Sobald Delana zu der Überzeugung gelangte, dass ihre giftige Saat aufgegangen war, murmelte sie etwas davon, dass es besser war, wenn man sie nicht zusammen im Lager ankommen sah, und setzte sich ab; sie trieb ihre Stute zu einem schnellen Trab durch den Schnee an und ließ den Rest von ihnen in unbehaglichem Schweigen zurück, das nur von den Hufen ihrer Pferde durchbrochen wurde. Die Behüter behielten ihren Abstand bei, und die eskortierenden Soldaten musterten wieder die Bauernhöfe und das Unterholz, ohne den Aes Sedai auch nur noch einen Blick zu widmen; jedenfalls soweit Egwene sehen konnte. Aber Männer wussten nie, wann sie den Mund halten mussten. Wenn man einem Mann befahl, kein Wort zu sagen, ließ ihn das nur noch mehr klatschen, natürlich nur mit engen Freunden, denen er vertrauen konnte, als würden die es nicht wiederum jedem weitererzählen, der zuhören mochte. Bei den Behütern war das vermutlich anders — die Aes Sedai, die Behüter hatten, beharrten stets darauf, dass es so war —, aber zweifellos würden die Soldaten von den sich streitenden Schwestern erzählen, und genauso zweifellos würden sie behaupten, dass Delana mit einem Floh im Ohr fortgeschickt worden war. Die Frau hatte das alles sorgfältig geplant. Wenn man dieser Saat erlaubte zu wachsen, würde sie schlimmer als Feuerkraut oder Würgepflanzen wuchern, aber die Sitzende der Grauen hatte sich sehr geschickt von jeder Schuld distanziert. Am Ende kam fast immer die Wahrheit ans Licht, aber am Ende war die Wahrheit oft so von Gerüchten und Spekulationen und glatten Lügen umgeben, dass die meisten Leute sie nicht länger glaubten.
»Ich muss wohl nicht fragen, ob eine von euch schon zuvor davon gehört hatte«, sagte Egwene beiläufig und schien dabei die Landschaft zu studieren, aber sie war erfreut, als jede dies sofort mit beträchtlicher Empörung zurückwies, Beonin eingeschlossen, die ihren Kiefer bewegte und Morvrin böse anschaute. Egwene vertraute ihnen, soweit sie es wagen konnte — sie hätten ihr nicht die Treue schwören können ohne den festen Willen, sich buchstäblich daran zu halten; es sei denn, sie wären Schwarze Ajah gewesen, eine unwahrscheinliche Möglichkeit, die aber den größten Teil ihrer Vorsicht begründete —, doch selbst Treueide ließen den ergebensten Menschen genügend Spielraum, die schlimmsten Dinge zu tun, und zwar im festen Glauben, nur im besten Interesse zu handeln. Und Leute, die man gegen ihren Willen zu ihren Eiden gebracht hatte, konnten großes Geschick darin entwickeln, Lücken und Auswege zu entdecken.
»Die eigentliche Frage ist, worauf ist Delana aus?«, fuhr sie fort. Sie musste das nicht erklären, nicht diesen Frauen, von denen jede im Spiel der Häuser erfahren war. Wenn Delana nur jegliche Verhandlungen mit Elaida hatte unterbinden und gleichzeitig ihren Namen heraushalten wollte, hätte sie zu jeder Zeit allein mit Egwene darüber sprechen können. Sitzende brauchten keinen Vorwand, um das Studierzimmer der Amyrlin zu betreten. Oder sie hätte Halima benutzen können, die in den meisten Nächten in Egwenes Zelt auf einem Feldbett schlief, obwohl sie Delanas Sekretärin war. Egwene wurde von Kopfschmerzen heimgesucht, und in manchen Nächten konnten nur Halimas Massagen sie lindern, damit sie einschlafen konnte. Und im Grunde hätte eine anonyme Nachricht ausgereicht, damit sie dem Saal ein Edikt verkündete, das Verhandlungen strikt verbot. Die größten Nörglerinnen hätten zugeben müssen, dass Verhandlungen, um den Krieg zu beenden, mit Sicherheit Auswirkungen auf den Krieg selbst haben würden. Aber offensichtlich hatte Delana gewollt, dass auch Sheriam und die anderen Bescheid wussten. Ihre Enthüllung war ein Pfeil, der auf ein anderes Ziel gerichtet war.
»Streit zwischen den Anführerinnen der Ajahs und den Sitzenden«, sagte Carlinya so kühl wie Schnee. »Vielleicht Streit zwischen den Ajahs.« Sie richtete lässig ihren Umhang, der mit aufwändigen weißen Stickereien auf weißem Stoff versehen, aber mit dichtem schwarzem Pelz gefüttert war, und hätte genauso gut über den Preis einer Rolle Garn sprechen können. »Ich weiß nicht, warum sie dies wollen könnte, aber das wird das Ergebnis sein, falls wir nicht sehr vorsichtig sind, und sie konnte nicht wissen, ob wir vorsichtig sind oder Gründe dafür haben, also muss logischerweise eines oder beides ihr Ziel sein.«
»Die erste Antwort, die einem einfällt, ist nicht immer die richtige, Carlinya«, sagte Morvrin. »Es ist nicht gesagt, dass Delana ihre Handlungen so sorgfältig abwägt wie Ihr oder dass sie in die gleiche Richtung gedacht hat.« Die stämmige Braune glaubte mehr an gesunden Menschenverstand als an Logik oder behauptete das zumindest, aber in Wahrheit schien sie beides zu vermischen, eine Kombination, die sie sehr stur allen schnellen oder einfachen Antworten gegenüber machte. Was nicht unbedingt das Schlechteste war. »Delana versucht vielleicht, einige Sitzende bei einem Thema, das ihr am Herzen liegt, auf ihre Seite zu bringen. Vielleicht hofft sie, dass man Elaida doch noch zur Schwarzen Ajah erklärt. Wie dem auch sei, vielleicht beabsichtigt sie etwas, woran wir nicht einmal denken. Sitzende können genauso kleinlich wie alle anderen auch sein. Möglicherweise hegt sie einen Groll gegen eine der von ihr Genannten aus ihrer Novizinnenzeit, als sie von ihnen unterrichtet wurde. Bis wir mehr wissen, ist es besser, sich über die Konsequenzen Gedanken zu machen, statt sich über ihre Beweggründe zu sorgen.« Ihr Tonfall war so ruhig wie ihr breites Gesicht, aber Carlinyas kühle Miene geriet einen Augenblick lang in Bewegung und zeigte kühle Verachtung. Ihre Rationalität ließ nur wenig Raum für menschliche Schwächen. Oder für Leute, die ihr nicht zustimmten.
Anaiya lachte, ein Laut beinahe mütterlicher Heiterkeit, der ihren Braunen ein paar Schritte tänzeln ließ, bevor sie ihn wieder in den Schritt zwang. Eine mütterliche Bäuerin, die sich über die Possen der Dorfnachbarn amüsierte. Selbst andere Schwestern waren dumm genug, sie von vornherein nicht ernst zu nehmen. »Hört auf zu schmollen, Carlinya. Ihr habt vermutlich Recht. Nein, Morvrin, das hat sie. Aber was auch dahinterstecken mag, wir könnten ihre Hoffnungen auf Streit im Keim ersticken.« Das klang überhaupt nicht amüsiert. Keine Blaue fand etwas erheiternd, das möglicherweise Elaidas Sturz behinderte.
Myrelle nickte heftig und blinzelte überrascht, als Nisao sagte: »Könnt Ihr Euch dem entgegenstellen, Mutter?« Die kleine Gelbe meldete sich nicht oft zu Wort. »Ich meine nicht das, was auch immer Delana vorhat. Wenn wir uns einigen können, was es ist«, fügte sie schnell hinzu und machte eine Geste in Morvrins Richtung, die schon wieder den Mund aufmachte. Neben den anderen Frauen wirkte Nisao wie ein Kind, aber es war eine entschiedene Geste. Schließlich war sie eine Gelbe mit dem entsprechenden Selbstbewusstsein und unter den meisten Umständen nicht bereit, auch nur für irgendjemanden einen Schritt zurückzuweichen. »Ich spreche von dem Gerede, mit den Sitzenden in der Burg einen Dialog zu beginnen.«
Einen Augenblick lang starrten alle sie an, selbst Beonin.
»Und warum sollten wir das erlauben?«, fragte Anaiya schließlich in gefährlichem Tonfall. »Wir haben nicht diesen weiten Weg hinter uns gebracht, um mit Elaida zu reden.« Sie war jetzt eine Bäuerin, die ein Schlachterbeil hinter dem Rücken verborgen hielt und es auch benutzen wollte.
Nisao schaute zu ihr hoch und schnaubte. »Ich habe nicht gesagt, dass wir das wollen. Ich habe gefragt, ob wir wagen können, es aufzuhalten.«
»Ich sehe da keinen Unterschied.« Sheriams Stimme war eiskalt, ihr Gesicht blass. Vor Wut, wie Egwene fand, aber es hätte auch Furcht sein können.
»Dann denkt eine Weile darüber nach, vielleicht seht Ihr es dann«, sagte Nisao trocken und so schneidend wie eine Messerklinge. »Im Augenblick ist das Gerede über Verhandlungen auf fünf Sitzende beschränkt, und es ist verhalten. Aber wird das so bleiben? Sobald sich herumspricht, dass Verhandlungen vorgeschlagen und abgelehnt wurden, wie lange wird es dauern, bevor Verzweiflung Einzug hält? Nein, lasst mich ausreden! Wir alle sind mit rechtschaffener Wut und dem Verlangen nach Gerechtigkeit aufgebrochen. Aber nun sind wir hier und starren die Mauern von Tar Valon an, während Elaida in der Burg sitzt. Wir sind fast zwei Wochen hier, und so weit ersichtlich ist, können wir zwei Jahre hier bleiben, oder auch zwanzig. Je länger wir hier sitzen und nichts passiert, desto mehr Schwester werden Entschuldigungen für Elaidas Verbrechen finden. Und noch mehr, wenn sie auf die Idee kommen, dass wir die Burg wieder vereinigen müssen, was es auch kosten mag. Wollt ihr warten, bis eine Schwester nach der anderen auf Elaidas Seite überwechselt? Ich stelle es mir nicht erstrebenswert vor, nur mit Euch und der Blauen Ajah am Ufer zu stehen und der Frau entgegenzutreten. Verhandlungen werden zumindest jedermann zeigen, dass etwas geschieht.«
»Niemand wird zu Elaida zurückkehren«, protestierte Anaiya und richtete sich im Sattel auf, aber sie zeigte ein besorgtes Stirnrunzeln, und sie klang, als könnte sie sich sehr wohl vorstellen, dass genau das geschah. Die Burg lockte jede Aes Sedai. Sehr wahrscheinlich sehnten sich sogar die Schwarzen Schwestern danach, dass die Burg wieder geeint war. Und dort stand sie, nur wenige Meilen entfernt, und doch anscheinend außer Reichweite.
