Perrin schritt ungeduldig auf den mit Blumenornamenten verzierten Teppichen auf und ab, die auf dem Boden des Zeltes lagen, und wand sich unbehaglich in dem dunkelgrünen Seidenmantel, den er nur selten getragen hatte, seit Faile ihn hatte anfertigen lassen. Sie behauptete, die aufwändigen Silberstickereien würden seine Schultern zur Geltung bringen, aber der breite Ledergürtel und die Axt daran — eines so schlicht wie das andere — zeigten nur, dass er ein Narr war, der vorgab, mehr zu sein, als er in Wirklichkeit war. Manchmal zog er seine Panzerhandschuhe enger oder starrte finster auf seinen mit Pelz gefütterten Umhang, der über einer Stuhllehne hing und darauf wartete, von ihm umgelegt zu werden. Zweimal zog er ein Stück Papier aus dem Ärmel und entfaltete es, um im Gehen die Karte von Malden zu studieren. Das war die Stadt, in der Faile gefangen gehalten wurde.
Jondyn und Get und Hu hatten die fliehenden Einwohner von Malden eingeholt, aber das einzig nützliche, was sie erhalten hatten, war diese Karte, und es war ein hartes Stück Arbeit gewesen, die Flüchtlinge zum Anhalten zu bewegen, um sie zu bekommen. Jene, die stark genug gewesen waren, um zu kämpfen, waren tot oder trugen das Weiß der Gai'schain für die Shaido; geflohen waren nur die Alten und die ganz Jungen, die Kranken und Gebrechlichen. Jondyn zufolge hatte der Gedanke, jemand könnte sie zur Rückkehr und zum Kampf gegen die Shaido zwingen, ihre Schritte nach Norden in Richtung Andor und der dort erhofften Sicherheit gelenkt. Die Karte war ein Rätsel mit ihrem Straßenlabyrinth und der Festung der Hohen Herrin und der großen Zisterne in der nordöstlichen Ecke. Sie quälte ihn mit ihren Möglichkeiten. Aber diese Möglichkeiten würden sich nur ergeben, wenn er die Lösung für ein größeres Rätsel fand, das nicht auf der Karte verzeichnet war, die gewaltige Masse an Shaido, die die befestigte Stadt umgab, ganz zu schweigen von den vierhundert oder fünfhundert Weisen Frauen, die die Macht lenken konnten. Also wurde die Karte zurück in den Ärmel geschoben und die Wanderung wieder aufgenommen.
Das rot gestreifte Zelt ärgerte ihn genauso sehr wie die Karte, und das galt auch für die Möbel, die vergoldeten Stühle, die man zum Transport zusammenklappen konnte, und der Tisch mit dem Mosaik, bei dem das nicht möglich war, der Standspiegel und der mit einem Spiegel versehene Waschstand und selbst die Truhen, die aufgereiht an einer Zeltwand standen. Es war draußen noch nicht richtig hell, und alle zwölf Lampen brannten, und ihre Spiegel funkelten. Die Kohlenbecken, welche die eisige Kälte der Nacht zurückgehalten hatten, enthielten noch etwas Glut. Er hatte sogar Failes beide Seidenwandbilder herausholen und an den Dachpfählen aufhängen lassen. Er hatte Lamgwin seinen Bart stutzen und Wangen und Hals sauber rasieren lassen; er hatte sich gewaschen und frische Sachen angezogen. Er hatte das Zelt aufbauen lassen, als würde Faile jeden Augenblick vom Ausritt zurückkehren. Alles, nur damit jeder, der ihn sah, einen verdammten Lord sehen und sich zuversichtlich fühlen konnte. Und jedes Detail erinnerte ihn daran, dass Faile nicht ausgeritten war. Er zog einen Handschuh aus und tastete in seiner Jackentasche über die dort verstaute Lederschnur. Jetzt waren es zweiunddreißig Knoten. Er musste nicht daran erinnert werden, aber manchmal lag er die ganze Nacht wach in dem Bett, in dem Faile fehlte, und zählte Knoten. Irgendwie waren sie eine Verbindung zu ihr geworden. Und wach zu sein war besser, als Albträume zu haben.
