Die Luft in dem Zimmer war gerade ausreichend wärmer als draußen, um die Scheiben in den roten Fensterrahmen beschlagen zu lassen, und das Glas enthielt Blasen, aber Cadsuane schaute hinaus, als könnte sie die triste Landschaft deutlich sehen. Sie konnte sie sogar mehr als nur deutlich sehen. Ein paar unselige Leute, dick vermummt — nur die formlosen Röcke und Hosen unterschieden die Männer von den Frauen —, stampften über die schlammigen Felder, die das Herrenhaus umgaben, manchmal blieben sie auch stehen, um die Erde abzutasten. Nicht mehr lange, und sie konnten mit Pflügen und der Aussaat beginnen, aber allein ihre Inspektion war ein Zeichen, dass bald der Frühling kommen würde. Der Wald jenseits der Felder bestand nur aus dunklen, kahlen Ästen, die sich vor dem dunkelgrau verwaschenen Morgenhimmel abzeichneten. Eine Schneedecke hatte den Ausblick weniger trostlos erscheinen lassen, aber hier schneite es selten und dann nur leicht, und die Spuren von einem Schneefall überdauerten nur selten bis zum nächsten. Aber ihr fielen nur wenige Orte ein, die besser für ihre Zwecke geeignet gewesen wären, hier, kaum einen harten Tagesritt östlich vom Rückgrat der Welt entfernt. Wer würde schon darauf kommen, innerhalb der Grenzen von Tear zu suchen? Aber war es leicht gewesen, den Jungen davon zu überzeugen, hier zu bleiben? Mit einem Seufzer wandte sie sich vom Fenster ab und fühlte, wie der Goldschmuck in ihrem Haar schaukelte, die kleinen Monde und Sterne, Vögel und Fische. In letzter Zeit war sie sich ihnen sehr bewusst. Bewusst? Hah! In letzter Zeit hatte sie daran gedacht, mit ihnen schlafen zu gehen.
Das Wohnzimmer war groß, aber nicht überladen, genau wie das Herrenhaus selbst, es gab Simse aus geschnitztem Holz, das rot bemalt war. Die Möbel wiesen helle Farben auf, aber es gab nicht die geringste Vergoldung; die beiden großen Kamine bestanden aus einfachem Stein, waren allerdings ordentlich gemauert, die Kaminböcke aus massivem Eisen waren auf lange Lebensdauer ausgerichtet statt auf Schönheit. Die Feuer in den Kaminen waren klein, weil sie darauf bestanden hatte, die Flammen leckten über halb verbrannte Scheite, aber es genügte, damit sie sich die Hände wärmen konnte, und mehr wollte sie nicht. Sich selbst überlassen hätte Algarin sie mit brüllender Hitze umgeben und mit Dienstboten erstickt, so wenig er auch noch beschäftigte. Als unbedeutender Landedelmann war er alles andere als wohlhabend, aber er zahlte seine Schulden auf Heller und Pfennig, wo die meisten anderen Männer die andere Seite einer Schuld gesehen hätten.
Die schmucklose Tür zum Korridor öffnete sich quietschend — die meisten von Algarins Dienern waren fast genauso alt wie er, und auch wenn sie alles staubfrei und ordentlich und die Lampen mit Öl gefüllt und die Dochte gestutzt hielten, schienen die Türangeln des Hauses regelmäßigem Nachölen zu entgehen —, die Tür öffnete sich quietschend und ließ Verin herein, die noch immer mit einem einfachen braunen Reitgewand und einem Umhang über dem Arm reisefertig gekleidet war und ihr von Grau durchzogenes Haar richtete. Das kantige Gesicht der stämmigen kleinen Schwester zeigte einen bekümmerten Ausdruck, und sie schüttelte den Kopf. »Nun, die Leute vom Meervolk sind in Tear abgeliefert worden, Cadsuane. Ich war nicht in der Nähe des Steins, aber ich habe gehört, dass Hochlord Astoril aufgehört hat, sich über seine schmerzenden Gelenke zu beklagen und sich mit Darlin zusammengesetzt hat. Wer hätte gedacht, dass sich Astoril aufrafft, und dann auch noch auf Darlins Seite? Die Straßen sind voller Waffenmänner, die meisten betrinken sich und raufen miteinander, wenn sie nicht gegen die Atha'an Miere kämpfen. In der Stadt sind so viele Meervolkleute wie an allen anderen Orten zusammen. Harine war entsetzt. Sie eilte zu den Schiffen, sobald sie ein Boot mieten konnte; sie erwartete, zur Herrin der Schiffe ernannt zu werden und alles zu regeln. Es scheint kein Zweifel mehr zu bestehen, dass Nesta din Reas tot ist.«
Cadsuane ließ die kleine, pummelige Frau weiterplaudern. Verin war nicht halbwegs so geistesabwesend, wie sie vorgab. Einige Braune konnten wirklich über die eigenen Füße stolpern, weil sie sie vergaßen, aber Verin gehörte zu jenen, die sich in einen vorgetäuschten Mantel aus Weltfremdheit hüllten. Sie schien zu glauben, dass Cadsuane diesen Mantel für die Realität hielt, aber wenn eine Position bezogen werden musste, dann würde sie es machen. Und was sie ausließ, würde auch aufschlussreich sein. Cadsuane war sich der anderen Schwester weniger sicher, als ihr lieb war. Unsicherheit war ein Teil des Lebens, aber sie war sich zu vieler Dinge unsicher, als dass es ihr gefallen hätte.
Unglücklicherweise musste Min an der Tür gelauscht haben, und diese junge Frau hatte wenig Geduld. »Ich habe Harine gesagt, dass es so sein würde«, protestierte sie und platzte ins Zimmer. »Ich habe ihr gesagt, dass man sie für ihren Handel mit Rand bestrafen würde. Nur danach wird sie Herrin der Schiffe, und ich vermag nicht zu sagen, ob das in zehn Tagen geschieht oder in zehn Jahren.« Schlank und hübsch in ihren Stiefeln mit den roten Absätzen und den dunklen Locken, die bis zu den Schultern reichten, hatte Min eine tiefe, mädchenhafte Stimme, aber sie trug einen roten Jungenmantel und blaue Hosen. Der Mantel war auf den Aufschlägen und den Ärmeln mit bunten Blumen bestickt, und die Hosen wiesen an der Außenseite Streifen auf, aber es waren trotzdem Mantel und Hosen.