»Gespräche könnten Zeit erkaufen, Mutter«, sagte Morvrin zögernd, und niemand konnte ein so großes Zögern in seine Stimme legen wie sie. Ihre Miene war nachdenklich und nicht im Mindesten erfreut. »Noch ein paar Wochen, und Lord Gareth könnte die Schiffe auftreiben, die er braucht, um die Häfen zu blockieren. Das wird alles zu unseren Gunsten ändern. Ohne die Möglichkeit, Lebensmittel in die Stadt oder die Hungernden hinaus zu schaffen, wird die Entbehrung sie innerhalb eines Monats besiegen.«
Egwene behielt mühsam eine unbewegte Miene bei. Es bestand keine echte Hoffnung, Schiffe für eine Hafenblokkade aufzutreiben, doch das wusste keine von ihnen. Aber Gareth hatte ihr das begreiflich gemacht, lange bevor sie Murandy verlassen hatten. Ursprünglich hatte er gehofft, auf dem Marsch nach Norden entlang des Erinin Schiffe kaufen zu können, sie für den Nachschub zu verwenden, bis sie Tar Valon erreicht hatten, und dann in den Hafeneinfahrten zu versenken. Die Benutzung von Wegetoren hatte das in mehrerer Hinsicht vereitelt. Die Nachricht von der Belagerung hatte die Stadt mit den ersten Schiffen verlassen, die nach der Ankunft des Heeres aufgebrochen waren, und jetzt erledigten Schiffskapitäne ihre Geschäfte, indem sie Ruderboote ans Ufer schickten, von Ankerplätzen aus, die vom Flussufer entfernt waren. Kein Kapitän war bereit, das Risiko einzugehen, dass man sein Schiff beschlagnahmte. Gareth hatte allein sie davon unterrichtet, und seine Offiziere nur ihn, aber jede Schwester hätte das wissen können, dazu hätte sie bloß mit ein paar Soldaten sprechen müssen.
Glücklicherweise sprachen nicht einmal Schwestern, die nach Behütern suchten, oft mit Soldaten. Man betrachtete sie als einen diebischen, ungebildeten Haufen, der nur aus Zufall badete, wenn er mal durch einen Fluss waten musste. Nicht die Art von Mann, mit der eine Schwester Zeit verbrachte, wenn es nicht sein musste. Das machte es einfacher, Geheimnisse zu bewahren, und manche Geheimnisse waren von grundlegender Bedeutung. Und manchmal auch Geheimnisse, die man vor denen hatte, die anscheinend auf derselben Seite waren. Egwene konnte sich an eine Zeit erinnern, wo sie nicht so gedacht hatte, aber das war ein Teil der Vergangenheit, die sie hatte zurücklassen müssen. Das hier war eine andere Welt, mit ganz anderen Regeln als in Emondsfelde. Dort bedeutete ein Fehltritt, sich vor dem Frauenkreis rechtfertigen zu müssen. Hier bedeutete ein Fehltritt den Tod oder Schlimmeres, und nicht nur für sie allein.
»Die Sitzenden im Turm sollten zu Gesprächen bereit sein«, meinte Carlinya seufzend. »Ihnen muss klar sein, dass bei anhaltender Belagerung Lord Gareths Chancen steigen, seine Schiffe zu finden. Aber ich weiß nicht, wie lange sie gesprächsbereit sein werden, wenn ihnen klar wird, dass wir uns nicht ergeben werden.«
»Darauf wird Elaida bestehen«, murmelte Myrelle, aber sie meinte es nicht als Widerspruch, sondern sagte es zu sich selbst, und Sheriam erschauderte und zog den Umhang enger, als hätte sie zugelassen, dass die Kälte sie berührt.
Nur Beonin sah glücklich aus, sie saß eifrig und aufrecht in ihrem Sattel, und das honigblonde Haar umrahmte ein breit lächelndes Gesicht in der Kapuze. Aber sie zwang niemandem ihre Meinung auf. Sie war gut bei Verhandlungen, das sagte jeder, und sie wusste, wann sie warten musste.
»Ich habe doch gesagt, dass Ihr anfangen könnt«, sagte Egwene. Nicht, dass sie es anders denn als Zurechtweisung gemeint hatte, aber wenn man nach den Drei Eiden leben wollte, dann musste man zu dem stehen, was man sagte. Sie konnte es nicht erwarten, den Eidstab zu berühren. Danach wäre alles viel einfacher. »Achtet nur darauf, dass Ihr jedes Wort sorgfältig überlegt. Wenn sie nicht alle glauben, dass wir uns Flügel haben wachsen lassen, um herzufliegen, dann müssen sie Verdacht schöpfen, dass wir das Schnelle Reisen wieder entdeckt haben, aber sie können nicht sicher sein, bevor es jemand bestätigt. Es ist besser für uns, wenn sie keine Gewissheit haben. Das muss ein Geheimnis sein, das Ihr so sicher bewahrt wie das Geheimnis unserer Spione in der Burg.«
Das ließ Myrelle und Anaiya zusammenzucken, und Carlinya sah sich furchtsam um, obwohl weder ein Behüter noch ein Soldat nahe genug war, um sie zu verstehen, solange sie nicht schrien. Morvrin blickte nur noch mürrischer drein. Sogar Nisao sah fast so aus, als hätte sie nichts mit der Entscheidung zu tun, heimlich Schwestern in die Burg zurückzuschicken, die angeblich Elaidas Rückrufbefehl folgten. Der Saal hätte vielleicht mit Freude erfahren, dass es in der Burg zehn Schwestern gab, die Elaidas Autorität nach Kräften untergruben, selbst wenn diese Bemühungen bis jetzt kein Ergebnis erbracht hatten, aber die Sitzenden würden definitiv nicht erfreut sein, wenn ihnen klar wurde, dass man es geheim gehalten hatte, weil diese Frauen fürchteten, einige der Sitzenden könnten tatsächlich Schwarze Ajah sein. Da hätten Sheriam und die anderen genauso gut ihre Treueide für Egwene enthüllen können. Das Ergebnis wäre vermutlich nicht anders ausgefallen. Bis jetzt hatte der Saal noch nicht befohlen, dass jemand eine Prügelstrafe mit Ruten erhielt, aber so wie sich die meisten Sitzenden darüber ärgerten, dass Egwene den Verlauf des Krieges maßgeblich bestimmte, wäre es keine große Überraschung gewesen, wenn sie sich auf die Gelegenheit gestürzt hätten, allen zu zeigen, dass sie noch immer über Autorität verfügten, während sie ihrem Missfallen gleichzeitig gewaltsam Ausdruck verliehen.
Beonin war anscheinend als Einzige gegen diese Entscheidung gewesen — zumindest bis offensichtlich wurde, dass die anderen es trotzdem machen würden —, aber auch sie holte tief Luft. In ihrem Fall mochte die plötzliche Reaktion eine Rolle spielen, dass ihr gerade aufgegangen war, worauf sie sich da eigentlich einließ. Überhaupt jemanden in der Burg zu finden, der zu einem Gespräch bereit war, das war möglicherweise schon eine entmutigende Aufgabe. Augen-und-Ohren in Tar Valon konnten nur Gerüchte über die Ereignisse in der Burg liefern; Neuigkeiten aus der Burg selbst kamen nur tröpfchenweise von Schwestern, die sich ins Tel'aran'rhiod begaben, um flüchtige Spiegelungen der wachen Welt zu finden, aber jeder dieser Eindrücke bestätigte, dass Elaida mit Erlassen und Launen regierte, und nicht einmal der Saal wagte, sich gegen sie zu stellen. Beonins Gesicht nahm einen grauen Schimmer an, bis sie noch kränklicher als Nisao aussah. Anaiya und die anderen sahen so freudlos wie der Tod aus.
In Egwene stieg eine Welle der Düsternis auf. Das hier waren die Stärksten, die gegen Elaida angetreten waren, selbst die zögerliche Beonin, die immer lieber reden statt handeln wollte. Nun, die Grauen waren für ihre Überzeugung bekannt, dass man mit Reden alles lösen konnte. Das hätten sie lieber bei einem Trolloc ausprobieren sollen oder einem Straßenräuber, nur um zu sehen, wie weit sie das brachte! Ohne Sheriam und den Rest wäre der Widerstand gegen Elaida zu Ende gewesen, bevor er überhaupt die Chance gehabt hätte, sich zu formieren. Das war sowieso beinahe geschehen. Aber Elaidas Stellung in der Burg war immer noch so unangefochten wie je zuvor, und nach allem, was sie durchgemacht hatten, nach allem, was sie getan hatten, hatte es nun den Anschein, als würde selbst Anaiya alles in einer Katastrophe enden sehen.
Nein! Egwene holte tief Luft, straffte die Schultern und setzte sich aufrecht hin. Sie war die rechtmäßige Amyrlin, ganz egal, was der Saal gedacht hatte, als man sie erhoben hatte, und wenn es überhaupt noch eine Hoffnung geben sollte, die Burg wieder zu vereinen, dann musste sie die Rebellion gegen Elaida aufrechterhalten. Wenn das vorgetäuschte Verhandlungen bedeutete, es würde nicht das erste Mal sein, dass Aes Sedai vorgaben, auf ein Ziel hinzuarbeiten, während sie ein anderes im Sinn hatten. Was auch immer erforderlich sein würde, um die Rebellion durchzuführen und Elaida zu stürzen, sie würde es tun. Was auch immer dazu nötig war.