»Wenn Ihr Euch nicht setzt, werdet Ihr selbst mit Nealds Hilfe zu müde für den Ritt nach So Habor sein«, sagte Berelain in leicht amüsiertem Tonfall. »Allein Euch zuzusehen macht mich müde.«
Es gelang ihm, sie nicht böse anzustarren. Die Erste von Mayene saß auf ihrem zusammengelegten, scharlachroten Umhang auf einem der Klappstühle, die Hände auf dem Schoß um die roten Reithandschuhe gefaltet; sie trug ein dunkelblaues Reitgewand, eine breite, mit Feuertropfen besetzte Goldkette und die schmale Krone von Mayene, auf der ein goldener Falke über ihren Brauen flog. Sie sah so beherrscht wie eine Aes Sedai aus, und sie roch... geduldig. Er verstand nicht, warum sie aufgehört hatte, so zu riechen, als wäre er ein fettes Lamm, das sich im Dickicht verfangen hatte und ihr als Mahlzeit dienen sollte, aber er war ihr dafür fast schon dankbar. Es war gut, jemanden zu haben, mit dem er sich über die verschwundene Faile unterhalten konnte. Sie hörte zu und roch nach Mitgefühl.
»Ich will hier sein, falls... wenn Gaul und die Töchter Gefangene bringen.« Der Versprecher ließ ihn das Gesicht verziehen, genau wie die Verzögerung. Es war, als würde er an ihnen zweifeln. Früher oder später würde man einige Shaido gefangen nehmen, aber offensichtlich war das keine einfache Sache. Gefangene zu machen war sinnlos, solange man sie nicht fortschaffen konnte, und die Shaido waren nur im Vergleich mit anderen Aiel sorglos. Aber es fiel ihm immer schwerer, geduldig zu sein. »Wo bleibt Arganda?«, knurrte er.
Als hätte die Nennung seines Namens den Ghealdaner endlich herbeibefohlen, schob sich Arganda durch den Zelteingang; sein Gesicht war versteinert, und die Augen lagen tief in ihren Höhlen. Er sah aus, als würde er genauso wenig schlafen wie Perrin. Der kleine Mann trug seinen silbernen Brustpanzer, aber keinen Helm. Er hatte sich an diesem Morgen nicht rasiert, sein Kinn war mit grauen Stoppeln übersät. Von einer behandschuhten Hand klirrte ein fetter Geldbeutel, den er neben zwei anderen auf dem Tisch ablegte. »Aus der Schatulle der Königin«, sagte er verdrossen. Er hatte in den vergangenen zehn Tagen nur wenig gesagt, was nicht verdrossen geklungen hatte. »Es reicht, um unseren Anteil abzudecken und mehr. Ich musste das Schloss aufbrechen und drei Mann zur Bewachung abstellen. Es ist eine Versuchung, selbst für die besten von ihnen, jetzt, da das Schloss kaputt ist.«
»Gut, gut«, sagte Perrin und versuchte, nicht zu ungeduldig zu klingen. Ihm war es gleichgültig, ob Arganda hundert Männer zur Bewachung der Geldtruhe seiner Königin abstellen musste. Sein Beutel war der kleinste der drei, und er hatte jede Gold- und Silbermünze zusammengekratzt, die er hatte finden können. Er warf sich den Umhang über die Schultern, nahm die Geldbeutel und eilte an dem Mann vorbei in den grauen Morgen hinaus.
Zu seinem Ärger hatte das Lager ein dauerhafteres Gepräge angenommen, obwohl es bestimmt nicht so geplant war, und es gab nichts, was er dagegen tun konnte. Viele der Männer von den Zwei Flüssen schliefen jetzt in Zelten, sie bestanden aus hellbraunem, geflicktem Segeltuch statt aus rot gestreiftem wie seinem, aber sie waren groß genug für acht oder zehn Männer, wobei ihre zusammengewürfelten Blankwaffen davor aufgeschichtet waren, und die anderen hatten ihre provisorischen Unterkünfte in stabile kleine Hütten aus geflochtenen Immergrünzweigen verwandelt. Die Zelte und Hütten boten bestenfalls schiefe Reihen, sie hatten nicht viel Ähnlichkeit mit den geraden Reihen, wie man sie bei den Ghealdanern und Mayenern sehen konnte, trotzdem hatte es eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Dorf, mit Pfaden und Straßen, in denen der Schnee bis zur nackten, gefrorenen Erde niedergetrampelt war. Jedes Herdfeuer wurde von einem ordentlichen Steinkreis umgeben, und hier hatten sich kleine Gruppen von Männern versammelt, die gegen die Kälte vermummt auf ihr Frühstück warteten.