»Ihr dürft hereinkommen, Min«, sagte Cadsuane leise. Für gewöhnlich ließ dieser Tonfall die Leute die Ohren spitzen. Zumindest jene, die sie kannten. Auf Mins Wangen erschienen rote Flecken. »Ich fürchte, die Herrin der Wogen hat bereits alles erfahren, was aus Eurer Sicht zu erfahren war. Aber Eurer Eile nach zu urteilen, habt Ihr vielleicht die Aura von jemand anderem gelesen und wollt mir erzählen, was Ihr gesehen habt?« Die seltsame Fähigkeit des Mädchens hatte sich in der Vergangenheit als nützlich erwiesen und würde es zweifellos auch wieder sein. Möglicherweise. Soweit Cadsuane es sagen konnte, log sie nicht, wenn sie beschrieb, was sie in den Bildern und Auren las, die sie um Menschen herumschweben sah, aber sie erzählte es auch nicht immer frei heraus. Vor allem nicht, wenn es um die eine Person ging, über die Cadsuane gern vor allen anderen Bescheid gewusst hätte.
Ob nun rote Wangen oder nicht, Min hob stur das Kinn. Sie hatte sich seit Shadar Logoth verändert, vielleicht hatte es auch schon früher angefangen, aber wie dem auch sein mochte, es war keine Veränderung zum Besseren. »Rand will Euch sehen. Er hat gesagt, ich soll Euch bitten, aber Ihr müsst deswegen nicht schnippisch werden.«
Cadsuane sah sie bloß an und ließ die Stille sich ausdehnen. Schnippisch? Eindeutig nicht zum Besseren. »Sagt ihm, ich komme, wenn ich kann«, entgegnete sie schließlich. »Schließt die Tür hinter Euch fest ins Schloss, Min.« Die junge Frau öffnete den Mund, als wollte sie noch mehr sagen, aber wenigstens bewies sie genug Verstand, es ungesagt zu lassen. Sie brachte sogar trotz ihrer albernen Stiefel einen passablen Knicks zustande und schloss die Tür fest hinter sich. Tatsächlich fehlte nicht viel, um es als Zuknallen zu bezeichnen.
Verin schüttelte wieder den Kopf und gab ein Lachen von sich, das nicht besonders amüsiert klang. »Sie liebt den jungen Mann, Cadsuane, und sie hat ihr Herz in seine Tasche gesteckt. Was auch immer Ihr sagt oder tut, sie würde eher ihm folgen als ihrem Verstand. Ich glaube, sie hat Angst, dass er beinahe unter ihren Händen gestorben wäre, und Ihr wisst, wie das bei einer Frau dazu führen kann, dass sie sich entschlossen an ihm festklammert.«
Cadsuane presste die Lippen zusammen. Verin wusste mehr über diese Art Beziehung zu Männern als sie — sie hatte nie etwas davon gehalten, sich mit ihren Behütern einzulassen, so wie es manche Grüne taten, und andere Männer waren nie in Frage gekommen —, aber die Braune war ohne es zu wissen einer Wahrheit sehr nahe gekommen. Zumindest glaubte Cadsuane nicht, dass die andere Schwester wusste, dass Min mit dem jungen al'Thor verbunden war. Sie selbst wusste es auch nur, weil das Mädchen in einem unbedachten Augenblick zu viel gesagt hatte. Selbst die verschlossenste Muschel musste schließlich ihr Fleisch preisgeben, sobald man die erste kleine Öffnung in die Schale gemacht hatte. Manchmal gab sie auch eine unerwartete Perle preis. Ja, Min würde den Jungen am Leben erhalten wollen, ob sie ihn nun liebte oder nicht, aber nicht mehr, als Cadsuane es wollte.
Verin legte den Umhang über eine hohe Stuhllehne, ging zum nächsten Kamin und streckte die Hände aus, um sie vor den niedrigen Flammen zu wärmen. Man konnte nicht behaupten, dass Verin daherglitt, aber sie war anmutiger, als ihre massige Gestalt vermuten ließ. Wie viel von ihr war tatsächlich eine Täuschung? Jede Aes Sedai verbarg sich im Laufe der Zeit hinter verschiedenen Masken. Nach einer Weile wurde es zur Gewohnheit. »Ich glaube, dass die Situation in Tear doch noch friedlich geregelt werden kann«, sagte sie und schaute ins Feuer. Sie hätte genauso gut mit sich selbst sprechen können. Oder es Cadsuane glauben lassen wollen. »Hearne und Simaan verzweifeln beinahe, sie fürchten, dass die anderen Hochlords aus Illian zurückkehren und sie in der Stadt gefangen setzen. Möglicherweise sind sie bereit, Darlin zu akzeptieren, zieht man ihre anderen Möglichkeiten in Betracht. Estanda ist da aus härterem Holz geschnitzt, aber wenn man sie davon überzeugen kann, dass es für sie von Vorteil ist...«
»Ich habe Euch gesagt, Ihr sollt nicht in ihre Nähe gehen«, unterbrach Cadsuane sie streng.
Die pummelige Frau blinzelte überrascht. »Das bin ich auch nicht. Die Straßen sind immer voller Gerüchte, und ich weiß, wie man Gerüchte durchsieben muss, um etwas Wahrheit herauszubekommen. Ich habe Alanna und Rafela gesehen, aber bevor sie mich sehen konnten, habe ich mich hinter einen Burschen geduckt, der von einem Karren Fleischpasteten verkaufte. Ich bin sicher, dass sie mich nicht gesehen haben.« Sie hielt inne und wartete offensichtlich darauf, dass Cadsuane erklärte, warum man ihr befohlen hatte, auch die anderen Schwestern zu meiden.
»Ich muss jetzt zu dem Jungen, Verin«, sagte Cadsuane stattdessen. Das war das Problem, wenn man einwilligte, jemanden zu beraten. Selbst wenn man sämtliche Bedingungen stellte, die man wollte — jedenfalls die meisten —, musste man dennoch früher oder später zu ihnen, wenn sie nach einem verlangten. Irgendwann. Aber es gab ihr einen Grund, Verins Neugier zu entgehen. Die Antwort war simpel. Wenn man versuchte, jedes Problem selbst zu lösen, löste man am Ende gar keine. Und bei einigen Problemen spielte es auf lange Sicht gesehen wirklich keine Rolle, wie man sie löste. Aber wenn sie Verin die Antwort schuldig blieb, hatte sie etwas, worüber sie nachdenken konnte. Wenn sich Cadsuane bei jemandem nicht sicher war, dann wollte sie, dass sie sich auch bei ihr unsicher waren.