»Zieht die Gespräche so lange hin, wie Ihr es vermögt«, sagte sie zu Beonin. »Ihr könnt über alles sprechen, solange Ihr die Geheimnisse bewahrt, die bewahrt werden müssen, aber willigt in nichts ein und lasst sie reden.« Die Graue schwankte im Sattel und sah eindeutig kränker als Anaiya aus. Sie schien kurz davor, sich zu übergeben.
Als das Lager in Sicht kam, hatte die Sonne den halben Weg zum Zenit zurückgelegt; die Eskorte aus leichter Kavallerie schwenkte zurück in Richtung Fluss und ließ Egwene und die Schwestern die letzte Meile nur von den Behütern begleitet durch den Schnee reiten. Lord Gareth verharrte, als wollte er noch einmal mit ihr sprechen, aber dann drehte er seinen Braunen nach Osten der Kavallerie zu und holte sie ein, als sie jenseits einer lang gezogenen Baumgruppe verschwanden. Er würde ihre Diskussionen und unterschiedlichen Ansichten nicht vor anderen zur Sprache bringen, und er war der Meinung, dass Beonin und die Schwestern genau das waren, wofür alle sie hielten, die Wachhunde der Ajahs. Egwene verspürte eine gewisse Traurigkeit, dass sie vor ihm Dinge zurückhalten musste, aber je weniger das Geheimnis kannten, desto eher würde es auch geheim bleiben.
Das Lager war eine weitläufige Ansammlung aus Zelten in jeder Form, Größe, Farbe und Zustand, die auf dem halben Weg zwischen dem Drachenberg und Tar Valon eine breite, von Bäumen umringte Weide einnahm. Es wurde umgeben von einem Kreis aus Pferdeleinen und Reihen aus unterschiedlichsten Wagen und Karren. An mehreren Stellen jenseits der Baumreihe stieg Rauch aus Schornsteinen empor, ein paar Meilen entfernt, aber die ansässigen Bauern hielten sich fern, es sei denn, sie wollten Eier, Milch und Butter verkaufen oder brauchten jemanden zum Heilen, falls es einen Unfall gegeben hatte. Von dem Heer, das Egwene mitgebracht hatte, war bis jetzt noch keine Spur zu entdecken. Gareth hatte seine Streitkräfte am Fluss konzentriert, ein Teil besetzte an beiden Ufern die Brückendörfer, und der Rest lagerte in Reservelagern, wie er es nannte, aus denen Männer schnell herbeigeführt werden konnten, um dabei zu helfen, mögliche Ausfälle aus der Stadt abzuwehren — nur für den Fall, dass er Hochkapitän Chubain doch falsch eingeschätzt haben sollte. Immer die Möglichkeit mit einschließen, dass deine Annahmen falsch sind, hatte er einmal zu Egwene gesagt. Natürlich stellte niemand seine Aufstellung in Frage, jedenfalls nicht grundsätzlich. Es gab immer Schwestern, die bereit waren, über die Einzelheiten zu klagen, aber schließlich war die Besetzung der Brückendörfer die einzige Möglichkeit, Tar Valon zu belagern. Jedenfalls, was die Landseite anging. Und viele der Aes Sedai waren froh, die Soldaten wenigstens nicht sehen zu müssen, wenn sie sie schon nicht aus den Gedanken verbannen konnten.
Drei Behüter in farbverändernden Umhängen kamen aus dem Lager geritten, als sich Egwene und die anderen näherten; einer von ihnen war sehr groß und einer recht kurz geraten, sodass sie wie Treppenstufen aussahen. Sie verbeugten sich vor Egwene und den Schwestern und nickten den Behütern hinter ihnen zu; sie hatten alle das gefährliche Aussehen von Männern, die so selbstbewusst waren, dass sie es nicht nötig hatten, andere von ihrer Gefährlichkeit überzeugen zu müssen. Ein Behüter, der entspannt ist, und ein Löwe, der auf einem Hügel ruht, lautete ein altes Sprichwort unter den Aes Sedai. Der Rest war in der Vergangenheit verloren gegangen, aber es war auch nicht nötig, mehr zu sagen. Die Schwestern waren unter diesen Umständen mit der Sicherheit eines ganzen Lagers voller Aes Sedai nicht ganz zufrieden. Behüter patrouillierten meilenweit in allen Richtungen, Löwen auf dem Streifzug.
Anaiya und die anderen — mit Ausnahme von Sheriam — verteilten sich, sobald sie die ersten Zeltreihen jenseits der Wagen erreicht hatten. Jede würde die Anführerin ihrer Ajah aufsuchen, um über Egwenes Ritt mit Lord Gareth zum Fluss Bericht zu erstatten, und, was wichtiger war, um dafür zu sorgen, dass die Anführerinnen der Ajahs erfuhren, dass einige der Sitzenden von Verhandlungen mit Elaida sprachen, und dass Egwene unnachgiebig blieb. Es wäre einfacher gewesen, hätte sie gewusst, wer diese Frauen waren, aber nicht einmal Treueide reichten aus, um das zu enthüllen. Myrelle hatte fast ihre Zunge verschluckt, als Egwene es vorgeschlagen hatte. Unvorbereitet vor die Aufgabe gestellt zu werden, stellte kaum die beste Methode dar, sie zu lernen, und Egwene wusste, dass sie noch ganze Ozeane von Wissen aufzunehmen hatte, was die Tätigkeit einer Amyrlin anging. Ozeane von Wissen, und gleichzeitig eine Aufgabe zu erledigen.
»Verzeiht mir, Mutter«, sagte Sheriam, als Beonin als Letzte in Begleitung ihres narbengesichtigen Behüters zwischen den Zelten verschwand, »aber auf mich wartet ein Schreibtisch mit Stapeln von Papieren.« Der Mangel an Enthusiasmus in ihrer Stimme war verständlich. Die Stola der Behüterin brachte unablässig wachsende Stapel von Berichten, die sortiert, und Dokumenten, die geprüft werden mussten, mit sich. Trotz ihres Eifers für den Rest ihrer Aufgaben — was in diesem Fall bedeutete, das Lager zu organisieren — hatte man Sheriam bei der Konfrontation mit noch einem Aktenstapel den innigen Wunsch murmeln hören, noch immer Oberin der Novizinnen zu sein.
Sobald Egwene ihre Erlaubnis gab, trieb sie ihren schwarzfüßigen Schecken an und ließ eine Gruppe Arbeiter in groben Mänteln und um den Kopf gewickelten Schals auseinander spritzen, die auf den Rücken große Körbe trugen. Einer fiel auf dem halb gefrorenen Matsch mitten aufs Gesicht. Sheriams Arinvar, ein schlanker Cairhiener mit ergrauenden Schläfen, verharrte lange genug, um sich zu vergewissern, dass der Bursche wieder auf die Füße kam, dann galoppierte er auf seinem dunklen Hengst hinter ihr her und überließ den Arbeiter seinen Flüchen, von denen die meisten dem Gelächter seiner Gefährten zu gelten schienen. Wenn eine Aes Sedai irgendwohin wollte, ging man besser aus dem Weg.
Egwenes Blick fiel auf das, was aus dem Korb des Burschen auf die Straße gefallen war, und sie erschauderte; ein großer Haufen grobes Maismehl, in dem so viele Kornkäfer krabbelten, dass es den Anschein hatte, dort würde es genauso viele schwarze Punkte geben wie Mehl. Die Männer mussten verdorbenes Mehl zu den Müllgruben bringen. Es wäre eine vergebliche Mühe, alles von Ungeziefer befallene Mehl durchzusieben — nur Verhungernde würden so etwas essen —, aber jeden Tag mussten zu viele Körbe mit Maismehl und Getreide weggeworfen werden. Was das anging, stanken die Hälfte der zum Gebrauch geöffneten Fässer mit gesalzenem Schweinefleisch und Rindfleisch so schrecklich, dass man sie nur begraben konnte. Für die Diener und Arbeiter — zumindest jene, die Erfahrungen im Lagerleben hatten — war das nichts Neues. Vielleicht ein bisschen schlimmer als gewöhnlich, aber nicht neu. Kornkäfer konnten zu jeder Zeit auftauchen, und Kaufleute, die ihre Profite erhöhen wollten, verkauften immer etwas fauliges Fleisch zusammen mit dem einwandfreien. Aber für die Aes Sedai war das ein Grund zu ernster Sorge. Jedes Fass Fleisch und jeder Sack Getreide war sofort nach dem Kauf mit einem Haltbarkeitsgewebe versehen worden, und was mit einem Haltbarkeitsgewebe versehen war, konnte sich nicht verändern, bis dieses wieder entfernt wurde. Und trotzdem verfaulte das Fleisch und vermehrten sich die Schädlinge. Es war, als würde Saidar selbst versagen. Eher konnte man eine Schwester dazu verleiten, Witze über die Schwarze Ajah zu reißen, als sie dazu zu bringen, über dieses Problem zu sprechen.
Einer der lachenden Männer bemerkte, dass Egwene sie ansah, und er stieß den schlammverschmierten Burschen an, der seine Sprache etwas mäßigte, aber nicht viel. Er schaute sie sogar finster an, als würde er sie für seinen Sturz verantwortlich machen. Da ihr Gesicht zur Hälfte von der Kapuze verborgen wurde und die Amyrlin-Stola zusammengefaltet in ihrer Gürteltasche steckte, schienen sie sie für eine Aufgenommene zu halten, von denen nicht alle die richtige Kleidung hatten, oder vielleicht für eine Besucherin. Frauen schlüpften oft ins Lager und hielten die Gesichter verborgen, ob sie nun feine Seide oder zerschlissene Wolle trugen, und eine Fremde oder eine Aufgenommene mürrisch anzusehen, war auf jeden Fall ungefährlicher, als einer Aes Sedai einen bösen Blick zuzuwerfen. Es kam ihr seltsam vor, dass nicht jeder in Sichtweite sich verbeugte.