Es war der Inhalt der schwarzen Eisenkochtöpfe, der Perrin an diesem Morgen zum Handeln trieb. Da so viele Männer jagten, wurde das Wild knapp, und alles andere ging aus. Sie mussten nach den von Eichhörnchen angelegten Eichelvorräten suchen, die sie mahlen konnten, um das Hafermehl zu strecken, und was sie so spät im Winter fanden, war alt und bestenfalls vertrocknet. Die Mixtur füllte zwar irgendwie den Magen, aber man musste wirklich hungrig sein, um sie herunterzukriegen. Die meisten Gesichter, die Perrin erkennen konnte, beobachteten die Kochtöpfe begierig. Die letzten Karren ratterten durch eine Lücke, die man in dem Kreis aus angespitzten Pfählen um das Lager herum gemacht hatte; die cairhienischen Kutscher waren bis zu den Ohren vermummt und hockten wie dunkle Wollsäcke auf ihren Sitzen. Die ursprüngliche Ladung war in der Lagermitte aufgebaut worden. Jetzt polterten sie durch die Furchen, die die vorausfahrenden Karren hinterlassen hatten, eine einzelne Reihe, die im Wald verschwand.
Perrins Auftritt mit Berelain und Arganda verursachte Aufsehen, wenn auch nicht unter den hungrigen Männern von den Zwei Flüssen. Oh, ein paar von ihnen nickten vorsichtig in seine Richtung — ein oder zwei Narren machten sogar ungelenke Verbeugungen! —, aber die meisten versuchten noch immer, ihn nicht anzusehen, wenn Berelain in der Nähe war. Idioten. Dumme, hirnrissige Idioten! Es gab jedoch genügend andere Leute in der Nähe des rot gestreiften Zelts, die sich in den Wegen zwischen den anderen Zelten drängten. Ein mayenischer Soldat ohne Rüstung in einem grauen Mantel kam mit Berelains weißer Stute angelaufen, verbeugte sich und hielt den Steigbügel. Annoura saß bereits auf einer schlanken Stute, die fast so dunkel war wie Berelains Pferd hell. Aus der Kapuze ihres Umhangs hingen dünne, mit eingeflochtenen Perlen versehen Zöpfe; die Aes Sedai schien die Frau, die sie eigentlich beraten sollte, kaum zu bemerken. Steif im Sattel sitzend, starrte sie zu den niedrigen Zelten der Aiel, bei denen sich außer den schmalen Rauchfahnen aus den Abzugslöchern nichts regte. Aber der einäugige Gallenne mit seinem roten Helm und Brustpanzer und der Augenklappe machte die mangelnde Aufmerksamkeit der tarabonischen Schwester mehr als wieder wett. Sobald Berelain erschien, bellte er einen Befehl, der fünfzig der Geflügelten Wachen in Statuen verwandelte, die langen, mit roten Wimpeln geschmückten und mit stählernen Spitzen versehenen Lanzen aufrecht an ihren Seiten, und als sie aufsaß, brüllte er einen weiteren Befehl, der die Männer so anmutig auf ihre Pferde steigen ließ, dass sie sich wie ein Mann zu bewegen schienen.
Arganda sah stirnrunzelnd zu den Aiel-Zelten hinüber und bedachte die Mayener ebenfalls mit einem Stirnrunzeln, dann ging er zu der Stelle, an der viele ghealdanische Lanzenreiter in funkelnden Rüstungen und den konisch geformten grünen Helmen warteten, und sprach leise mit dem Burschen, der sie befehlen würde, einem schlanken Mann namens Kireyin, der dem hochmütigen Blick nach zu urteilen, der hinter dem Stangenvisier seines versilberten Helmes funkelte, bestimmt von adliger Geburt war. Arganda war klein genug, dass sich Kireyin zu ihm herunterbeugen musste, um zu verstehen, was er zu sagen hatte, und diese Notwendigkeit ließ das Gesicht des größeren Mannes noch kühler erscheinen. Einer der Männer hinter Kireyin trug statt einer grünen Lanze einen Stab mit einem roten Banner, auf dem die drei sechszackigen Silbernen Sterne von Ghealdan zu sehen waren, und einer der Geflügelten Wachen trug Mayenes Goldenen Falken auf blauem Feld.
