19 Überraschungen

Nach altem Brauch wurde die Amyrlin von einer Sitzung des Saals informiert, aber nichts besagte, dass man auf sie warten musste, bevor man anfing, was bedeutete, dass möglicherweise nur wenig Zeit blieb. Egwene wollte auf die Füße springen und geradewegs zu dem großen Pavillon marschieren, bevor Moria und die anderen beiden die Überraschungen präsentieren konnten, die sie auch immer hatten. Überraschungen im Saal waren selten gut. Überraschungen, von denen man zu spät erfuhr, waren noch schlimmer. Aber bevor die Amyrlin den Saal betreten konnte, mussten Gesetze eingehalten werden, keine Verhaltensregeln, also blieb sie, wo sie war, und schickte Siuan los, um Sheriam zu holen, damit die Behüterin der Chroniken sie so ankündigen konnte, wie es vorgeschrieben war. Siuan hatte ihr erzählt, dass es eigentlich nur darum ging, die Sitzenden vor ihrer Ankunft zu warnen — es gab immer Angelegenheiten, die sie diskutieren wollten, ohne dass die Amyrlin davon erfuhr —, und sie hatte sich dabei nicht unbedingt angehört, als würde sie es als Scherz meinen.

Aber wie es sich damit auch in Wirklichkeit verhielt, es war sinnlos, zum Saal zu gehen, wenn sie nicht eintreten konnte. Sie bezähmte ihre Ungeduld, stützte den Kopf auf die Hände und massierte die Schläfen, während sie versuchte, noch einige Berichte der Ajah zu lesen. Trotz des ekelhaften Tees oder vielleicht sogar deswegen ließen ihre Kopfschmerzen die Worte auf der Seite jedes Mal verschwimmen, wenn sie blinzelte, und Anaiya und die beiden anderen waren nicht hilfreich.

Siuan war gerade gegangen, als Anaiya den Umhang zurückschlug und sich auf den gleichen Hocker setzte — unter ihr schien er nicht zu wackeln, ob seine Beine nun unterschiedlich lang waren oder nicht —, und fing an, darüber zu spekulieren, was Moria und die anderen im Schilde führten. Sie war keine phantasievolle Frau, also fielen ihre Spekulationen unter diesen Umständen ziemlich zurückhaltend aus. Zurückhaltend, aber keineswegs weniger beunruhigend.

»Leute mit Angst tun törichte Dinge, Mutter, selbst Aes Sedai«, murmelte sie und legte die Hände auf die Knie, »aber wenigstens könnt Ihr sicher sein, dass Moria bei Elaida fest bleibt, zumindest auf lange Sicht gesehen. Sie macht Elaida für jede Schwester verantwortlich, die gestorben ist, nachdem Siuan gestürzt wurde. Moria will, dass Elaida für jede Tote die Prügelstrafe erhält, bevor man sie dem Henker übergibt. Eine harte Frau, in gewisser Hinsicht härter als Lelaine. Sie schreckt nicht vor Dingen zurück, bei denen Lelaine sich vielleicht weigern würde. Ich befürchte, sie wird darauf drängen, dass die Stadt angegriffen wird, und zwar so bald wie möglich. Wenn die Verlorenen so offen handeln, in so großem Maßstab, dann besser eine angeschlagene Burg als eine gespaltene Burg. Zumindest fürchte ich, dass Moria die Dinge so sieht. So sehr wir auch vermeiden wollen, dass Schwestern einander töten, wäre es nicht das erste Mal. Die Burg hat eine lange Zeit überdauert und ist von vielen Verletzungen genesen. Sie wird auch diesmal genesen.«

Anaiyas Stimme passte zu ihrem Gesicht, es war warm und geduldig und beruhigend, aber diese Bemerkung war wie Fingernägel, die über eine Schiefertafel kratzten. Beim Licht, bei all dem, was Anaiya da von Moria befürchtete, schien sie doch bei vielem derselben Meinung zu sein. Sie war bedächtig und ging nie sorglos mit Worten um. Wenn sie einen Sturmangriff befürwortete, wie viele von den anderen taten es dann auch?