Sie war schon vor dem ersten Tageslicht im Sattel gewesen, und wenn ein Bad nicht in Frage kam — man musste das Wasser aus den Brunnen herbeitragen, die man eine halbe Meile westlich vom Lager gegraben hatte, was alle bis auf die äußerst verwöhnten oder weltfremden Schwestern sich einschränken ließ —, wenn also ein langes, heißes Bad nicht möglich war, hätte sie wenigstens gern die Füße auf den Boden gestellt. Oder — noch besser — sie hochgelegt. Darüber hinaus war es nicht dasselbe, die Kälte nicht an sich heranzulassen, als die Hände über einem Kohlenbecken zu wärmen. Auch auf ihrem Schreibtisch würden sich die Papiere stapeln. Am vergangenen Abend hatte sie Sheriam gebeten, ihr die Berichte über den Zustand der Wagen und das Futter für die Pferde zu geben. Sie würden trocken und langweilig sein, aber sie überprüfte jeden Tag andere Bereiche, und so konnte sie zumindest sagen, ob das, was die Leute ihr berichteten, auf Fakten oder Wünschen beruhte. Und da waren immer die Berichte der Augen-und-Ohren. Verglichen mit dem, was Siuan und Leane ihr von ihren Agenten zukommen ließen, war das, was die Ajahs an den Amyrlin-Sitz weiterleiteten, faszinierender Lesestoff. Man konnte nicht unbedingt behaupten, dass sie sich widersprachen, aber was die Ajahs für sich behalten wollten, gab manchmal interessante Bilder ab. Bequemlichkeit und Pflicht zogen sie zu ihrem Studierzimmer — natürlich war auch das nur ein Zelt, obwohl es jeder das Studierzimmer der Amyrlin nannte —, aber hier bot sich die Gelegenheit, sich einmal umzusehen, ohne dass alle vor ihrer Ankunft die Dinge hastig beschönigten. Sie zog die Kapuze ein Stück weiter nach vorn, um ihr Gesicht besser zu verbergen, und stieß Daishar die Absätze leicht in die Flanken.
Es waren nur wenige Leute mit dem Pferd unterwegs, hauptsächlich Behüter, auch wenn gelegentlich Pferdeknechte zu dem Verkehr beitrugen, die die Tiere an den Leinen so schnell durch den knöcheltiefen Matsch führten, wie das möglich war. Niemand schien sie zu erkennen. Im Gegensatz zu den fast leeren Straßen bogen sich die hölzernen Gehsteige, die kaum mehr als grobe, auf zurechtgelegten Scheiten abgelegte Planken waren, unter dem Gewicht der Leute durch. Die Hand voll Männer, die aus dem Strom der Frauen wie die Rosinen auf einem billigen Kuchen herausragten, gingen doppelt so rasch wie alle anderen. Mit Ausnahme der Behüter brachten Männer ihre Geschäfte unter Aes Sedai so schnell wie möglich hinter sich. Fast alle Frauen trugen die Gesichter verhüllt, ihr Atem verwandelte sich in den Kapuzenöffnungen zu Nebel, doch es fiel leicht, die Aes Sedai von den Besuchern zu unterscheiden, ganz egal, ob ihre Umhänge schlicht oder verziert und mit Pelz gefüttert waren. Die Menge teilte sich vor einer Schwester. Alle anderen mussten sich ihren Weg hindurchbahnen. Nicht, dass an diesem kalten Vormittag viele Schwestern unterwegs gewesen wären. Die meisten würden gemütlich in ihren Zelten sitzen. Allein oder zu zweit und dritt würden sie lesen, Briefe schreiben oder ihre Besucherinnen nach Neuigkeiten ausfragen. Die dann mit dem Rest der Ajah der Schwester geteilt wurden oder auch nicht, und mit sonst niemandem.
Die Welt betrachtete die Aes Sedai als Monolithen, der sich massiv emportürmte — oder hatte es zumindest, bevor die Spaltung der Burg allgemein bekannt geworden war —, aber es war eine Tatsache, dass sie in allen Dingen unterschiedliche Positionen vertraten und der Saal der einzige wahre Treffpunkt darstellte, und die Schwestern selbst waren kaum mehr als eine Versammlung von Einsiedlern, die über das absolut erforderliche Minimum hinaus nicht mehr als drei Worte sagten — und das auch nur zu ihren Freundinnen. Oder zu einer anderen Schwester, die sich ihnen aus irgendeinem Grund angeschlossen hatte. Was auch immer sich an der Burg veränderte, Egwene war fest davon überzeugt, dass dies niemals anders werden würde. Es war sinnlos, so zu tun, als wären Aes Sedai jemals etwas anderes als Aes Sedai gewesen oder würden es jemals sein, ein breiter Fluss, der vorwärts strömte und dessen mächtige Strömungen in der Tiefe verborgen lagen, der seine Bahn mit unmerklicher Langsamkeit veränderte. Sie hatte an diesem Fluss ein paar Dämme gebaut, für ihre eigenen Zwekke hier und dort einen Strom abgezweigt, aber sie wusste, dass es nur zeitweilige Strukturen waren. Früher oder später würden diese tiefen Strömungen ihre Dämme unterspülen. Sie konnte nur beten, dass sie lange genug hielten. Beten und sie so gut abstützen, wie sie nur konnte.
Gelegentlich tauchte eine Aufgenommene mit den sieben Farbstreifen auf der Kapuze ihres Umhangs in der Menge auf, aber bei den meisten Frauen handelte es sich um Novizinnen in schmuckloser weißer Wolle. Nur eine Hand voll der einundzwanzig Aufgenommenen im Lager besaßen gestreifte Umhänge, und sie bewahrten ihre wenigen mit Streifen versehenen Kleider für den Unterricht oder den Rapport bei Schwestern auf, aber man hatte große Anstrengungen unternommen, damit jede Novizin zu dieser Zeit in Weiß gekleidet war, und selbst wenn sie nur ein Kleid zum Wechseln hatte. Die Aufgenommenen versuchten sich unweigerlich mit dem schwanengleichen Dahingleiten der Aes Sedai zu bewegen, und einer oder zweien gelang das trotz der sich durchbiegenden Planken unter ihren Füßen auch, aber die Novizinnen schossen beinahe genauso schnell daher wie die Männer, erledigten Botengänge oder eilten in kleinen Gruppen zum Unterricht.
Die Aes Sedai hatten schon seit langer Zeit nicht mehr so viele Novizinnen zu unterrichten gehabt, nicht seit den Trolloc-Kriegen, als es auch noch viel mehr Aes Sedai gegeben hatte, und plötzlich mit fast tausend Schülerinnen konfrontiert zu werden, hatte für ein heilloses Durcheinander gesorgt, bis man sie in »Familien« organisiert hatte. Diese Bezeichnung war noch nicht offiziell, aber er wurde selbst von den Schwestern benutzt, denen es noch immer nicht gefiel, jede Frau aufzunehmen, die darum bat. Jetzt wusste jede Novizin, wo sie wann zu sein hatte, und jede Schwester konnte es zumindest herausfinden. Ganz zu schweigen davon, dass die Zahl der Ausreißerinnen drastisch zurückgegangen war. Das war immer ein Problem gewesen, und vermutlich würden mehrere Hundert dieser Frauen sogar die Stola erringen. Keine Schwester wollte eine dieser Frauen verlieren, und von den anderen auch nicht, zumindest nicht, bevor die Entscheidung getroffen worden war, eine Frau fortzuschicken. Gelegentlich verdrückten sich noch immer Frauen, denen klar wurde, dass die Ausbildung härter als erwartet und der Weg zur Stola der Aes Sedai länger als gedacht war, aber die Familiengruppen erleichterten nicht nur die Übersicht; eine Frau, die sich auf fünf oder sechs Nichten, wie man sie nannte, stützen konnte, war weniger dazu geneigt, einfach zu verschwinden.
Ein gutes Stück vor dem großen, rechteckigen Pavillon, der als Saal der Burg diente, lenkte sie Daishar in eine Seitenstraße. Der Gehweg vor dem hellbraunen Segeltuchpavillon war leer — niemand näherte sich dem Saal, der dort nichts zu suchen hatte —, aber die oft geflickte Eingangsplane war heruntergelassen, also konnte man unmöglich wissen, wer plötzlich herauskommen konnte. Jede Sitzende würde Daishar sofort erkennen, und einigen von ihnen wollte Egwene noch mehr aus dem Weg gehen als anderen. Lelaine und Romanda zum Beispiel, die sich ihrer Autorität so instinktiv widersetzten, wie sie gegeneinander kämpften. Oder jedem, der angefangen hatte, von Verhandlungen zu reden. Es fiel schwer zu glauben, dass sie damit die Moral hatten stärken wollen, denn in diesem Fall hätten sie sich nicht auf Geflüster beschränkt. Aber der Anschein der Höflichkeit musste gewahrt werden, ganz egal, wie oft sie sich schon gewünscht hatte, jemandem eine Ohrfeige zu verpassen; wenn Egwene niemanden sah, konnte sich diejenige auch nicht zurückgesetzt fühlen.
Hinter einer hohen Segeltuchwand, die eine der beiden Reisestellen des Lagers umgab, blitzte ein schwaches silbriges Licht auf, und einen Augenblick später schoben zwei Schwestern die Eingangsplane zur Seite. Weder Phaedrine noch Shemari waren stark genug, allein ein Wegetor zu weben, aber gemeinsam schafften sie es gerade eben, eines zustande zu bringen, das groß genug war, um hindurchgehen zu können. Die Köpfe zusammengesteckt und in eine Unterhaltung vertieft, legten sie sich seltsamerweise gerade die Umhänge um. Egwene hielt das Gesicht abgewandt, als sie vorbeiritt. Die beiden Braunen hatten ihr als Novizin Unterricht gegeben, und Phaedrine schien noch immer überrascht zu sein, dass Egwene die Amyrlin war. Schlank wie ein Reiher war sie durchaus imstande, durch den Schneematsch auf sie zuzustapfen und zu fragen, ob sie Hilfe brauchte. Shemari, eine tatkräftige Frau mit kantigem Gesicht, die eher wie eine Grüne als wie eine Bibliothekarin aussah, war in ihrem Benehmen stets korrekt. Eigentlich schon überkorrekt. Ihren tiefen Knicksen, die zu einer Novizin gepasst hätten, haftete immer der Hauch von Spott an, wie reglos ihre Miene auch sein mochte, nicht zuletzt deshalb, weil sie auch schon einen Knicks gemacht hatte, wenn sie Egwene aus einer Entfernung von hundert Schritten kommen sah.
