze. Sie haben Pferde genommen und ein beladenes Maultier. Yurith sagte, die Hände der anderen Frau seien tätowiert gewesen. Meine Lady, niemand hatte einen Grund ...«
Elayne winkte ab. »Caseille, keiner hat etwas falsch gemacht. Niemand wird zur Verantwortung gezogen werden.« Jedenfalls keine der Gardistinnen. Das war ja ein schöner Schlamassel. Talaan und Metarra, die beiden Lehrlinge der Windsucherinnen, waren stark in der Macht. Wenn Merilille eine von ihnen dazu hatte überreden können, eine Aes Sedai zu werden, dann hatte sie sich möglicherweise auch selbst davon überzeugen können, dass sie, wenn sie das Mädchen dorthin brachte, wo man sie in das Novizinnenbuch eintragen konnte, einen ausreichenden Grund hatte, um ihr Versprechen zu brechen, die Windsucherinnen zu unterrichten. Und die würden mehr als aufgebracht sein, Merilille zu verlieren, und außer sich vor Zorn über den Verlust ihres Lehrlings. Sie würden jedem die Schuld geben, und vor allem Elayne.
»Ist Merililles Abreise schon allgemein bekannt?«, fragte sie.
»Noch nicht, meine Lady, aber wer auch immer die Pferde gesattelt und das Maultier beladen hat, wird nicht den Mund halten. Stallburschen haben nicht viel, worüber sie klatschen können.« Also mehr ein Buschfeuer als ein Schlamassel, und es bestand kaum eine Chance, es zu löschen, bevor es die Scheune erreichte.
»Ich hoffe, Ihr esst nachher mit mir, Monaelle«, sagte Elayne, »aber jetzt müsst Ihr mich entschuldigen.« Ob sie ihrer Hebamme nun gegenüber verpflichtet war oder nicht, sie wartete nicht die Zustimmung der anderen Frau ab. Der Versuch, das Feuer zu löschen, würde vielleicht verhindern, dass die Flammen auf die Scheune übersprangen. Vielleicht. »Caseille, informiert Birgitte und sagt ihr, sie soll den Wächtern am Tor sofort den Befehl übermitteln, nach Merilille Ausschau zu halten. Ich weiß, ich weiß, vermutlich hat sie die Stadt schon längst verlassen, und die Torwächter würden sowieso keine Aes Sedai aufhalten, aber vielleicht können sie ihre Abreise verzögern oder ihrer Begleiterin so viel Angst einjagen, dass sie zurück in die Stadt eilt und sich da versteckt. Sumeko, würdet Ihr Reanne bitten, jede Kusine, die nicht Reisen kann, in die Stadt zu schicken und die Straßen zu durchkämmen? Es ist kaum der Hoffnung wert, aber vielleicht war Merilille der Meinung, dass es zu spät war, um heute noch aufzubrechen. Überprüft jedes Gasthaus, den Silbernen Schwan eingeschlossen ...«
Sie hoffte, dass Rand heute etwas Wunderbares getan hatte, aber im Moment konnte sie keine Zeit darauf verschwenden, auch nur darüber nachzudenken. Sie musste einen Thron erobern und sich mit wütenden Atha'an Miere auseinander setzen, und zwar hoffentlich, bevor sie ihren Ärger an ihr ausließen. Kurz gesagt, es war ein Tag wie jeder andere seit ihrer Rückkehr nach Caemlyn, und das bedeutete, sie hatte alle Hände voll zu tun.