Verin nahm ihren Umhang und verließ gemeinsam mit ihr den Raum. Wollte die andere Frau sie etwa begleiten? Aber im Korridor begegneten sie Nesune, die eilig ausschritt. Sie blieb abrupt stehen. Nicht mehr als eine Hand voll Leute hatten es je geschafft, Cadsuane zu ignorieren, aber Nesune bot eine überzeugende Vorstellung; ihre fast schwarzen Augen richteten sich auf Verin.
»Dann seid Ihr also zurück?« Die besten Braunen hatten so eine Art, das Offensichtliche festzustellen. »Wenn ich mich recht entsinne, habt Ihr eine Abhandlung über die Tiere des Versunkenen Landes geschrieben.« Was bedeutete, dass Verin es getan hatte; Nesune erinnerte sich an alles, was sie je gesehen hatte — eine nützliche Fähigkeit, wäre Cadsuane sich ihrer nur sicher genug gewesen, um sie zu benutzen. »Lord Algarin hat mir die Haut einer großen Schlange gezeigt, die, wie er behauptet, aus dem Versunkenen Land stammt, aber ich glaube, es handelt sich um die gleiche, die ich gesehen habe, als ich in...« Verin warf Cadsuane einen hilflosen Blick über die Schulter zu, als die größere Frau sie am Ärmel mit sich zerrte, aber sie hatten noch keine drei Schritte zurückgelegt, als sie auch schon in eine heftige Diskussion über die verdammte Schlange vertieft war.
Es war ein bemerkenswerter Anblick, und in gewisser Weise Besorgnis erregend. Nesune stand loyal zu Elaida oder hatte es zumindest getan, während Verin zu denen gehörte, die Elaida stürzen wollten. Oder zumindest dazu gehört hatte. Jetzt unterhielten sie sich angeregt über Schlangen. Dass beide dem Jungen die Treue geschworen hatten, dafür konnte man seinen Einfluss als Ta'veren verantwortlich machen und dass er unbewusst das Muster um sich herum beeinflusste, aber reichte der Eid aus, dass sie ihre gegenteilige Meinung darüber, wer auf dem Amyrlin-Sitz sitzen sollte, völlig ignorierten? Oder wurden sie davon beeinflusst, einen Ta'veren in unmittelbarer Nähe zu haben? Das hätte Cadsuane sehr gern gewusst. Keines ihrer Schmuckstücke beschützte sie vor einem Ta'veren. Zwar hatte sie keine Ahnung, was zwei der Fische und einer der Monde bewirkte, aber es erschien unwahrscheinlich, dass sie dies taten. Es hätte auch einfach an der Tatsache liegen können, dass sowohl Verin wie auch Nesune Braune waren. Braune konnten alles um sich herum vergessen, wenn sie etwas studierten. Schlangen! Hah! Die kleinen Schmuckstücke baumelten, als sie den Kopf schüttelte, bevor sie sich abwandte und die beiden Braunen hinter sich ließ. Was konnte der Junge wollen? Die Rolle einer Beraterin hatte ihr nie gefallen, ob sie nun nötig war oder nicht.
Zugluft in den Korridoren bewegte die wenigen Wandbehänge, sie alle waren altmodisch und zeigten die Abnutzung, viele Male abgenommen und wieder aufgehängt worden zu sein. Das Herrenhaus war wie ein weiträumiges Bauernhaus gewachsen, man hatte Räume hinzugefügt, wenn es das Vermögen und die Anzahl der Familienmitglieder erlaubten. Haus Pendaloan war nie reich gewesen, aber es hatte Zeiten gegeben, zu denen es viele Köpfe gezählt hatte. Die Resultate zeigten sich in mehr als in abgenutzten, altmodischen Wandbehängen. Die Simse waren hell gestrichen, rot, gelb oder blau, aber die Korridore variierten in Breite und Höhe, und die Verbindungen waren manchmal etwas schief. Fenster, die einst auf die Felder hinausgeblickt hatten, blickten jetzt auf Höfe, die für gewöhnlich nur ein paar Bänke aufwiesen. Wenn man von einem Ort zum anderen wollte, gab es manchmal keine andere Möglichkeit, als überdachte Kolonnaden zu benutzen, die auf die Höfe hinausschauten. Die Säulen waren meistens nur aus Holz, aber selbst wenn es keine Schnitzarbeiten gab, hatte man sie immerhin mutig bemalt.
Auf einem dieser Gänge mit dicken grünen Säulen standen zwei Schwestern zusammen und beobachteten die Aktivitäten im Hof unter ihnen. Zumindest standen sie zusammen, als Cadsuane die Tür zur Kolonnade öffnete. Beldeine sah sie nach draußen treten, erstarrte und fummelte an der Stola mit den grünen Fransen herum, die sie noch keine fünf Jahre trug. Mit ihren hohen Wangenknochen und den leicht schräg stehenden braunen Augen war sie hübsch, aber sie hatte die Alterslosigkeit noch nicht erreicht und sah jünger als Min aus, vor allem, als sie Cadsuane einen frostigen Blick zuwarf und in die andere Richtung eilte.
Merise, ihre Gefährtin, lächelte amüsiert hinter ihr her und richtete ihre eigene grün befranste Stola. Merise war hoch gewachsen und trug das Haar streng zurückgekämmt; sie war für gewöhnlich sehr ernst und lächelte nur selten.