Myrelle war wie gewöhnlich alles andere als beherrscht. Temperamentvoll und wild, das beschrieb sie am besten.

Sie wusste nicht, was Geduld war, und wenn sie davon in die Nase gebissen worden wäre. Sie ging auf und ab, soweit das in dem Zelt möglich war, und trat ihre dunkelgrünen Röcke und manchmal eines der hellen Kissen, die an der Wand aufgestapelt waren, bevor sie umdrehte, um die nächste Runde in Angriff zu nehmen. »Wenn Moria solche Angst hat, dass sie auf einen Sturmangriff drängt, dann hat sie vor Angst den Verstand verloren. Eine Burg, die zu geschädigt ist, um allein zu stehen, wird weder den Verlorenen noch allen anderen standhalten können. Malind ist diejenige, die Euch Sorgen machen sollte. Sie weist ständig darauf hin, dass Tarmon Gai'don jeden Tag eintreten könnte. Ich habe sie sagen hören, dass das, was wir gefühlt haben, die ersten Schläge der Letzten Schlacht sein könnten. Und dass es als Nächstes hier geschehen könnte. Welch besseres Ziel gibt es denn für den Schatten als Tar Valon? Malind hat sich noch nie davor gefürchtet, schwere Entscheidungen zu treffen oder den Rückzug anzutreten, falls sie es für nötig hielt. Sie würde Tar Valon und die Burg auf der Stelle im Stich lassen, wenn sie der Überzeugung wäre, dass dadurch wenigstens einige von uns für Tarmon Gai'don überleben. Sie wird vorschlagen, die Belagerung abzubrechen und irgendwohin zu fliehen, wo uns die Verlorenen nicht finden werden, bis wir zum Gegenschlag bereit sind. Wenn sie den Saal auf die richtige Weise damit konfrontiert, erhält sie möglicherweise sogar allgemeine Unterstützung.« Allein der Gedanke verschlug Egwene den Atem.

Morvrin, deren rundes Gesicht unbeugsam war, stemmte die Fäuste in die ausladenden Hüften und begegnete jeder Meinung mit einer knappen Antwort. »Wir wissen noch nicht genug, um sicher zu sein, dass es die Verlorenen waren« und »Das könnt Ihr nicht wissen, bevor sie es gesagt hat« und »Vielleicht war es das, vielleicht auch nicht« und »Vermutungen sind keine Beweise«. Es hieß, sie würde nicht glauben, dass es Morgen war, bevor sie die Sonne selbst gesehen hatte. Ihre energische Stimme ließ keinen Unsinn zu, vor allem keine voreiligen Schlüsse. Und sie war auch nichts für einen schmerzenden Kopf. Dabei widersprach sie den Meinungen nicht, sondern blieb offen für alles. Ein Verstand, der für alles offen blieb, konnte sich in jede Richtung bewegen, wenn es zur Entscheidung kam.

Egwene schlug die Ledermappe mit den Berichten mit einem lauten Knall zu. Mit dem widerlichen Geschmack auf ihrer Zunge und dem stechenden Pochen in ihrem Kopf — ganz zu schweigen von den unaufhörlich plappernden Stimmen! — konnte sie sich sowieso nicht mehr auf die Worte konzentrieren. Die drei Schwestern sahen sie überrascht an. Sie hatte allen vor langer Zeit deutlich gemacht, dass sie hier das Sagen hatte, aber sie versuchte nie, Temperament zu zeigen. Treueide oder nicht, eine junge Frau, die ihr Temperament zeigte, konnte zu schnell als launisch abgetan werden. Was sie noch wütender machte, was wiederum ihren Kopf noch mehr schmerzen ließ, was...

»Ich habe lange genug gewartet«, sagte sie und gab sich Mühe, ausgeglichen zu klingen. Ihr schmerzender Kopf verlieh ihrer Stimme ohnehin eine leichte Schärfe. Vielleicht glaubte Sheriam, dass sie sie am Saal treffen sollte.