Sie fragte sich, wo die beiden gewesen waren. Vermutlich irgendwo in einem Gebäude, oder zumindest an einem Ort, an dem es wärmer als im Lager gewesen war. Natürlich führte niemand Buch über das Kommen und Gehen der Schwestern, nicht einmal die Ajahs. Die Verhaltensregeln waren tief verwurzelt, und sie hielten jeden eindringlich davon ab, direkte Fragen darüber zu stellen, was eine Schwester tat oder wo sie hinging. Vermutlich hatten sich Phaedrine und Shemari mit einigen ihrer Augen-und-Ohren getroffen. Oder sich in irgendeiner Bibliothek ein Buch angesehen. Sie waren Braune. Aber Egwene konnte Nisaos Bemerkung nicht vergessen, dass sich Schwestern zu Elaida verdrückten. Es war durchaus möglich, sich von einem Fährmann zur Stadt übersetzen zu lassen, wo Dutzende winziger Wassertore jedem, der es wollte, Zugang gewährten, aber mit einem Wegetor riskierte man kein Aufsehen, indem man zum Fluss ritt und nach Booten fragte. Nur eine Schwester, die mit dem Wissen über dieses Gewebe in die Burg zurückkehrte, würde ihren größten Vorteil zunichte machen. Und man konnte das nicht verhindern. Man konnte nur die Opposition zu Elaida mit Leidenschaft erfüllen. Man konnte nur die Schwestern glauben lassen, dass ein schnelles Ende möglich war. Doch hätte es nur einen Weg zu einem schnellen Ende gegeben.
Nicht weit von der Reisestelle entfernt zügelte Egwene ihr Pferd und blickte stirnrunzelnd auf eine lange Zeltwand, die noch häufiger geflickt war als der Saal. Eine Aes Sedai rauschte den Gehsteig entlang — sie trug einen schlichten blauen Umhang und hatte ihr Gesicht unter der Kapuze verborgen, aber Novizinnen und andere eilten ihr aus dem Weg, wie sie es für eine Kauffrau niemals getan hätten —, blieb kurz vor dem Eingang stehen und betrachtete ihn einen langen Augenblick, bevor sie die Plane zur Seite schob. Ihr Widerwille war so offensichtlich, als hätte sie ihn hinausgeschrien. Egwene war noch nie in dem Zelt gewesen. Sie konnte fühlen, wie dort drinnen Saidar gelenkt wurde, wenn auch nur schwach. Die nötige Menge war überraschend klein. Ein kurzer Besuch von der Amyrlin würde nicht allzu viel Aufmerksamkeit erregen. Sie wollte gern sehen, was sie in Bewegung gesetzt hatte.
Als sie vom Pferd stieg, wurde ihr eine ärgerliche Schwierigkeit bewusst. Es gab nichts, wo sie Daishar hätte festbinden können. Die Amyrlin hatte immer jemanden, der angestürzt kam, um ihr den Steigbügel zu halten und das Pferd wegzuführen, aber hier stand sie nun mit den Zügeln des Wallachs in der Hand, und eine Gruppe Novizinnen eilte mit nicht mehr als einem flüchtigen Blick vorbei und hielt sie für eine Besucherin. Mittlerweile erkannte jede Novizin eine Aufgenommene sofort, aber nur wenige hatten die Amyrlin je zu Gesicht bekommen. Sie hatte nicht einmal das alterslose Gesicht, das ihnen verraten hätte, dass sie Aes Sedai war. Mit einem traurigen Lachen schob sie eine behandschuhte Hand in die Gürteltasche. Die Stola würde ihnen sagen, wer sie war, und dann konnte sie einer von ihnen befehlen, für eine Weile ihr Pferd zu halten. Es sei denn, sie hätten es für einen geschmacklosen Witz gehalten. Ein paar Novizinnen aus Emondsfelde hatten einmal versucht, ihr die Stola vom Hals zu ziehen, damit sie keine Schwierigkeiten bekam. Nein, das war Vergangenheit und erledigt.
Unversehens wurde die Eingangsplane zur Seite geschoben, und Leane trat hervor; sie schloss ihren dunkelgrünen Umhang mit einer silbernen Spange in Form eines Fisches. Der Umhang war aus Seide und reich mit Silber und Gold verziert, genau wie das Oberteil ihres Reitkleids. Auch ihre roten Handschuhe wiesen auf den Handrücken Stickereien auf. Seit Leane der Grünen Ajah beigetreten war, achtete sie peinlich genau auf ihre Kleidung. Beim Anblick Egwenes weiteten sich ihre Augen, aber ihr Gesicht glättete sich sofort. Mit einem Blick erfasste sie die Situation und hielt eine Novizin an, die allein unterwegs zu sein schien. Novizinnen gingen im Familienverbund zum Unterricht. »Wie heißt du, Kind?« Vieles an Leane hatte sich verändert, ihr scharfer Tonfall gehörte nicht dazu. Es sei denn, sie wollte es anders. Die meisten Männer verwandelten sich zu Wachs in ihren Händen, wenn ihre Stimme schmachtend wurde, aber diese Gabe verschwendete sie nie an Frauen.
»Erledigst du etwas für eine Schwester?«
Die Novizin, eine Frau, die sich den mittleren Jahren näherte und eine reine Haut hatte, die nie einen Tag Feldarbeit gesehen hatte, starrte sie offen an, bevor sie sich genug zusammenriss, um einen Knicks zu machen, ein geübtes Lüpfen der weißen Röcke mit den in Fäustlingen steckenden Händen. Leane war so hoch gewachsen wie die meisten Männer, dabei aber schlank und anmutig und wunderschön; auch ihr fehlte das alterslose Aussehen, aber ihr Gesicht gehörte zu den beiden bekanntesten im ganzen Lager. Novizinnen zeigten ehrfurchtsvoll auf sie — eine Schwester, die einst Behüterin der Chroniken gewesen war, die man gedämpft hatte und die Geheilt worden war, sodass sie erneut die Macht lenken konnte, wenn auch nicht so stark wie zuvor. Und dann hatte sie die Ajah gewechselt! Eine Frau hatte das Weiß noch nicht richtig angezogen, da wusste sie schon, dass so etwas niemals passierte. Unglücklicherweise wurde Leane zu so etwas wie einem Mythos. Es fiel schwerer, einer Novizin Zurückhaltung aufzuerlegen, wenn man sie nicht darauf hinweisen konnte, dass sie riskierte, die Stola nie zu erringen, wenn sie sich ausbrannte und die Eine Macht für immer verlor.
»Letice Murow, Aes Sedai«, antwortete die Frau respektvoll mit einem trällernden murandianischen Akzent. Es hatte den Anschein, als wollte sie noch mehr sagen, vielleicht einen Titel nennen, aber eine der ersten Lektionen beim Eintritt in die Burg bestand darin, dass man alles zurückließ, was man gewesen war. Für einige war das eine harte Lektion, vor allem für jene, die Titel gehabt hatten.
»Ich will meine Schwester besuchen. Ich habe sie seit unserem Aufbruch aus Murandy nicht länger als eine Minute gesehen.« Verwandte wurden immer auf verschiedene Novizinnenfamilien aufgeteilt, genau wie Frauen, die einander gekannt hatten, bevor sie ins Novizinnenbuch aufgenommen worden waren. Es ermunterte sie, neue Freundschaften zu schließen und verminderte die unweigerlichen Spannungen, wenn eine schneller lernte als die andere oder über ein höheres Potenzial verfügte. »Sie hat auch unterrichtsfrei, bis heute Nachmittag, und...«
»Deine Schwester wird noch etwas warten müssen, Kind«, unterbrach Leane sie. »Halte das Pferd der Amyrlin.«
Letice zuckte zusammen und starrte Egwene an, die endlich ihre Stola aus der Tasche gefummelt hatte. Sie reichte der Frau Daishars Zügel, schlug die Kapuze zurück und legte sich den schmalen Stoffstreifen auf die Schultern. Leicht wie eine Feder in der Gürteltasche, lag die Stola schwer um ihren Hals. Siuan behauptete, dass man manchmal jede Frau, die je die Stola getragen hatte, an ihren Enden hängen fühlen konnte, eine ständige Ermahnung an Verantwortung und Pflicht, und Egwene glaubte jedes Wort davon. Die Murandianerin starrte sie noch mehr an als Leane und brauchte länger, bis ihr einfiel, den Knicks zu machen. Zweifellos hatte sie gehört, dass die Amyrlin jung war, aber vermutlich hatte sie nie darüber nachgedacht, wie jung.
»Danke, Kind«, sagte Egwene glatt. Es hatte eine Zeit gegeben, in der es ihr unpassend vorgekommen war, eine zehn Jahre ältere Frau Kind zu nennen. Im Laufe der Zeit veränderte sich alles. »Es wird nicht lange dauern. Leane, würdet Ihr jemanden bitten, einen Pferdeknecht für Daishar zu schicken? Jetzt, da ich aus dem Sattel bin, möchte ich nicht wieder aufsitzen, und Letice sollte ihre Schwester besuchen dürfen.«
»Ich werde mich selbst darum kümmern, Mutter.«
Leane machte einen anmutigen Knicks und ging, ohne sich auch nur im Mindesten anmerken zu lassen, dass es mehr zwischen ihnen gab als diese zufällige Begegnung. Egwene vertraute ihr weit mehr als Anaiya oder sogar Sheriam. Vor Leane hatte sie keine Geheimnisse, genauso wenig wie vor Siuan. Aber ihre Freundschaft war ein weiteres Geheimnis, das gehütet werden musste. Zum einen hatte Leane Augen-und-Ohren in Tar Valon, wenn nicht sogar in der Burg selbst, und ihre Berichte waren allein für Egwene bestimmt. Andererseits wurde Leane ziemlich verhätschelt, weil sie sich so gut an ihren geringeren Status gewöhnt hatte, und jede Schwester hieß sie willkommen, und wenn auch nur aus dem Grund, dass sie den lebendigen Beweis darstellte, dass das Dämpfen, die tiefe Furcht jeder Aes Sedai, rückgängig gemacht werden konnte. Sie hießen sie mit offenen Armen willkommen, und weil sie jetzt weniger als zuvor war, weil sie unter der Hälfte der Schwestern im Lager stand, sprachen sie in ihrer Anwesenheit oft über Dinge, von denen sie niemals gewollt hätten, dass die Amyrlin sie erfuhr. Egwene warf ihr keinen Blick nach, als sie ging. Stattdessen schenkte sie Letice ein Lächeln — die Frau errötete und machte noch einen Knicks —, dann betrat sie das Zelt, zog die Handschuhe aus und steckte sie hinter den Gürtel.