»Beldeine, sie macht sich langsam Sorgen, dass sie noch keinen Behüter hat«, sagte sie mit ihrem tarabonischen Akzent, als Cadsuane neben ihr stehen blieb, obwohl sich ihre blauen Augen wieder auf den Hof richteten. »Sie scheint einen Asha'man in Betracht zu ziehen, wenn sie einen findet. Ich habe ihr gesagt, sie soll mit Daigian sprechen. Wenn ihr das nicht hilft, wird es Daigian helfen.«
Sämtliche Behüter hatten sich auf dem gepflasterten Hof versammelt, trotz der Kälte waren sie in Hemdsärmeln. Die meisten von ihnen saßen auf den gestrichenen Holzbänken und sahen zu, wie zwei von ihnen mit hölzernen Übungsschwertern trainierten. Jahar, einer von Merises drei Behütern, war ein ansehnlicher, von der Sonne gebräunter junger Mann. Die Silberglöckchen an den Enden seiner beiden langen Zöpfe bimmelten durch die Wut seines Angriffs. Er bewegte sich wie eine zubeißende Schwarzlanze. Kein Windhauch wehte, aber der achtzackige Stern schien sich wie eine Kompassrose gegen Cadsuanes Haar zu drehen. Hätte sie ihn in der Hand gehalten, hätte sie fühlen können, wie er vibrierte. Aber ihr war ja bereits bekannt, dass Jahar ein Asha'man war, und der Stern hätte ihn nicht gekennzeichnet, sondern lediglich mitgeteilt, dass ein Mann in der Nähe war, der die Macht lenken konnte. Sie hatte gelernt, dass der Stern umso härter vibrierte, je mehr Machtlenker da waren. Jahars Gegner, ein sehr großer, breitschultriger Bursche mit steinernem Gesicht und einem geflochtenen Lederband um die ergrauenden Schläfen, das schulterlanges Haar zurückhielt, war da unten nicht der zweite Asha'man, aber er war auf seine Weise tödlich. Lan schien sich wirklich nicht so schnell zu bewegen, aber er... floss. Seine Klinge aus zusammengebundenen Leisten war immer zur Stelle, um Jahars abzuwehren, brachte den jungen Mann immer eine Spur weiter aus seiner Linie.
Plötzlich traf Lans Holzklinge mit einem lauten Knall Jahars Seite, mit Stahl ein tödlicher Schlag. Während sich der jüngere Mann noch immer von der Wucht des Treffers krümmte, ging Lan zurück in die Ausgangsstellung, die lange Klinge nach oben gerichtet. Nethan, ein weiterer von Nerises Behütern, stand auf, ein schmaler Bursche mit weißem Haar an den Schläfen, der trotz seiner Größe noch immer eine Handspanne kleiner als Lan war. Jahar winkte ihn fort, hob die Übungsklinge erneut und verlangte laut nach einem weiteren Durchgang.
»Hält sich Daigian noch immer aufrecht?«, fragte Cadsuane.
»Besser, als ich erwartet hätte«, gab Merise zu. »Sie verbringt zu viel Zeit in ihrem Zimmer, aber sie hält ihre Tränen verborgen.« Ihr Blick wich von den Männern, die die Klingen tanzen ließen, zu einer grün gestrichenen Bank, auf der Verins untersetzter, grauhaariger Tomas neben einem Burschen saß, der nur noch über einen weißen Haarkranz verfügte. »Damer, er wollte sein Heilen bei ihr versuchen, aber Daigian hat abgelehnt. Sie hat zwar vermutlich nie zuvor einen Behüter gehabt, aber sie weiß, dass die Trauer über einen toten Behüter ein Teil der Erinnerung an ihn ist. Ich bin überrascht, dass Corele überhaupt in Betracht zog, es zu erlauben.«
Mit einem Kopfschütteln richtete die Schwester aus Tarabon ihre Aufmerksamkeit wieder auf Jahar. Die Behüter anderer Schwestern interessierten sie nicht, jedenfalls nicht auf die Weise, wie es ihre eigenen taten. »Asha'man trauern wie Behüter. Ich dachte, Jahar und Damer wären nur dem Beispiel der anderen gefolgt, aber er sagt, es wäre auch ihre Sitte. Natürlich habe ich sie nicht gestört, aber ich habe gesehen, wie sie in Erinnerung an Daigians jungen Eben das Glas erhoben haben. Sie erwähnten nie seinen Namen, aber sie stellten einen vollen Becher für ihn hin. Bassane und Nethan wissen, dass sie jeden Tag sterben können, und sie akzeptieren es. Jahar erwartet den Tod; er erwartet ihn jeden Tag. Für ihn ist jede Stunde mit Sicherheit seine letzte.«
Cadsuane konnte sich kaum davon zurückhalten, die andere Frau offen anzusehen. Es geschah nicht oft, dass Merise so lange sprach. Ihre Miene war reglos, aber etwas hatte sie aufgebracht. »Ich weiß, dass Ihr es übt, Euch mit ihm zu verknüpfen«, sagte Cadsuane taktvoll und schaute in den Hof hinunter. Mit einer anderen Schwester über ihren Behüter zu sprechen erforderte Takt. Das war mit ein Grund, warum sie stirnrunzelnd in den Hof sah. »Habt Ihr schon herausfinden können, ob der junge al'Thor bei Shadar Logoth Erfolg gehabt hat? Ist es ihm wirklich gelungen, die männliche Hälfte der Quelle zu säubern?«
Corele übte sich ebenfalls darin, sich mit Damer zu verknüpfen, aber die Gelbe war so auf ihre erfolglosen Bemühungen konzentriert, herauszufinden, wie sie mit Saidar das schaffen konnte, was er mit Saidin machte, dass sie nicht bemerkt hätte, wenn der Schmutz des Dunklen Königs ihr den Hals hinuntergelaufen wäre. Cadsuane fand es bedauerlich, dass sie die Stola nicht fünfzig Jahre später errungen hatte, denn dann wäre sie selbst mit einem der Männer den Behüterbund eingegangen und hätte nicht fragen müssen. Aber fünfzig Jahre hätten bedeutet, dass Norla in ihrem kleinen Haus in den Schwarzen Bergen gestorben wäre, bevor Cadsuane Melaidhrin das erste Mal einen Fuß in die Weiße Burg gesetzt hatte. Das hätte einen großen Teil der Geschichte verändert. Unter anderem wäre es sehr unwahrscheinlich gewesen, dass sie auch nur in der Nähe ihrer derzeitigen Situation gewesen wäre. Also fragte sie taktvoll und wartete.
Merise blieb einen langen Moment still, dann seufzte sie.