Aram war auch da, aber an der Seite und nicht zum Aufbruch bereit. In seinen giftgrünen Umhang gehüllt teilte er seine eifersüchtigen Blicke zwischen Mayenern und Ghealdanern auf. Als er Perrin erblickte, wurde sein Ausdruck mürrisch, und er eilte los und bahnte sich seinen Weg durch die Männer von den Zwei Flüssen, die auf ihr Frühstück warteten. Er blieb nicht stehen, um sich zu entschuldigen, wenn er jemand anrempelte. Im Verlauf der Tage, an denen sie dagesessen und gewartet hatten, war Aram zunehmend gereizter geworden und hatte jeden bis auf Perrin angefaucht. Gestern hätte er sich beinahe mit zwei Ghealdanern geprügelt, und zwar wegen etwas, an das sich keiner der beiden mehr genau erinnern konnte, nachdem man sie voneinander getrennt hatte — wenn man davon absah, dass Aram gesagt hatte, die Ghealdaner hätten keinen Respekt, und sie erwidert hatten, er hätte eine große Klappe. Darum blieb der ehemalige Kesselflicker an diesem Morgen auch zurück. In So Habor würden die Dinge auch so schon heikel genug sein, ohne dass Aram Streit anfing, wenn Perrin gerade nicht hinsah.
»Behaltet Aram im Auge«, sagte er leise, als Dannil sein Pferd brachte. »Und erst recht Arganda«, fügte er hinzu, stopfte die Beutel in seine Satteltaschen und schnallte die Klappen sorgfältig zu. Das Gewicht von Berelains Beitrag entsprach etwa dem, was er und Arganda zusammengebracht hatten. Nun, sie hatte einen Grund, großzügig zu sein. Ihre Männer waren genauso hungrig wie alle anderen auch. »Arganda sieht meiner Meinung nach wie ein Mann aus, der im Begriff steht, etwas Dummes zu tun.« Steher warf den Kopf nach hinten, als Perrin die Zügel übernahm, aber der Hengst beruhigte sich schnell unter seiner festen, ruhigen Hand.
Dannil rieb mit von der Kälte geröteten Knöcheln über seinen stoßzahnähnlichen Schnurrbart und warf Arganda einen Seitenblick zu, dann atmete er schwer aus. »Ich werde ihn beobachten, Lord Perrin«, murmelte er und zog an seinem Umhang, »aber was Ihr mir auch befohlen habt, sobald Ihr außer Sicht seid, wird er nicht mehr auf mich hören.«
Leider entsprach das der Wahrheit. Perrin hätte lieber Arganda mitgenommen und Gallenne zurückgelassen, aber keiner von ihnen war bereit gewesen, das zu akzeptieren. Der Ghealdaner stimmte zu, dass Männer und Pferde bald anfangen würden zu hungern, wenn man nicht irgendwie Lebensmittel und Futter fand, aber er konnte sich nicht dazu überwinden, sich auch nur einen Schritt weiter von seiner Königin zu entfernen. In mancherlei Hinsicht schien er noch verzweifelter zu sein als Perrin oder vielleicht eher bereit, sich dem Gefühl zu ergeben. Sich selbst überlassen wäre Arganda jeden Tag ein Stück näher an die Shaido herangerückt, bis er sich direkt vor ihrer Nase befunden hätte. Perrin war bereit zu sterben, um Faile zu befreien. Arganda schien einfach nur bereit zu sein zu sterben.
»Tut, was Ihr könnt, um zu verhindern, dass er eine Dummheit begeht, Dannil.« Nach einem Moment fügte er hinzu: »Solange es nicht zu einem Kampf kommt.« Er konnte von Dannil nur bis zu einem gewissen Punkt erwarten, den Burschen zurückzuhalten. Auf jeden Mann von den Zwei Flüssen kamen drei Ghealdaner, und Faile würde nie befreit werden, wenn sie anfingen, sich gegenseitig umzubringen. Beinahe hätte Perrin den Kopf an Stehers Flanke angelehnt. Beim Licht, er war müde, und er konnte nirgendwo irgendwelche Fortschritte sehen.