An den Wänden standen acht Spiegelkandelaber zwischen niedrigen Holztruhen. Bei einer blätterte die Vergoldung ab, die anderen waren aus bemaltem Eisen; keine zwei Kandelaber hatten die gleiche Anzahl von Armen, aber sie sorgten für eine gute Beleuchtung, auch wenn es nicht so hell wie draußen war. Mehrere Tische, die aus sieben verschiedenen Bauernküchen zu stammen schienen, bildeten in der Mitte des mit Segeltuch ausgelegten Bodens eine Reihe; auf den am weitesten entfernten Bänken saßen ein halbes Dutzend Novizinnen, deren Umhänge zusammengefaltet neben ihnen lagen. Jede der Frauen war vom Glühen der Macht umgeben. Tiana, die Oberin der Novizinnen, musterte sie besorgt und ging zwischen den Tischen auf und ab, genau wie überraschenderweise Sharina Melloy, eine der Novizinnen aus Murandy.
Nun ja, vielleicht hätte es keine Überraschung sein sollen, Sharina hier zu finden. Sie war eine ehrwürdige, grauhaarige Großmutter mit einem straffen Haarknoten im Nacken, die mit strenger Hand eine sehr große Familie gelenkt hatte, und sie schien sämtliche Novizinnen als Enkel oder Großnichten adoptiert zu haben. Sie war diejenige gewesen, die sie in diese winzigen Familien eingeteilt hatte, allein auf sich gestellt und anscheinend aus Empörung, mit ansehen zu müssen, wie jedermann kopflos umherschwirrte. Die meisten Aes Sedai kniffen die Lippen mehr als nur etwas zusammen, wenn sie daran erinnert wurden, obwohl sie diese Idee schnell genug akzeptiert hatten, sobald ihnen klar geworden war, wie sehr es die Organisation der Klassen vereinfachte und es ihnen erleichterte, die Frauen im Auge zu behalten. Tiana kontrollierte die Arbeit der Novizinnen so aufmerksam, dass es offensichtlich war, dass sie Sharinas Anwesenheit zu ignorieren versuchte. Klein und schlank, mit großen braunen Augen und einem Grübchen am Kinn sah Tiana trotz ihres alterslosen Gesichts irgendwie jung aus, vor allem im Vergleich mit den breiten Hüften und faltigen Wangen der größeren Novizin.
Die beiden Aes Sedai, die an dem Tisch direkt am Eingang die Macht lenkten, Kairen und Ashmanaille, hatten ebenfalls Zuschauer. Janya Frende, eine Sitzende der Braunen, und Salita Toranes, eine Sitzende der Gelben. Aes Sedai und Novizinnen gingen alle derselben Aufgabe nach. Vor jeder Frau umgab ein enges, aus Erde, Feuer und Luft gewobenes Netz einen kleinen Gebrauchsgegenstand, der von den Lagerschmieden hergestellt worden war. Es hatte sie sehr verblüfft, dass die Schwestern solche Gegenstände aus Eisen haben wollten, ganz zu schweigen davon, dass sie so fein gearbeitet sein sollten wie aus Silber. Ein zweites, aus Erde und Feuer gestaltetes Gewebe durchdrang jedes Netz, um den Gegenstand zu berühren, der langsam eine weiße Färbung annahm. Und zwar ganz langsam.
Das Geschick mit den Geweben verbesserte sich durch Übung, aber von den Fünf Mächten war Erde der Schlüssel, und außer Egwene beherrschten nur neun Schwestern im Lager — sowie zwei Aufgenommene und beinahe zwei Dutzend Novizinnen — dies ausreichend, um funktionsfähige Gewebe zu erschaffen. Allerdings gab es unter den Schwestern auch nur wenige, die sich überhaupt dafür interessierten. Ashmanaille, die schlank genug war, um größer zu erschienen, als sie in Wirklichkeit war, und die zu beiden Seiten der einfachen Eisenschüssel mit den Fingern auf die Tischplatte trommelte, verfolgte ungeduldig, wie der weiße Rand bis zur Mitte in die Höhe kroch. Kairens blaue Augen schauten kalt genug, dass allein ihr Blick hätte ausreichen müssen, um den hohen Becher, an dem sie arbeitete, zerspringen zu lassen. Er wies nur einen kleinen weißen Rand am unteren Ende auf. Es musste Kairen gewesen sein, die Egwene hatte eintreten sehen.
Aber nicht jede war lustlos. Janya, dünn und in hellbronzene Seide gekleidet, die Stola mit den braunen Fransen in beiden Ellenbeugen, studierte das, was Kairen und Ashmanaille dort taten, mit dem Eifer von jemandem, der sich sehnlichst wünschte, das auch tun zu können. Janya wollte alles wissen, sie wollte wissen, wie alles funktionierte und warum es das tat. Sie war sehr enttäuscht gewesen, als es ihr verwehrt geblieben war, zu lernen, wie man ein Ter'angreal herstellte — außer Elayne war das bislang nur drei Schwestern gelungen, und das auch nur mit sehr unterschiedlichem Erfolg —, und sie hatte große Anstrengungen unternommen, diese Fertigkeit zu erlernen, selbst nachdem der Test gezeigt hatte, dass ihr die nötige Stärke in der Erde fehlte.
Salita war die Erste, die Egwene bemerkte. Sie hatte ein rundes Gesicht, und ihre Haut war fast so schwarz wie Holzkohle, und die gelben Fransen ihrer Stola schwankten leicht, als sie einen präzisen, haargenau abgemessenen Knicks machte und Egwene dabei ruhig ansah. Aufgewachsen in Salidar, gehörte Salita einer beunruhigenden Entwicklung an: zu viele Sitzende waren zu jung für diese Position. Salita war erst seit fünfunddreißig Jahren Aes Sedai, und normalerweise hätte eine Frau die Stola mindestens hundert Jahre länger tragen müssen, bevor sie einen Stuhl zugewiesen bekam. Siuan sah ein Muster darin und fand es beunruhigend, obwohl sie nicht sagen konnte, warum das so war. Muster, die sie nicht verstand, beunruhigten Siuan immer. Wenigstens stand Salita für den Krieg gegen Elaida ein und unterstützte Egwene oft im Saal. Aber nicht immer, und hierbei ganz bestimmt nicht. »Mutter«, sagte sie kühl.
Janya riss den Kopf hoch und fing an zu strahlen. Sie war immer für den Krieg gewesen, die einzige Frau außer Lelaine und Lyrelle, die vor der Spaltung der Burg eine Sitzende gewesen war, und auch wenn ihre Unterstützung für Egwene nicht immer bedingungslos war: was das hier anging, galt sie uneingeschränkt. Wie gewöhnlich sprudelten die Worte förmlich aus ihr heraus. »Darüber komme ich einfach nicht hinweg, Mutter. Es ist wirklich erstaunlich. Ich weiß, wir sollten nicht länger überrascht sein, wenn Euch etwas einfällt, das niemand anderem eingefallen ist — manchmal glaube ich, wir sind in unseren Wegen zu eingefahren, zu sicher, was möglich ist und was nicht —, aber zu enträtseln, wie man Cuendillar macht...« Sie musste Luft holen, und Salita nutzte elegant die Gelegenheit. Und kühl.
»Ich behaupte noch immer, dass es falsch ist«, sagte sie fest. »Ich gebe zu, die Entdeckung war eine brillante Tat Eurerseits, Mutter, aber Aes Sedai sollten nichts herstellen, um es dann zu... verkaufen.« Salita legte in das Wort alle Verachtung, zu der eine Frau fähig war, die von den Erträgen ihrer Güter in Tear gelebt hatte, ohne jemals darüber nachzudenken, wie sie zustande kamen. Diese Einstellung war nicht selten, auch wenn die meisten Schwestern von der großzügigen jährlichen Vergütung der Burg lebten. Oder es bis zu der Spaltung getan hatten. »Darüber hinaus sind fast die Hälfte der Schwestern, die dazu gezwungen werden, Gelbe«, fuhr sie fort. »Ich bekomme jeden Tag Beschwerden. Zumindest wir haben Wichtigeres mit unserer Zeit zu tun als... Spielereien herzustellen.« Das brachte ihr einen harten Blick von Ashmanaille ein, einer Grauen, und ein kaltes Funkeln von Kairen, die eine Blaue war, aber Salita ignorierte sie. Sie gehörte zu den Gelben, die der Ansicht waren, dass die anderen Ajahs bloß ein Anhängsel der ihren waren, die von allen natürlich als Einzige wirklich von Nutzen war.