»Ich weiß es nicht, Cadsuane. Saidar ist ein ruhiger Ozean, der einen dahin bringt, wohin man will, solange man die Strömungen kennt und sich von ihnen tragen lässt. Saidin...
ist eine Lawine aus brennendem Gestein. Zusammenbrechende Eisberge. Es fühlt sich sauberer an als bei meiner ersten Verknüpfung mit Jahar, aber in diesem Chaos könnte sich alles verbergen. Alles.«
Cadsuane nickte. Sie vermochte nicht zu sagen, ob sie eine andere Antwort erwartet hatte. Warum sollte sie auch Gewissheit über eine der beiden wichtigsten Fragen der Welt erhalten, wenn sie sie schon bei simpleren Dingen nicht bekam? Auf dem Hof landete Lans Klinge diesmal nicht mit einem lauten Knall, sondern kurz vor Jahars Kehle, und der größere Mann glitt zurück in die Ausgangsstellung. Nethan stand erneut auf, und wieder winkte Jahar ihn zurück, hob wütend das Schwert und nahm die Ausgangsstellung ein. Bassane, Merises dritter Behüter, ein kleiner breiter Bursche, der fast so dunkel wie Jahar war, obwohl er aus Cairhien kam, lachte und machte eine abfällige Bemerkung über zu ehrgeizige Männer, die über die eigenen Klingen stolperten. Tomas und Damer wechselten einen Blick und schüttelten den Kopf; Männer in diesem Alter hatten für gewöhnlich schon lange aufgehört zu spotten. Das harte Knallen von Holz auf Holz begann erneut.
Die anderen vier Behüter waren nicht das einzige Publikum, das Lan und Jahar auf dem Hof zusah. Das schlanke Mädchen, das ihr Haar zu einem langen Zopf geflochten trug und besorgt von der roten Bank aus zusah, war der Grund für Cadsuanes Stirnrunzeln. Das Kind würde anderen Leuten seinen Großen Schlangenring unter die Nase halten müssen, um für eine Aes Sedai gehalten zu werden, was sie immerhin war, wenn auch nur formal gesehen. Es lag nicht daran, dass Nynaeve ein Mädchengesicht hatte; Beldeine sah auch noch so jung aus. Nynaeve rutschte auf der Bank herum, immer kurz davor aufzuspringen. Gelegentlich bewegten sich ihre Lippen, als würde sie lautlos Anfeuerungsrufe schreien, und manchmal verdrehten sich ihre Hände, als wollte sie demonstrieren, wie Lan sein Schwert hätte führen müssen. Ein leichtfertiges Mädchen, voller Leidenschaften, das nur selten zeigte, dass es über einen funktionierenden Verstand verfügte. Min war nicht die Einzige, die wegen eines Mannes Herz und Kopf in den Brunnen geworfen hatte. Nach den Sitten der toten Malkier verkündete der rote Punkt, der auf Nynaeves Stirn gemalt war, ihre Ehe mit Lan, auch wenn Gelbe nur selten ihre Behüter heirateten. Was das anging, taten das nur sehr wenige Schwestern. Und natürlich war Lan nicht Nynaeves Behüter, auch wenn er und das Mädchen sich so aufführten. Zu wem er gehörte, war ein Thema, dem sie sich entzogen wie Diebe in der Nacht.
Viel interessanter — und Besorgnis erregender — war Nynaeves Schmuck, eine lange Goldkette, ein schmaler Goldgürtel und dazu passende Armreife und Ringe, deren geschmacklose rote, grüne und blaue Edelsteine sich mit ihrem gelb geschlitzten Kleid bissen. Und sie trug auch dieses seltsame Schmuckstück an der linken Hand, goldene Ringe, die mit flachen Ketten mit einem goldenen Armreif verbunden waren. Das war ein Angreal, das viel stärker als Cadsuanes Haarschmuck war. Die anderen ähnelten auch ihren Stücken, Ter'angreale, die offensichtlich zur gleichen Zeit entstanden waren, während der Zerstörung der Welt, als eine Aes Sedai vielen Feinden gegenüberstand, vor allem Männern, die Machtlenker waren. Es war eine seltsame Vorstellung, dass auch sie Aes Sedai genannt worden waren. Das war, als würde man einen Mann namens Cadsuane begegnen.
Die Frage war nur — der Morgen schien voller Fragen zu sein, und die Sonne hatte nicht einmal den halben Weg zum Zenit zurückgelegt —, die Frage war nur, trug das Mädchen den Schmuck wegen des Jungen oder den Asha'man? Oder wegen Cadsuane Melaidhrin? Nynaeve hatte ihre Loyalität zu dem jungen Mann aus ihrem Dorf gezeigt, aber sie hatte auch ihr Misstrauen ihm gegenüber verraten. Sie verfügte über einen Verstand, wenn sie sich entschied, ihn zu benutzen. Aber bis diese Frage beantwortet war, war es viel zu gefährlich, dem Mädchen zu vertrauen. Leider gab es heutzutage kaum etwas, das nicht gefährlich erschien.
»Jahar wird stärker«, sagte Merise unvermittelt.
Einen Augenblick lang sah Cadsuane die andere Grüne stirnrunzelnd an. Stärker? Das Hemd des jungen Mannes klebte feucht an seinem Rücken, während Lan nicht einmal in Schweiß ausgebrochen zu sein schien. Dann begriff sie. Merise sprach von der Macht. Aber Cadsuane hob nur fragend eine Braue. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie sich das letzte Mal eine Überraschung hatte sichtlich anmerken lassen. Vermutlich vor diesen vielen Jahren, in den Schwarzen Bergen, als sie anfing, sich den Schmuck zu verdienen, den sie heute trug.
»Zuerst glaubte ich, dass die Art, wie diese Asha'man ausgebildet werden, ihn bereits zu seiner vollen Kraft getrieben hätte«, sagte Merise und schaute auf die beiden Männer hinunter, die mit ihren Übungsschwertern kämpften. Nein; sie blickte nur auf Jahar. Es war nur ein leichtes Zusammenkneifen der Augen, aber sie reservierte ihr Stirnrunzeln für jene, die es sehen und ihr Missfallen erkennen konnten. »In Shadar Logoth dachte ich, ich würde es mir einbilden. Vor drei oder vier Tagen war ich halb davon überzeugt, dass ich mich geirrt hatte. Jetzt bin ich sicher, dass es so ist. Wenn Männer in Schüben an Stärke gewinnen, kann keiner sagen, wie stark er werden wird.«
Natürlich sprach sie ihre offensichtliche Sorge nicht aus: dass er stärker als sie werden würde. So etwas zu sagen wäre auf vielerlei Weise undenkbar gewesen, und auch wenn sie sich irgendwie daran gewöhnt hatte, das Undenkbare zu tun — die meisten Schwestern wären bei der Vorstellung, mit einem Mann, der die Macht lenken konnte, den Bund einzugehen, in Ohnmacht gefallen —, bereitete es ihr stets Unbehagen, es auszusprechen. Cadsuane hatte damit kein Problem, aber sie hielt ihre Stimme ausdruckslos. Beim Licht, sie hasste es, taktvoll sein zu müssen. Das heißt, sie hasste zumindest die Notwendigkeit.