Langsames Hufgestampfe verkündete die Ankunft von Masuri und Seonid; ihre drei Behüter ritten dicht hinter ihnen in Umhänge gehüllt, die jeden der Männer und die Flanken ihrer Pferde beinahe verschwinden ließen. Die Aes Sedai trugen schimmernde Seide, und unter dem Rand von Masuris dunklem Umhang blitzte eine schwere Goldkette hervor. Auf Seonids Stirn baumelte ein kleiner weißer Juwel von einem schmalen Goldkettchen, das in ihrem Haar befestigt war. Annoura entspannte sich und saß etwas lokkerer in ihrem Sattel. Zwischen den Aiel-Zelten standen die Weisen Frauen in einer Reihe und sahen zu, sechs große Frauen, deren Köpfe von schwarzen Schultertüchern verhüllt wurden. Die Bürger von So Habor würden Aiel möglicherweise genauso willkommen heißen wie die Leute aus Malden, aber Perrin war sich nicht sicher gewesen, ob die Weisen Frauen auch nur eine der Schwestern gehen lassen würden. Sie waren der letzte Grund zum Warten gewesen. Die Sonne war ein rotgoldener Rand über den Baumwipfeln.
»Je früher wir da sind, desto früher sind wir zurück«, sagte Perrin und stieg in den Sattel des Braunen. Als er durch die Lücke ritt, die man für die zweiräderigen Karren gemacht hatte, fingen die Männer von den Zwei Flüssen bereits an, die fehlenden Pfähle wieder an Ort und Stelle zu platzieren. Mit Masemas Leuten in der Nähe vernachlässigte keiner seine Wachsamkeit.
Es waren hundert Schritte bis zur Baumgrenze, aber Perrin sah eine Bewegung, jemand auf einem Pferd, der sich in die tieferen Schatten unter den hoch aufragen den Bäumen zurückzog. Zweifellos einer von Masemas Beobachtern, der zurückpreschte, um dem Propheten mitzuteilen, dass Perrin und Berelain das Lager verlassen hatten. Aber wie schnell er auch ritt, er würde nicht rechtzeitig eintreffen. Wenn Masema Berelain oder Perrin tot sehen wollte, was wahrscheinlich erschien, würde er auf eine andere Gelegenheit warten müssen.
Gallenne war hingegen nicht bereit, auch nur das kleinste Risiko einzugehen. Seit dem Tag, an dem Santes und Gendar, Berelains Diebefänger, nicht mehr aus Masemas Lager zurückgekehrt waren, hatte niemand auch nur eine Nasenspitze von ihnen gesehen, und für Gallenne war das eine so sichere Botschaft, als hätte man ihre Köpfe in einem Sack zurückgeschickt. Er hatte seine Lanzenreiter in einem Kreis um Berelain ausschwärmen lassen, noch bevor sie die Bäume erreicht hatten. Und um Perrin auch, aber das war nur ein Zufall. Wäre man Gallennes Wünschen gefolgt, hätte er alle neunhundert seiner Geflügelten Wachen mitgenommen, oder, was seiner Ansicht nach noch besser gewesen wäre, es Berelain ausgeredet, sie zu begleiten. Perrin hatte das auch versucht, mit genauso wenig Erfolg. Die Frau hatte so eine Art, sich alles anzuhören und dann genau das zu tun, was sie tun wollte. Faile war genauso. Manchmal musste ein Mann eben damit leben. Eigentlich sogar meistens, da man nichts dagegen tun konnte.
Die mächtigen Bäume und Felsvorsprünge, die aus dem Schnee ragten, brachen die Formation natürlich auf, aber selbst im Dämmerlicht des Waldes boten sie einen farbigen Anblick, die roten Wimpel, die in den schräg einfallenden Sonnenstrahlen flatterten, die rotgepanzerten Reiter, die für Augenblicke hinter massiven Eichen und Farnen verschwanden. Die drei Aes Sedai ritten hinter Perrin und Berelain, gefolgt von ihren Behütern, die den Wald um sie herum beobachteten, dann kam der Mann mit Berelains Banner. Kireyin und das Banner von Ghealdan kamen ein Stück dahinter; seine Männer ritten in ordentlichen, schimmernden Reihen, oder zumindest so gut, wie sie konnten. Die Offenheit des Waldes war eine Täuschung und schlecht für geordnete Reihen und helle Banner geeignet, aber wenn man die bestickte Seide und die Edelsteine und eine Krone und die Behüter in den farbverändernden Umhängen hinzurechnete, war es schon ein äußerst beeindruckender Anblick. Perrin hätte lachen können, wenn auch ohne große Heiterkeit.