»Und Novizinnen sollten überhaupt keine so komplizierten Gewebe machen«, fügte Tiana hinzu und gesellte sich zu ihnen. Die Oberin der Novizinnen war nie zurückhaltend, wenn es darum ging, den Sitzenden oder der Amyrlin die Meinung zu sagen, und sie trug einen verärgerten Gesichtsausdruck. Sie schien nicht zu bemerken, dass das ihr Grübchen betonte und sie aussehen ließ, als würde sie schmollen. »Es ist eine erstaunliche Entdeckung, und ich für meinen Teil habe keine Einwände gegen Geschäfte, aber einige dieser Mädchen können kaum einem Feuerball eine andere Farbe geben. Wenn wir sie solche Gewebe bewerkstelligen lassen, wird es nur noch schwieriger, sie davon abzuhalten, sich an Dingen zu versuchen, mit denen sie nicht umgehen können, und das Licht weiß, dass das schon schwer genug ist. Sie könnten sich sogar etwas antun.«
»Unsinn, Unsinn«, rief Janya aus und schlenkerte die Hand, als wollte sie die Vorstellung wegwischen. »Jedes aufgenommene Mädchen kann bereits drei Feuerbälle auf einmal machen, und das hier erfordert kaum mehr an Macht. Das ist völlig ungefährlich, solange sie von einer Schwester überwacht werden, und das werden sie immer. Ich habe den Dienstplan gesehen. Davon abgesehen wird das, was wir an einem Tag herstellen, genug einbringen, um das Heer eine Woche lang zu bezahlen, aber allein können die Schwestern nicht mal annähernd genug produzieren.« Sie kniff leicht die Augen zusammen und schien plötzlich durch Tiana hindurchzusehen. Der Wortschwall hörte nicht auf, allerdings schien sie dabei zumindest zur Hälfte mit sich selbst zu sprechen. »Wir müssen bei dem Verkauf sehr vorsichtig sein. Das Meervolk hat einen gewaltigen Appetit auf Cuendillar, und allen Berichten zufolge sind noch viele ihre Schiffe vor Illian und Tear — auch die dortigen Adligen sind ganz versessen darauf, aber selbst ihr Verlangen hat seine Grenzen. Ich kann mich noch immer nicht dazu durchringen, dort mit sämtlichen Waren zu erscheinen. Früher oder später wird selbst der Preis für Cuendillar fallen.« Sie blinzelte und sah zuerst Tiana und dann Salita mit schief gelegtem Kopf an. »Ihr versteht meinen Standpunkt, oder?«
Salita starrte sie finster an und zog die Stola nach oben. Tiana warf entnervt die Hände in die Luft. Egwene schwieg. Dieses eine Mal war es ihr nicht peinlich, für eine ihrer angeblichen Entdeckungen gelobt zu werden. Im Gegensatz zu fast allem anderen mit Ausnahme des Schnellen Reisens war das ihre Sache, auch wenn Moghedien sie vor ihrer Flucht in die richtige Richtung gelenkt hatte. Die Frau hatte keine Ahnung, wie man etwas tatsächlich erschaffen konnte — zumindest hatte sie kein derartiges Wissen enthüllt, ganz egal, wie sehr Egwene sie auch unter Druck gesetzt hatte, und sie hatte sie sehr unter Druck gesetzt. Aber Moghedien verfügte über eine ordentliche Portion Habgier, und selbst im Zeitalter der Legenden war Cuendillar ein begehrtes Luxusgut gewesen. Sie hatte genug über die Herstellung gewusst, dass Egwene den Rest enträtseln konnte. Aber davon abgesehen, der Bedarf an Geld gewährleistete, dass die Produktion von Cuendillar weitergehen würde. Und soweit es sie betraf, je länger es dauerte, bevor etwas verkauft wurde, desto besser.
Sharinas lautes Händeklatschen in den Tiefen des Zeltes ließ alle die Köpfe herumreißen. Auch Kairen und Ashmanaille drehten sich um, die Blaue ließ sogar ihr Gewebe los, sodass ihr Becher klirrend auf die Tischplatte fiel. Das war ein Zeichen von Langeweile. Der Prozess konnte erneut begonnen werden, aber es war schwierig, den präzisen Punkt wieder zu finden, und manche Schwestern nutzten jede sich bietende Gelegenheit, um in der Stunde, die sie jeden Tag im Zelt zu verbringen hatten, etwas anderes zu tun. Eine Stunde oder bis sie einen Gegenstand vollendet hatten, was immer zuerst eintraf. Das sollte sie antreiben, die Vervollkommnung ihrer Fertigkeiten intensiver zu betreiben, aber nur wenige machten große Fortschritte.
»Bodewhin, Nicola, ihr müsst zum Unterricht«, verkündete Sharina. Sie sprach nicht laut, aber ihre Stimme verfügte über eine Kraft, die jedes Stimmengewirr durchschnitten hätte, ganz zu schweigen von der Stille des Zeltes. »Ihr habt noch Zeit, euch die Hände und die Gesichter zu waschen. Schnell, beeilt euch. Ihr wollt doch keine schlechten Einträge bekommen.«
Bode — Bodewhin — bewegte sich effizient und eifrig, sie ließ Saidar los und legte ihren zur Hälfte fertig gestellten Cuendillar-Armreifen in eine der Truhen an den Wänden, damit jemand anders ihn vollenden konnte, dann holte sie ihren Umhang. Hübsch und rotwangig trug sie ihr Haar in einem langen Zopf, obwohl Egwene nicht davon überzeugt war, dass sie dazu die Erlaubnis vom Frauenkreis hatte. Aber diese Welt lag hinter ihr. Sie zog die Fäustlinge über, als sie aus dem Zelt eilte, und hielt den Blick gesenkt und schaute nicht einmal in Egwenes Richtung. Sie verstand offensichtlich noch immer nicht, warum eine Novizin nicht auf einen Plausch beim Amyrlin-Sitz vorbeikommen konnte, wenn ihr der Sinn danach stand, und das, obwohl sie doch zusammen aufgewachsen waren.
Egwene hätte sich gern mit Bode und einigen der anderen unterhalten, aber auch eine Amyrlin musste ein paar Lektionen lernen. Eine Amyrlin hatte viele Pflichten, wenig Freunde und keine Favoriten. Davon abgesehen hätte bereits der Anschein von Bevorzugung die Mädchen von den Zwei Flüssen hervorgehoben und ihr Leben mit den anderen Novizinnen zur Hölle gemacht. Und im Saal würde das auch nicht gut aufgenommen werden, dachte sie trocken. Sie wünschte sich bloß, die Mädchen von den Zwei Flüssen hätten das verstanden.
Die andere Novizin, die Sharina aufgerufen hatte, blieb sitzen und hörte auch nicht auf, die Macht zu lenken. Nicolas schwarze Augen funkelten Sharina wütend an. »Ich könnte die Beste sein, wenn man mir einmal erlauben würde, in Ruhe zu üben«, murmelte sie mürrisch. »Ich werde besser, ich weiß es. Ich kann Vorhersehen, wie du weißt.« Als hätte das eine etwas mit dem anderen zu tun. »Tiana Sedai, sagt ihr, dass ich länger bleiben darf. Ich kann diese Schüssel vor meiner nächsten Unterrichtsstunde vollenden, und ich bin sicher, Adine Sedai hätte nichts dagegen, wenn ich mich etwas verspäte.« Wenn ihr Unterricht bald anfing, würde sie sich mehr als nur etwas verspäten, falls sie die Schüssel zu Ende bearbeitete; ihre einstündigen Bemühungen hatten sie nur zur Hälfte verwandelt.
Tiana öffnete den Mund, aber bevor sie ein Wort sagen konnte, hob Sharina einen Finger und einen Moment später einen zweiten. Damit musste es eine besondere Bewandtnis auf sich haben, denn Nicola erblasste und ließ ihr Gewebe augenblicklich los, dann sprang sie so schnell auf, dass sie die Bank anstieß, was ihr böse Blicke von den anderen beiden Novizinnen einbrachte, die sie mit ihr teilten. Aber sie beugten sich wieder schnell über ihre Arbeit, und Nicola rannte fast, um die halb fertige Schüssel in eine Truhe zu legen, bevor sie ihren Umhang an sich riss. Zu Egwenes Überraschung sprang eine Frau in einem kurzen braunen Mantel und weiten Hosen, die ihr zuvor nicht aufgefallen war, von dem Platz im hinteren Teil des Zeltes auf, wo sie auf dem Boden gesessen hatte. Areina starrte alle Anwesenden finster an und rannte hinter Nicola aus dem Zelt, und beide Frauen waren wie ein Spiegelbild aus Unmut und Unzufriedenheit. Die beiden zusammen zu sehen bereitete Egwene Unbehagen.
»Ich wusste nicht, dass es Freunden erlaubt ist, hier zuzusehen«, sagte sie. »Macht Nicola noch immer Schwierigkeiten?« Nicola und Areina hatten versucht, sie und Myrelle und Nisao zu erpressen, aber das meinte sie nicht. Das war noch immer ein weiteres Geheimnis.
»Besser, das Mädchen ist mit Areina befreundet, als dass sie zu einem der Pferdeknechte freundlich ist«, sagte Tiana schnaubend. »Ihr müsst wissen, zwei bekommen ein Kind, und bei zehn weiteren ist das noch nicht abzusehen. Aber das Mädchen braucht mehr Freunde. Freunde werden ihr gut tun.«
Sie verstummte, als zwei weitere in Weiß gekleidete Novizinnen ins Zelt stürzten und quiekend und rutschend zum Stehen kamen, als sie sich Aes Sedai gegenüberfanden. Sie machten hastig ihre Knickse und eilten nach einem Wink von Tiana ins Zeltinnere und legten ihre Umhänge gefaltet auf eine Bank, bevor sie sich aus einer der Truhen einen teilweise weißen Pokal und eine fast vollständig weiße Schale holten.
Sharina wartete, bis sie an der Arbeit saßen, dann holte sie ihren Umhang und legte ihn sich über die Schultern, bevor sie zum Ausgang kam. »Wenn Ihr mich entschuldigen wollt, Tiana Sedai«, sagte sie und machte einen Knicks, der nur um Haaresbreite einer Verabschiedung von Gleichgestellten nahe kam, »man hat mir aufgetragen, heute beim Mittagessen zu helfen, und ich möchte die Köche nicht verärgern.« Ihre dunklen Augen richteten sich kurz auf Egwene, und sie nickte an sich selbst gerichtet.
»Dann geh«, erwiderte Tiana scharf. »Ich würde nur ungern hören, dass man dich fürs Zuspätkommen geschlagen hat.«
Sharina knickste ungerührt ein weiteres Mal vor Tiana, weder zu schnell noch zu lange, dann vor den Sitzenden und Egwene — mit einem Blick, der zwar durchbohrend, aber zu kurz war, um als Beleidigung aufgefasst werden zu können —, und als die Zeltplane hinter ihr zurückfiel, stieß Tiana verzweifelt die Luft aus.
»Nicola macht weniger Ärger als andere«, sagte sie finster, und Janya schüttelte den Kopf.
»Sharina macht keine Probleme, Tiana.« Sie sprach so schnell wie immer, aber leise, damit ihre Stimme nicht bis ins Zelt hineintrug. Meinungsverschiedenheiten zwischen Schwestern wurden niemals vor Novizinnen ausgetragen. Vor allem dann nicht, wenn es dabei um eine Novizin ging.