»Merise, er scheint zufrieden zu sein.« Merises Behüter schienen immer zufrieden zu sein; sie hatte sie gut im Griff.
»Er ist voller Zorn...« Sie berührte die Schläfe, als wollte sie das Bündel an Emotionen betasten, das sie durch den Bund fühlte. Sie war wirklich aufgebracht! »Keine Wut. Frustration.« Sie griff in ihre grüne Gürteltasche aus Leder und holte eine kleine, emaillierte Anstecknadel hervor, eine gewundene Gestalt in Rot und Schwarz, die wie eine Schlange mit Beinen und einer Löwenmähne aussah. »Ich weiß nicht, wo der junge al'Thor das herhat, aber er hat es Jahar gegeben. Für einen Asha'man ist das wohl das Gleiche, als würde er die Stola erringen. Natürlich musste ich es ihm abnehmen; Jahar ist noch immer in dem Stadium, wo er lernen muss, dass er nur das annehmen kann, was ich ihm erlaube. Aber er ist wegen dieses Dings so aufgebracht... Sollte ich es ihm zurückgeben? In gewisser Weise würde es dann von meiner Hand kommen.«
Cadsuanes Brauen schoben sich nach oben, bevor sie es verhindern konnte. Merise fragte sie wegen eines ihrer Behüter nach Rat? Natürlich war sie es gewesen, die überhaupt erst den Vorschlag gemacht hatte, dem Mann auf den Zahn zu fühlen, aber dieser Grad von Intimität war... Undenkbar? Hah! »Ich bin sicher, was auch immer Ihr entscheidet, wird gut sein.«
Mit einem letzten Blick auf Nynaeve ließ sie die Frau zurück, wie sie mit dem Daumen über die Anstecknadel strich und finster in den Hof sah. Lan hatte Jahar erneut besiegt, aber der junge Mann nahm wieder Aufstellung und verlangte einen weiteren Kampf. Wie auch immer Merise sich entschied, sie hatte bereits eine Sache gelernt, die ihr nicht gefiel. Die Grenzen zwischen Aes Sedai und Behüter waren immer so klar wie die Verbindungen gewesen; Aes Sedai befahlen, und Behüter gehorchten. Aber wenn sich von allen Leuten ausgerechnet Merise wegen einer Anstecknadel aufregte — Merise, die ihre Behüter mit strenger Hand geführt hatte —, dann würde man neue Grenzen abstecken müssen, zumindest mit Behütern, die die Macht lenken konnten. Es erschien unwahrscheinlich, dass die Verbindung mit ihnen jetzt aufhören würde; dafür war Beldeine der Beweis. Die Menschen veränderten sich eigentlich nie, aber die Welt tat es, und zwar mit beunruhigender Regelmäßigkeit. Damit musste man einfach leben — oder es zumindest aussitzen. Dann und wann konnte man mit Glück die Richtung dieser Veränderungen beeinflussen, aber selbst wenn man eine Veränderung aufhielt, setzte man nur eine andere in Gang.
Wie erwartet fand sie die Tür zu den Gemächern des Jungen nicht unbewacht vor. Natürlich war Alivia da; sie saß auf einer Bank neben der Tür, die Hände geduldig im Schoß gefaltet. Die hellblonde Seanchanerin hatte sich selbst zu einer Art Beschützerin des Jungen ernannt. Alivia hatte es ihm zu verdanken, dass man sie vom Kragen einer Damane befreit hatte, aber es steckte noch mehr dahinter. Min konnte sie beispielsweise nicht ausstehen, und es handelte sich nicht um die übliche Art der Eifersucht. Alivia schien kaum zu wissen, was Männer und Frauen zusammen taten. Aber da war eine Verbindung zwischen ihr und dem Jungen, eine Verbindung, die sich in Blicken zeigte, die auf ihrer Seite Entschlossenheit und auf seiner Hoffnung verriet, so schwer das auch zu glauben war. Bis Cadsuane genau wusste, worum es da ging, wollte sie nichts unternehmen, um sie zu trennen. Alivias scharfe blaue Augen musterten Cadsuane mit respektvollem Misstrauen, aber sie sah keine Feindin. Alivia hielt sich nicht lange mit jenen auf, die sie für al'Thors Feinde hielt.
Die andere Frau ähnelte Alivia von der Größe her, aber die beiden hätten nicht unterschiedlicher sein können, und das nicht nur, weil Elzas Augen braun waren und sie das glatte, alterslose Aussehen einer Aes Sedai hatte, wo Alivia feine Fältchen um die Augen und weiße Strähnen im Haar hatte, die geschickt verborgen waren. Elza sprang auf die Füße, sobald sie Cadsuane sah, stellte sich vor die Tür und wickelte sich fest in ihre Stola ein. »Er ist nicht allein«, sagte sie in eisigem Tonfall.
»Wollt Ihr mir den Weg versperren?«, fragte Cadsuane genauso kalt. Die andoranische Grüne hätte beiseite treten müssen. Elza stand in der Macht weit genug unter ihr, dass sie nicht einmal auf einen Befehl hätte warten dürfen, aber die Frau rührte sich nicht, und ihr Blick wurde tatsächlich hitzig.
Es war eine verzwickte Lage. Fünf weitere Schwestern, die ebenfalls im Herrenhaus wohnten, hatten dem Jungen die Treue geschworen, und diejenigen unter ihnen, die unverbrüchlich zu Elaida gestanden hatten, starrten Cadsuane an, als würden sie ihren Absichten den Jungen betreffend misstrauen. Was natürlich die Frage aufwarf, warum Verin das nicht tat. Aber nur Elza versuchte, sie von ihm fern zu halten. Das Benehmen der Frau stank förmlich nach Eifersucht, was keinen Sinn ergab. Sie konnte kaum glauben, dass sie besser geeignet war, ihn zu beraten, und hätte es auch nur ein Anzeichen gegeben, dass Elza den Jungen als Mann oder auch Behüter begehrte, hätte Min die Zähne gezeigt. Was das anging, verfügte das Mädchen über fein geschliffene Instinkte. Cadsuane hätte mit den Zähnen geknirscht, wäre sie die Art von Frau gewesen, die mit den Zähnen knirschte.