Sie nahm ihren Umhang und ging hinaus in die Kälte, noch während sie ihn sich über die Schultern schwang, und Morvrin und die anderen beiden zögerten nur einen Augenblick, bevor sie ihr folgten. Wenn sie sie zum Saal begleiteten, mochte der Eindruck entstehen, sie seien ihr Gefolge, aber sie sollten sie ja im Auge behalten, und Egwene vermutete, dass selbst Morvrin begierig darauf war, Akarrins Bericht zu hören und was Moria und der Rest daraus machen wollte.

Egwene hoffte, dass es nicht zu schwierig sein würde, damit umzugehen, dass es nichts von dem war, was Anaiya und Myrelle glaubten. Gegebenenfalls konnte sie versuchen, das Kriegsrecht anzuwenden, aber selbst wenn das funktionierte, hatte es doch seine Nachteile, nur mit Verordnungen zu herrschen. Wenn Leute einem in einer Sache gehorchen mussten, fanden sie immer Möglichkeiten, sich aus anderen herauszuwinden, und je stärker sie zum Gehorsam gezwungen waren, desto mehr Möglichkeiten fanden sie, um sich herauszuwinden. Es war ein natürliches Gleichgewicht, dem man nicht entkommen konnte. Und schlimmer noch, sie hatte gelernt, wie sehr man sich daran gewöhnte, wenn die Leute auf ein Wort hin sprangen. Irgendwann hielt man es für die natürliche Ordnung der Dinge, und wenn sie dann nicht sprangen, erwischten sie einen auf dem falschen Fuß. Davon abgesehen war sie mit ihren pochenden Kopfschmerzen — jetzt war es ein Pochen! — ohnehin bereit, jeden anzufauchen, der sie auch nur schief ansah, und selbst wenn Leute etwas schlucken mussten, was sie nicht wollten, war so etwas doch niemals gut.

Die Sonne stand genau über ihnen am Himmel, eine goldene Kugel an einem blauen Himmel mit vereinzelten weißen Wolken, aber sie verbreitete keine Wärme, sondern bloß fahle Schatten, und ließ den Schnee glitzern, der nicht zertrampelt war. Die Luft fühlte sich genauso kalt an wie am Fluss. Egwene ignorierte die Kälte, weigerte sich, sich von ihr berühren zu lassen, aber nur die Toten hätten sie nicht bemerken können, wo doch vor jedermanns Gesicht der Atem zu weißem Nebel wurde. Es war Zeit zum Mittagessen, aber es war unmöglich, so viele Novizinnen gleichzeitig essen zu lassen, darum gingen Egwene und ihre Begleiterinnen durch einen Strom weiß gekleideter Frauen, die ihnen aus dem Weg sprangen und auf der Straße ihre Knickse machten. Sie schlug ein derartiges Tempo an, dass sie gewöhnlich längst weiter waren, bevor die Gruppen von Novizinnen mehr tun konnten, als die Röcke anzuheben.

Es war kein langer Weg, es gab nur vier Stellen, an denen sie schlammige Straßen überqueren mussten. Es war davon die Rede gewesen, Holzbrücken zu errichten, die hoch genug waren, um darunter hindurchreiten zu können, aber Brücken hätten dem Lager eine Dauerhaftigkeit verliehen, die niemand wollte. Selbst die Schwestern, die davon gesprochen hatten, drängten nie darauf, sie errichten zu lassen. Also musste man langsam durch den Schlamm waten und darauf achten, Röcke und Umhang hoch genug zu halten, wenn man nicht bis zu den Knien verdreckt eintreffen wollte. Wenigstens verschwanden die Menschenmengen, als sie sich dem Saal näherten. Er stand immer allein da — oder zumindest so gut wie allein.

Nisao und Carlinya warteten bereits vor dem großen Segeltuchpavillon mit seinen geflickten Wänden, die winzige Gelbe nagte auf ihrer Unterlippe herum und betrachtete Egwene nervös. Carlinya war die personifizierte Ruhe, mit in Hüfthöhe gefalteten Händen. Aber sie hatte ihren Umhang vergessen, der bestickte Saum ihres hellen Rocks war schlammverschmiert, und ihre dunklen Locken brauchten dringend eine Bürste. Sie machten ihre Ehrenbezeugungen und gesellten sich ein Stück hinter Egwene zu Anaiya und den anderen beiden. Sie unterhielten sich leise, und die Bruchstücke, die Egwene aufschnappte, klangen harmlos, es ging um das Wetter oder wie lange sie wohl warten mussten. Hier war nicht der richtige Ort, an dem sie in zu großer Vertrautheit mit ihr gesehen werden wollten.