»Sie kennt die Regeln bereits besser als jede Aufgenommene, und schiebt niemals auch nur einen Zeh über die Grenze. Sie drückt sich nicht vor den schmutzigsten Arbeiten, und sie ist die Erste, die einer anderen Novizin hilft, wenn es nötig ist. Sharina ist einfach so, wie sie ist. Beim Licht, Ihr könnt doch keiner Novizin erlauben, Euch einzuschüchtern.«
Tiana versteifte sich und wollte widersprechen, aber sobald Janya sich einmal an einem Thema festgebissen hatte, war es nicht einfach, einen Einwand anzubringen. »Nicola hingegen macht alle möglichen Probleme, Mutter«, fuhr die Braune hastig fort. »Seit wir herausgefunden haben, dass sie Vorhersehen kann, macht sie es zweibis dreimal täglich, wie sie erzählt. Oder vielmehr wie Areina erzählt. Nicola ist schlau genug zu wissen, dass sie sich nicht an das erinnern kann, was sie sagt, wenn sie Vorhersieht, aber Areina scheint immer da zu sein und sich an alles zu erinnern, und sie hilft ihr bei der Interpretation. Manches gehört zu den Dingen, die sich jeder im Lager mit einem Funken Verstand und einer leichtgläubigen Natur einfallen lassen könnte — Schlachten mit den Seanchanern oder den Asha'man, eine gefangene Amyrlin, der Wiedergeborene Drache, der neun unmögliche Taten vollbringt, Visionen, die Tarmon Gai'don oder ein verdorbener Magen sein könnten —, und der Rest ist zufälligerweise stets ein Hinweis darauf, dass man Nicola schneller lernen lassen sollte. Sie übertreibt es immer mit ihrer Gier. Ich glaube, die meisten anderen Novizinnen haben aufgehört, ihr zu glauben.«
»Sie steckt auch überall ihre Nase hinein«, sagte Salita, als Janya Luft holen musste. »Sie und die Pferdefrau.« Ihr Gesicht blieb kühl und unbewegt, und sie zupfte die Stola zurecht, als wäre sie vollauf damit beschäftigt, aber sie sprach etwas zu hastig, vielleicht aus Furcht, die Braune würde das Gespräch wieder an sich reißen. »Sie haben beide eine Prügelstrafe bekommen, weil sie Schwestern belauscht haben, und ich selbst habe Nicola dabei erwischt, wie sie einen Blick in eine der Reisestellen werfen wollte. Sie behauptete, nur sehen zu wollen, wie sich ein Wegetor öffnete, aber ich glaube, sie wollte das Gewebe lernen. Ungeduld kann ich verstehen, aber Täuschungen können nicht geduldet werden. Ich glaube nicht länger, dass sich Nicola die Stola verdienen wird, und ehrlich gesagt frage ich mich mittlerweile, ob man sie nicht besser früher als später fortschicken sollte. Das Novizinnenbuch mag jedermann offen stehen«, kam sie mit einem ausdruckslosen Blick auf Egwene zum Ende, »aber wir müssen unsere Ansprüche nicht völlig herabsetzen.«
Tiana schürzte stirnrunzelnd die Lippen, was das Grübchen wieder hervorhob. Man hätte fast vergessen können, dass sie seit über dreißig Jahren die Stola trug, und sie für eine Novizin halten können. »Solange ich die Oberin der Novizinnen bin, habe ich die Entscheidung zu treffen, ob ein Mädchen weggeschickt wird«, sagte sie hitzig, »und ich habe nicht vor, ein Mädchen mit Nicolas Potenzial zu verlieren.« Eines Tages würde Nicola in der Einen Macht sehr stark sein. »Oder Sharinas«, fügte sie mit einer Grimasse hinzu und glättete gereizt die Röcke. Sharinas Potenzial war wirklich erstaunlich, es ging weit über jeden in der Erinnerung hinaus, ausgenommen vielleicht Nynaeve, und übertraf selbst Egwenes. Einige glaubten, sie könnte so stark werden, wie es nur möglich war, allerdings waren das nur Spekulationen. »Wenn Nicola Euch gestört hat, Mutter, werde ich mich darum kümmern.«
»Ich war nur neugierig«, sagte Egwene bedächtig und schluckte die Bemerkung herunter, dass man die junge Frau und ihre Freundin streng beobachten sollte. Sie wollte nicht über Nicola sprechen. Es konnte zu schnell passieren, dass sie vor die Wahl gestellt wurde, entweder lügen oder Dinge enthüllen zu müssen, die sie nicht zu enthüllen wagte. Zu dumm, dass sie Siuan nicht erlaubt hatte, für zwei unauffällige Todesfälle zu sorgen.
Der Gedanke ließ sie entsetzt den Kopf hochreißen.
Hatte sie sich so weit von Emondsfelde entfernt? Ihr war klar, dass sie früher oder später Männern befehlen musste, in die Schlacht zu ziehen und zu sterben, und sie glaubte auch, dazu fähig zu sein, in großer Not einen Tod anzuordnen. Wenn ein Tod den Tod von Tausenden oder sogar Hunderttausenden verhindern konnte, war es dann nicht richtig, ihn zu befehlen? Aber die von Nicola und Areina ausgehende Gefahr bestand lediglich darin, dass sie Geheimnisse ausplaudern konnten, die Egwene al'Vere Unannehmlichkeiten bereitet hätten. Oh, Myrelle und die anderen hätten Glück gehabt, mit der Prügelstrafe davonzukommen, und sie würden das mit Sicherheit für mehr als nur unangenehm halten, aber Schmerzen, gleichgültig, wie heftig sie auch sein würden, boten keinen ausreichenden Grund, um deswegen zu töten.
Unvermittelt wurde Egwene sich bewusst, dass sie die Stirn runzelte und Tiana und die beiden Sitzenden sie beobachteten. Janya machte sich nicht einmal die Mühe, ihre Neugier hinter einer Maske aus Gelassenheit zu verbergen. Um ihre Verlegenheit zu überspielen, richtete Egwene ihr Stirnrunzeln auf den Tisch, an dem Kairen und Ashmanaille wieder an der Arbeit saßen. Das Weiß an Ashmanailles Becher war ein Stück emporgeklettert, aber in dieser kurzen Zeit hatte Kairen aufgeholt. Sogar mehr als aufgeholt, da ihr Pokal mehr als doppelt so groß wie der Becher war.
»Eure Fertigkeiten werden besser, Kairen«, sagte Egwene anerkennend.
Die Blaue schaute zu ihr hoch und holte tief Luft. Ihr ovales Gesicht wurde zu einem Abbild kühler Gelassenheit, in dessen Mitte diese so kalt blickenden blauen Augen saßen. »Dafür braucht man keine große Fertigkeiten, Mutter. Man muss nur das Gewebe weben und warten.« Das letzte Wort wies einen Unterton von Schärfe auf, und was das anging, hatte es vor dem »Mutter« ein leichtes Zögern gegeben. Kairen war in Salidar auf eine sehr wichtige Mission geschickt worden, nur um miterleben zu müssen, wie alles auseinander brach — auch wenn das nicht ihre Schuld war —, und als sie in Murandy wieder zu ihnen gestoßen war, war alles, was sie zurückgelassen hatte, auf den Kopf gestellt gewesen und ein Mädchen, an das sie sich als Novizin erinnern konnte, trug die Stola der Amyrlin. In der letzten Zeit hatte Kairen viel Zeit mit Lelaine verbracht.
»Sie wird besser — in einigen Dingen«, sagte Janya mit einem bezeichnenden Blick für die Blaue Schwester. Janya war vermutlich genau wie die anderen Sitzenden davon überzeugt gewesen, dass der Saal eine Marionette erhielt, wenn er Egwene zur Amyrlin erhob, aber sie schien akzeptiert zu haben, dass sie nun die Stola trug und von jedem den nötigen Respekt verdiente. »Natürlich bezweifle ich, dass sie Leane einholt, falls sie sich nicht große Mühe gibt, und Euch sicher auch nicht, Mutter. Tatsächlich könnte die junge Bodewhin sie einholen. Ich selbst möchte mich nicht von einer Novizin überflügeln lassen, aber vermutlich denkt da jeder anders.« Rote Flecken kamen auf Kairens Wangen zum Vorschein, ihr Blick fiel auf den Pokal.
Tiana schnaubte. »Bodewhin ist ein braves Mädchen, aber sie albert ständig mit den anderen Novizinnen herum, wenn Shar...« Sie holte tief Luft. »Wenn man sie nicht im Auge behält. Gestern haben sie und Altyhn Conly versucht, zwei Gegenstände gleichzeitig zu bearbeiten, nur um zu sehen, was passiert, und die Dinge verschmolzen zu einem soliden Klumpen. Natürlich völlig unverkäuflich, es sei denn, man fände jemanden, der zwei zur Hälfte aus Eisen und Cuendillar bestehende Becher, die aneinander kleben, haben will. Und das Licht weiß, was den Mädchen hätte zustoßen können. Anscheinend ist es noch einmal gut gegangen, aber wer weiß, was beim nächsten Mal geschieht?«
»Sorgt dafür, dass es kein nächstes Mal gibt«, sagte Egwene gedankenverloren, die Aufmerksamkeit auf Kairens Pokal gerichtet. Der weiße Rand kroch gleichmäßig in die Höhe. Wenn Leane dieses Gewebe ausführte, verwandelte sich das schwarze Eisen in weißes Cuendillar, als würde das Eisen schnell in Milch versinken. Bei Egwene selbst geschah die Verwandlung schneller als ein Augenblinzeln, blitzartig wurde aus Schwarz Weiß. Es würden Kairen oder Leane sein müssen, aber selbst Leane war kaum schnell genug. Kairen brauchte Zeit, um besser zu werden. Tage? Wochen? Was auch immer nötig war, denn alles andere hätte eine Katastrophe bedeutet — für die Frauen, die daran beteiligt waren, und die Männer, die bei den Kämpfen in den Straßen von Tar Valon sterben würden, und vielleicht für die Burg selbst. Plötzlich war Egwene froh, dass sie Beonins Vorschlag akzeptiert hatte. Kairen zu verraten, warum sie sich mehr anstrengen musste, hätte vielleicht das Gegenteil bewirkt, aber das war ein weiteres Geheimnis, das gehütet werden musste, bis die Zeit gekommen war, es der Welt zu enthüllen.