Als sie den Punkt erreicht hatte, an dem sie glaubte, Elza befehlen zu müssen, zur Seite zu treten, beugte sich Alivia vor. »Er hat nach ihr geschickt, Elza«, sagte sie mit ihrem gedehnten Akzent. »Er wird aufgebracht sein, wenn wir sie nicht einlassen. Aufgebracht wegen uns, nicht wegen ihr. Lasst sie eintreten.«
Elza warf der Seanchanerin einen Seitenblick zu, ihre Lippen verzogen sich verächtlich. In der Macht stand Alivia weit über ihr — was das anging, stand sie sogar weit über Cadsuane —, aber in Elzas Augen war sie eine Wilde und eine Lügnerin. Die dunkelhaarige Frau schien kaum zu akzeptieren, dass Alivia eine Damane gewesen war, ganz zu schweigen vom Rest ihrer Geschichte. Aber sie warf Cadsuane einen schnellen Blick zu, dann der Tür hinter ihr, und zog an der Stola. Offensichtlich wollte sie nicht, dass der Junge wütend war. Jedenfalls nicht auf sie.
»Ich sehe nach, ob er bereit ist, Euch zu empfangen«, sagte sie beinahe schon mürrisch. »Lasst sie nicht gehen«, fügte sie in schärferem Tonfall an Alivia gemünzt hinzu, bevor sie sich umdrehte und vorsichtig an der Tür klopfte. Drinnen erscholl eine Männerstimme, und sie öffnete die Tür gerade weit genug, um hineinzuschlüpfen und sie hinter sich ins Schloss zu ziehen.
»Ihr müsst ihr verzeihen«, sagte Alivia in diesem irritierend lang gezogenen, weichen seanchanischen Akzent.
»Ich glaube, es liegt nur daran, dass sie ihren Eid sehr ernst nimmt. Sie ist es nicht gewöhnt, jemandem zu dienen.«
»Aes Sedai halten ihr Wort«, erwiderte Cadsuane trokken. Die Frau entfachte in ihr das Gefühl, als wäre ihre eigene Sprechweise so schnell und abgehackt wie die einer Cairhienerin! »Wir haben keine andere Wahl.«
»Das glaube ich Euch. Aber nur damit Ihr es wisst, auch ich halte mein Wort. Ich schulde ihm alles, was er von mir will.«
Eine faszinierende Bemerkung und eine Öffnung, aber bevor Cadsuane davon Gebrauch machen konnte, kam Elza heraus. Hinter ihr kam Algarin, der den weißen Bart sauber gestutzt trug. Er verneigte sich mit einem Lächeln vor Cadsuane, das die Falten in seinem Gesicht tiefer erscheinen ließ. Sein einfacher Mantel aus dunkler Wolle, der in seinen jüngeren Tagen angefertigt worden war, hing jetzt lose an seinem Körper, und das Haar auf seinem Kopf war dünn. Es gab keine Möglichkeit herauszufinden, warum er den Jungen besucht hatte.
»Er wird Euch jetzt empfangen«, sagte Elza scharf. Beinahe hätte Cadsuane mit den Zähnen geknirscht. Alivia würde warten müssen. Algarin auch.
Der Junge war auf den Beinen, als Cadsuane eintrat; er war fast so groß und breitschultrig wie Lan. Er trug einen schwarzen Mantel mit Gold an den Ärmeln und an dem hohen Kragen. Er ähnelte zu sehr dem Mantel eines Asha'man, den man lediglich mit Stickerei verziert hatte, um ihr zu gefallen, aber sie sagte nichts. Er verbeugte sich höflich, geleitete sie zu einem Stuhl mit quastenverzierten Kissen vor dem Kamin und fragte, ob sie Wein wollte. Der Wein in der Kanne auf dem Seitentisch mit den beiden Pokalen war kalt, aber er könnte nach frischem schicken. Sie hatte hart genug daran gearbeitet, ihn zu höflichem Benehmen zu zwingen; er konnte jeden Mantel tragen, den er wollte. Es gab wichtigere Dinge, in denen er geleitet werden musste. Oder gestoßen oder nötigenfalls auch gezogen. Sie würde weder Zeit noch Kraft auf seine Kleidung verschwenden.
Sie schüttelte höflich den Kopf und lehnte den Wein ab.
Ein Pokal bot viele Möglichkeiten — man konnte einen Schluck trinken, wenn man einen Augenblick zum Nachdenken brauchte; man konnte hineinblicken, wenn man seine Augen verbergen wollte —, aber diesen jungen Mann musste man jeden Augenblick im Auge behalten. Sein Gesicht verriet fast genauso wenig wie das einer Schwester. Mit dem dunkeln, rötlichen Haar und den blaugrauen Augen hätte er für einen Aiel durchgehen können, aber nur wenige Aiel hatten so kalt blickende Augen. Sie ließen den Morgenhimmel, in den sie zuvor gestarrt hatte, warm erscheinen. Kälter, als sie vor Shadar Logoth gewesen waren. Unglücklicherweise auch härter. Und sie sahen auch... müde aus.
»Algarin hatte einen Bruder, der die Macht lenken konnte«, sagte er und drehte sich zu einem ihr gegenüber befindlichen Stuhl um. In der halben Drehung taumelte er. Er hielt sich mit einem hervorgestoßenen Lachen an der Stuhllehne fest und tat so, als wäre er über die eigenen Stiefel gestolpert, aber das war er nicht. Und er hatte nicht nach Saidin gegriffen — sie hatte ihn taumeln sehen, wenn er das tat —, oder ihr Schmuck hätte sie gewarnt. Corele meinte, er würde nur etwas mehr Schlaf brauchen, um sich von Shadar Logoth zu erholen. Beim Licht, sie musste den Jungen am Leben erhalten, oder alles wäre vergebens gewesen!
»Ich weiß«, sagte sie. Und da es den Anschein hatte, dass Algarin ihm alles erzählt hatte, fügte sie hinzu: »Ich war diejenige, die Emarin gefangen genommen und nach Tar Valon gebracht hat.« In mancherlei Augen war das eine seltsame Sache, für die Algarin ihr da dankbar war, aber sein jüngerer Bruder hatte die Dämpfung mehr als zehn Jahre lang überlebt, nachdem sie ihm geholfen hatte, damit fertig zu werden. Die Brüder hatten sich nahe gestanden.