Beonin kam den Gehweg entlanggelaufen, ihr keuchender Atem produzierte weiße Wolken; sie kam rutschend zum Halt und starrte Egwene an, bevor sie sich zu den anderen gesellte. Die Anspannung um ihre blaugrauen Augen war noch deutlicher zu sehen als zuvor. Vielleicht befürchtete sie, dies würde einen Einfluss auf ihre Verhandlungen haben. Aber sie wusste doch, dass die Gespräche nur eine Täuschung sein würden, nur ein Vorwand, um Zeit zu gewinnen. Egwene kontrollierte ihren Atem und machte Novizinnenübungen. Aber nichts davon vertrieb ihre Kopfschmerzen. Das tat es nie.

Sheriam war nirgendwo zwischen den Zelten zu entdekken, aber Egwene befand sich gerade allein auf dem Gehweg vor dem Pavillon. An der einen Seite des Eingangs warteten Akarrin und die fünf Schwestern, die sie begleitet hatten — eine aus jeder Ajah — in einer dicht zusammenstehenden Gruppe. Die meisten begrüßten Egwene mit einem Knicks, hielten aber Distanz. Vielleicht hatte man sie gewarnt, zu niemandem ein Wort zu sagen, bevor sie vor dem Saal sprachen. Natürlich hätte Egwene verlangen können, dass sie auf der Stelle Bericht erstatteten. Sie hätten es auch getan; sie war die Amyrlin. Vermutlich hätten sie es getan. Andererseits war die Beziehung der Amyrlin zu den Ajahs immer heikel, oftmals schloss das auch die Ajah ein, aus der sie erhoben worden war. Fast so heikel wie die Beziehungen zum Saal. Egwene zwang sich zu einem Lächeln und neigte anmutig den Kopf. Wenn sie hinter diesem Lächeln mit den Zähnen knirschte, nun, das half dabei, den Mund geschlossen zu halten.

Nicht alle Schwestern schienen sich ihrer Anwesenheit bewusst zu sein. Akarrin, eine schlanke Frau in einfacher brauner Wolle und einem Umhang mit überraschend aufwändigen grünen Stickereien, starrte ins Leere und nickte gelegentlich in Gedanken. Anscheinend übte sie, was sie drinnen sagen würde. Akarrin war nicht stark in der Macht, kaum besser als Siuan, wenn überhaupt, aber nur eine andere der Sechs, Therva, eine dünne Frau in einem mit gelben Schlitzen versehenen Reitgewand und einem mit Gelb abgesetzten Umhang, konnte mit einem vergleichbaren Rang aufwarten. Das war ein beunruhigendes Anzeichen, wie sehr dieses seltsame Fanal aus Saidar die Schwestern in Angst und Schrecken versetzt hatte. Die stärkste unter ihnen hätte vortreten und die Aufgabe erledigen sollen, die man diesen Frauen übertragen hatte, aber mit Ausnahme von Akarrin hatte es deutlich an Eifer gefehlt. Ihre Gefährtinnen erschienen noch immer nicht besonders enthusiastisch. Shana bewahrte trotz Augen, die sie ständig überrascht aussehen ließen, immer eine ausgeprägte Zurückhaltung, aber jetzt schien sie vor Sorge nicht zu wissen, was sie machen sollte. Sie betrachtete den Eingang zum Saal, der von schweren Planen verschlossen wurde, und ihre Hände fummelten unablässig an ihrem Umhang herum, als könnte sie sie nicht stillhalten. Reiko, eine stämmige Blaue aus Arafel, hielt den Blick gesenkt, aber die silbernen Glöckchen in ihrem langen schwarzen Haar klirrten leise, als würde sie unter der Kapuze den Kopf schütteln. Allein Thervas Gesicht mit der langen Nase trug einen Ausdruck absoluter Erhabenheit, unerschütterlich und völlig gelassen, aber auch das war für sich genommen ein schlechtes Zeichen. Die Gelbe Schwester war von Natur aus schnell erregbar. Was hatten sie gesehen? Was hatten Moria und die beiden anderen Sitzenden vor?