Berelain schien seine Gedanken zu spüren. »Wenn man einen Sack Mehl kauft«, sagte sie, »soll man einfache Wolle tragen, damit der Verkäufer glaubt, dass man sich nicht leisten kann, mehr zu zahlen als unbedingt nötig. Wenn man auf Wagenladungen Mehl aus ist, muss man Juwelen tragen, damit er glaubt, dass man sich leisten kann, für alles zurückzukommen, was er irgendwie herbeischaffen kann.«
Trotz allem musste Perrin lachen. Es klang wie etwas, das Meister Luhan ihm einst gesagt hatte, mit einem Rippenstoß, um zu verdeutlichen, dass es ein Scherz war, und einem Funkeln im Blick, das besagte, dass etwas mehr dahintersteckte. Kleide dich ärmlich, wenn du einen kleinen Gefallen willst, und aufwändig, wenn es ein großer sein soll. Er war sehr froh, dass Berelain nicht länger wie eine jagende Wölfin roch. Wenigstens eine Sorge weniger.
Sie holten bald den letzten der Karren ein, eine Reihe, die sich nicht länger bewegte, als sie die Reisestelle erreichten. Äxte und Schweiß hatten die von den Wegetoren abgeschnittenen Bäume entfernt und eine kleine Lichtung geschaffen, aber sie war schon dicht bevölkert, noch bevor Gallenne seinen Kreis aus Lanzenreitern um sie herum gruppierte, und zwar nach außen gerichtet. Fager Neald war bereits da, ein geckenhafter Murandianer mit einem zu Spitzen gewachsten Schnurrbart, der auf einem gescheckten Wallach ritt. Sein Mantel hätte jedem, der noch nie zuvor einen Asha'man gesehen hatte, seinen Status gezeigt; allerdings war sein einziger Ersatzmantel ebenfalls schwarz, und immerhin hatte er keine Anstecknadeln am Kragen, die ihn aus der Menge hervorhoben. Der Schnee war nicht tief, aber die zwanzig Männer von den Zwei Flüssen, die von Will al'Seen angeführt wurden, saßen ebenfalls auf ihren Pferden, statt darauf zu warten, dass ihre Füße in ihren Stiefeln froren. Sie sahen wie ein härterer Haufen aus als jener, der zusammen mit ihm die Zwei Flüsse verlassen hatte, mit auf den Rücken geschlungenen Langbogen und vollen Köchern und allen möglichen Schwertern an den Gürteln. Perrin hoffte, dass er sie bald nach Hause schicken konnte, oder noch besser, sie nach Hause mitnehmen konnte.
Die meisten balancierten Stangenwaffen über den Sätteln, aber Tod al'Caar und Flann Barstere trugen Banner, Perrins Roten Wolfskopf und den Roten Adler von Manetheren. Tods massiger Kiefer war stur nach vorn geschoben, und Flann, ein hoch gewachsener, dürrer Bursche oben aus Wachhügel, sah mürrisch aus. Vermutlich hatte er die Aufgabe nicht übernehmen wollen. Und Tod möglicherweise auch nicht. Will schenkte Perrin einen jener offenen, unschuldigen Blicke, die so viele Mädchen in der Heimat getäuscht hatten — Will mochte übertriebene Stikkereien auf seinem Mantel an Feiertagen, und er liebte es, vor diesen Bannern zu reiten, vermutlich in der Hoffnung, dass irgendwelche Frauen glaubten, es seien seine —, aber Perrin ließ es ihm durchgehen. Die anderen drei Leute auf der Lichtung hatte er jedoch genauso wenig erwartet wie die Banner.