Die Brauen des Jungen zuckten, als er sich setzte. Er hatte es nicht gewusst. »Algarin will getestet werden.«
Sie erwiderte seinen Blick ruhig und hielt den Mund. Algarins überlebende Kinder waren verheiratet. Vielleicht war er bereit, sein Stück Land an seine Nachkommen abzugeben. Und ein Mann mehr oder weniger, der die Macht lenken konnte, machte zu diesem Zeitpunkt kaum einen Unterschied. Abgesehen von dem Jungen, der sie anstarrte.
Nach einem Moment bewegte sich ihr Kinn, die Andeutung eines Nickens. Hatte er sie auf die Probe stellen wollen? »Ihr braucht nicht zu befürchten, dass ich Euch nicht sage, wenn Ihr Euch wie ein Narr benehmt, Junge.« Die meisten Leute erinnerten sich nach einer Begegnung mit ihr, dass sie eine scharfe Zunge hatte. Dieser junge Mann musste gelegentlich daran erinnert werden. Er grunzte. Es hätte ein Lachen sein können. Es hätte bedauernd sein können. Sie rief sich ins Gedächtnis zurück, dass er gewollt hatte, dass sie ihm etwas beibrachte, auch wenn er nicht zu wissen schien, was es war. Egal. Sie hatte eine Liste, von der sie auswählen konnte, und sie war noch ganz oben.
Sein Gesicht hätte aus Stein gemeißelt sein können, so viel Gefühlsregungen zeigte er, aber er sprang auf die Füße und begann, zwischen Kamin und Tür auf und ab zu gehen, die Fäuste hinter dem Rücken verschränkt. »Ich habe mich mit Alivia unterhalten, über die Seanchaner«, fuhr er fort.
»Sie nennen ihre Armee aus gutem Grund die Immer Siegreiche Armee. Sie hat noch nie einen Krieg verloren. Schlachten ja, aber nie einen Krieg. Wenn sie eine Schlacht verlieren, setzen sie sich hin und finden heraus, welche Fehler sie begangen haben oder was der Feind richtig gemacht hat. Dann ändern sie das, was geändert werden muss, damit sie gewinnen.«
»Eine vernünftige Methode«, sagte sie, als der Wortstrom versiegte. Offenbar erwartete er einen Kommentar.
»Ich kenne Männer, die das Gleiche tun. Zum Beispiel Davram Bashere. Gareth Bryne. Rodel Ituralde. Agelmar Jagad. Selbst Pedron Niall hat es getan, als er noch am Leben war. Sie alle werden als große Hauptmänner angesehen.«
»Ja«, sagte er und ging noch immer auf und ab. Er sah sie nicht an, vielleicht sah er sie auch gar nicht, aber er lauschte ihren Worten. Man konnte nur hoffen, dass er auch zuhörte. »Fünf Männer, alles große Hauptmänner. Aber die Seanchaner tun es alle. Und zwar seit eintausend Jahren. Sie ändern, was sie ändern müssen, aber sie geben nicht auf.«
»Zieht Ihr etwa die Möglichkeit in Betracht, dass sie nicht besiegt werden können?«, fragte sie ruhig. Ruhe war immer gut, bis man die Fakten kannte, und für gewöhnlich auch danach.
Der Junge wandte sich ihr abrupt zu; sein ganzer Körper war angespannt, und seine Augen waren wie Eis. »Ich kann sie am Ende besiegen«, sagte er und kämpfte darum, höflich zu bleiben. Das war gut so. Je weniger sie beweisen musste, dass sie Verstöße gegen ihre Regeln bestrafen konnte und würde, desto besser. »Aber...« Mit einem Knurren hielt er inne, als lauter Streit auf dem Korridor durch die Tür drang.
Einen Augenblick später schwang die Tür auf, und Elza kam rückwärts hinein, während sie noch immer mit lauter Stimme protestierte und mit ausgestreckten Armen versuchte, zwei andere Schwestern zurückzuhalten. Erian, deren blasses Gesicht gerötet war, stieß die andere Grüne vor sich her. Sarene, eine Frau, die so schön war, dass sie Erian fast unscheinbar aussehen ließ, trug eine kühlere Miene zur Schau, wie man es von einer Weißen auch erwarten konnte, aber sie schüttelte den Kopf aufgebracht und heftig genug, um die bunten Perlen in ihren Zöpfen aneinander schlagen zu lassen. Sarene hatte Temperament, auch wenn sie es für gewöhnlich fest unter Kontrolle hielt.
»Bartol und Rashan kommen«, verkündete Erian laut, und die Anspannung verstärkte ihren illianischen Akzent. Das waren ihre beiden Behüter, die sie in Cairhien zurückgelassen hatte. »Ich habe nicht nach ihnen geschickt, aber jemand ist mit ihnen Gereist. Vor einer Stunde spürte ich sie plötzlich näher kommen, und eben schon wieder. Sie kommen auf uns zu.«
»Mein Vitalien kommt ebenfalls näher«, sagte Sarene.
»Ich vermute, er wird in ein paar Stunden hier sein.«
Elza ließ die Arme sinken, auch wenn sie der Steifheit ihres Nackens nach zu urteilen die beiden Schwestern noch immer böse anstarrte. »Mein Fearil wird auch bald hier sein«, murmelte sie. Er war ihr einziger Behüter; es wurde behauptet, dass sie verheiratet waren, und Grüne, die heirateten, nahmen nur selten zur gleichen Zeit einen zweiten Behüter. Cadsuane fragte sich, ob sie es ihnen mitgeteilt hätte, wenn die anderen nicht davon angefangen hätten.
»Ich habe nicht damit gerechnet, dass es so bald sein würde«, sagte der Junge leise, aber mit Stahl in der Stimme. »Ich hätte jedoch nicht damit rechnen dürfen, dass die Ereignisse auf mich warten, nicht wahr, Cadsuane?«
»Ereignisse warten nie auf einen«, erwiderte sie und stand auf. Erian zuckte zusammen, als hätte sie sie erst jetzt entdeckt, obwohl Cadsuane davon überzeugt war, dass ihre Züge so unbewegt wie die des Jungen waren. Vielleicht sogar genauso steinern. Was auch immer diese Behüter aus Cairhien hergebracht hatte und wer mit ihnen Gereist war, würde genug Probleme bringen, aber sie glaubte, dem Jungen eine weitere Antwort entlockt zu haben, und sie würde sehr gründlich darüber nachdenken müssen, was sie ihm raten sollte. Manchmal waren die Antworten dorniger als die Fragen.