Balwer hielt seinen Umhang fest um den Leib geschlungen, als wäre die sanfte Brise ein Sturmwind, und trieb seinen Rotschimmel ungeschickt an, um zu Perrin zu gelangen. Zwei von Failes Anhängern folgten ihm mit trotziger Miene. Medores blaue Augen wirkten seltsam in dem dunklen tairenischen Gesicht, andererseits sah ihr Mantel mit seinen aufgeplusterten grün gestreiften Ärmeln ebenfalls merkwürdig an ihrer vollbusigen Gestalt aus. Als Tochter eines Hochlords war sie jeden Zoll eine Adlige, und Männerkleidung stand ihr nicht. Latian, Cairhiener und blass in einem Mantel, der fast so dunkel wie Nealds war, wenn auch mit vier Schlitzen aus Rot und Blau quer über der Brust, war nicht viel größer als sie, und die Art und Weise, wie er erkältet schniefte und sich die spitze Nase rieb, ließ ihn noch weniger kompetent erscheinen. Sie trugen keine Schwerter, eine weitere Überraschung.
»Mein Lord, meine Lady die Erste«, sagte Balwer mit seiner trockenen Stimme und machte im Sattel eine Verbeugung, ein Spatz, der auf seinem Ast hüpfte. Sein Blick huschte zu den Aes Sedai hinter Perrin, aber das war das einzige Zeichen, dass er sich der Anwesenheit der Schwestern bewusst war. »Mein Lord, mir ist eingefallen, dass ich in So Habor einen Bekannten habe. Ein Klingenschmied, der mit seinen Waren reist, aber vielleicht ist er zu Hause, und ich habe ihn schon mehrere Jahre nicht mehr gesehen.« Das war das erste Mal, dass er je einen Freund erwähnte, und eine Stadt im Norden von Altara erschien ein seltsamer Ort dafür, aber Perrin nickte. Er vermutete, dass mehr hinter diesem Freund steckte, als Balwer verriet. In ihm wuchs der Verdacht, dass mehr an Balwer war, als der Mann offenbarte.
»Und Eure Begleiter, Meister Balwer?« Berelains Gesicht in der pelzverbrämten Kapuze regte sich nicht, aber sie roch amüsiert. Sie wusste nur zu gut, dass Faile ihre jungen Anhänger als Spione benutzte, und war davon überzeugt, dass Perrin es ebenfalls tat.
»Sie wollen einen Ausflug unternehmen, meine Lady die Erste«, erwiderte der knochige kleine Mann ausdruckslos.
»Ich bürge für sie, mein Lord. Sie haben versprochen, keinen Ärger zu machen, und vielleicht lernen sie was.« Auch er roch amüsiert — da der Geruch von ihm kam, war er natürlich trocken —, wenn auch mit einem Anflug von Gereiztheit. Balwer wusste, dass sie Bescheid wusste, was ihn nicht erfreute, aber sie erwähnte es nie offen, was er wiederum tat. Es steckte definitiv mehr hinter Balwer, als er offenbarte.
Der Mann musste seine Gründe gehabt haben, sie mitzunehmen. Er hatte es geschafft, auf die eine oder andere Weise an alle von Failes jungen Anhängern heranzukommen und hatte sie unter den Ghealdanern und den Mayenern und sogar den Aiel Informationen sammeln lassen. Ihm zufolge konnte es genauso interessant sein, was Freunde sagten und taten, wie das, was Feinde planten, und das selbst, wenn man sicher war, dass es Freunde waren. Natürlich wusste Berelain, dass man ihre Leute überwachte. Und Balwer wusste, dass sie es wusste. Und sie wusste, dass er... Das war alles zu abgehoben für einen Schmied vom Lande.
»Wir verschwenden Zeit«, sagte Perrin. »Neald, öffnet das Wegetor.«
Der Asha'man grinste ihn an und strich sich über den gewachsten Schnurrbart — Neald grinste zu viel, seit die Shaidos gefunden worden waren; vielleicht war er zu begierig, mit ihnen abzurechnen —, er grinste und machte eine ausladende Geste mit der Hand. »Wie Ihr befehlt«, sagte er fröhlich, und der vertraute silbrige Lichtbalken erschien und verbreiterte sich zu einer Öffnung in der Luft.
Ohne auf jemanden anderen zu warten, ritt Perrin hindurch auf ein schneebedecktes Feld, das von einer niedrigen Steinmauer umgeben wurde; es war ein hügeliges Land, das verglichen mit dem Wald, den er gerade verlassen hatte, nahezu baumlos erschien, nur wenige Meilen von So Habor entfernt, falls Neald keinen gravierenden Fehler gemacht hatte. Falls doch, würde Perrin ihm den albernen Schnurrbart aus dem Gesicht reißen. Wie konnte der Kerl nur fröhlich sein?
Doch bald ritt er unter einem grauen, bewölkten Himmel auf einer verschneiten Straße nach Westen, die hochrädrigen Karren rollten in einer Reihe hinter ihm her, und die frühmorgendlichen Schatten erstreckten sich voraus. Steher riss an den Zügeln, da er laufen wollte, aber Perrin ließ ihn gehen, und zwar nicht schneller als die Zugtiere. Gallennes Mayener mussten über die Felder am Straßenrand reiten, um den Ring um Berelain und ihn aufrechterhalten zu können, und das bedeutete, sie mussten an den niedrigen Steinmauern vorbei, die die Felder voneinander abtrennten. Manche hatten Tore, die von dem Besitz eines Bauern zum nächsten führten, vermutlich damit man sich Pfluggespanne teilen konnte, und über andere sprangen sie mit flatternden Wimpeln an ihren Lanzen hinüber und riskierten die Beine ihrer Tiere und die eigenen Hälse. Ehrlich gesagt sorgte sich Perrin weniger wegen ihren Hälsen.
Will und die beiden Narren, die den Wolfskopf und den Roten Adler trugen, gesellten sich zu dem Bannermann der Mayener hinter den Aes Sedai und den Behütern, aber die anderen Männer von den Zwei Flüssen verteilten sich, um die Wagenreihe zu flankieren. Es waren viel zu viele Karren, um sie von zwanzig Mann schützen zu lassen, aber die Kutscher würden sich sicherer fühlen, wenn sie sie sahen. Nicht, dass jemand mit Straßenräubern rechnete oder Shaido, was das anging, aber niemand fühlte sich außerhalb des Lagers wohl. Auf jeden Fall würden sie hier jede Bedrohung sehen können, bevor sie sie erreichte.
Das Land mit den sanften Hügeln gestattete eigentlich keine weite Sicht, aber es war Bauernland, mit soliden, strohgedeckten Steinhäusern und auf den Feldern verstreuten Scheunen, und nirgendwo gab es so etwas wie Wildnis. Selbst die kleinsten Dickichte, die sich an die Hänge schmiegten, wurden zur Gewinnung von Brennholz genutzt. Aber plötzlich fiel Perrin auf, dass der Schnee auf der Straße vor ihm nicht frisch war, doch die einzigen Spuren von Gallennes Vorhut stammten. In den dunklen Häusern und Scheunen regte sich nichts, aus den dicken Schornsteinen stieg kein Rauch auf. Das Land schien vollkommen still und absolut verlassen zu sein. Seine Nackenhaare wollten sich aufstellen.
Ein Ausruf von einer der Aes Sedai ließ ihn über die Schulter sehen, und er folgte Masuris zeigendem Finger nach Norden zu einem Umriss, der durch die Luft flog. Auf den ersten Blick hätte man es für eine große Fledermaus halten können, die auf langen, gerippten Schwingen in östliche Richtung flog, eine seltsame Fledermaus mit langem Hals und einem langen, dünnen Schwanz. Gallenne bellte eine Verwünschung und drückte sein Fernrohr ans Auge. Perrin konnte auch ohne Hilfsmittel gut genug sehen und sogar die Gestalt eines menschlichen Wesens ausmachen, die sich auf dem Rücken der Kreatur festklammerte und auf ihr ritt wie auf einem Pferd.
»Seanchaner«, hauchte Berelain, und sowohl ihre Stimme wie auch ihr Geruch waren besorgt.
Perrin drehte sich im Sattel um, um den Flug des Ungetüms zu verfolgen, bis das grelle Licht der aufgehenden Sonne ihn dazu zwang, sich abzuwenden. »Das hat nichts mit uns zu tun«, sagte er. Wenn Neald einen Fehler gemacht hatte, würde er ihn erdrosseln.