Egwene zügelte ihre Ungeduld; offensichtlich war der Saal noch nicht zur Sitzung zusammengetreten. Mehrere Sitzende gingen an ihr vorbei und betraten den Pavillon, und keine hatte es eilig. Salita zögerte, als wollte sie etwas sagen, aber dann machte sie nur einen Knicks und rauschte hinein. Kwamesa sah Egwene hochnäsig an, während sie ihren Knicks machte, und musterte kurz Anaiya und die anderen von oben herab, aber die schlanke Graue schaute jeden von oben herab an. Sie war nicht groß, versuchte aber den Anschein zu erwecken. Berana, deren Gesicht eine Maske der Hochmut und deren große braune Augen so kalt wie der Schnee waren, blieb stehen, um Egwene eine kühle Ehrenbezeugung zu entrichten und Akarrin stirnrunzelnd anzusehen. Nach einem langen Augenblick, in dem sie vielleicht erkannte, dass Akarrin sie nicht einmal wahrnahm, glättete sie die mit silbernen Stickereien versehenen weißen Röcke, was völlig unnötig war, richtete die Stola auf ihren Armen, sodass die weißen Fransen richtig hingen, und glitt durch die Eingangsplane, als wäre sie niemals stehen geblieben. Alle drei gehörten zu den Sitzenden, die Siuan als zu jung bezeichnet hatte. So wie Malind und Escaralde auch. Aber Moria war seit hundertdreißig Jahren Aes Sedai. Beim Licht, Siuan ließ sie schon hinter allem eine Verschwörung wittern!

Gerade als Egwene glaubte, ihr Kopf würde gleich vor Frustration oder aufgrund ihrer Kopfschmerzen platzen, erschien plötzlich Sheriam; sie rannte beinahe mit gerafften Röcken und Umhang durch den Straßenmatsch. »Es tut mir schrecklich Leid, Mutter«, sagte sie atemlos und griff hastig nach der Macht, um die Schlammspritzer zu beseitigen, die sie sich eingefangen hatte. »Ich... ich habe gehört, dass der Saal eine Sitzung hat, und ich wusste, dass Ihr nach mir suchen lassen werdet, also kam ich so schnell, wie ich konnte. Es tut mir sehr Leid.« Also suchte Siuan noch immer nach ihr.

»Jetzt seid Ihr ja hier«, sagte Egwene fest. Die Frau musste wirklich aufgeregt sein, um sich vor den anderen zu entschuldigen, was mehr für Akarrin und ihre Gefährtinnen galt als für Anaiya und den Rest. Selbst wenn es die Leute besser wussten, neigten sie dazu, einen so zu nehmen, wie man zu sein schien, und man sollte die Behüterin nicht sehen, wie sie sich entschuldigte und die Hände rang. Sicherlich wusste sie das. »Geht und kündigt mich an.«

Sheriam holte tief Luft, schlug die Kapuze zurück, richtete die schmale blaue Stola und trat durch die Eingangsplanen. Ihre Stimme erscholl laut und deutlich, als sie die rituellen Worte sprach. »Sie kommt, sie kommt...«

Egwene wartete kaum ab, dass sie mit »... die Flamme von Tar Valon, der Amyrlin-Sitz« endete, bevor sie durch den Kreis aus Kohlenpfannen und Kandelabern schritt, der die Pavillonwände umgab. Die Kandelaber verbreiteten helles Licht, und die Kohlenpfannen, die Lavendelgeruch verbreiteten, wärmten den ganzen Raum. Niemand wollte die Kälte ignorieren müssen, wenn man richtige Wärme fühlen konnte.

Die Einrichtung des Pavillons folgte uralten Regeln, die nur leicht modifiziert waren, um der Tatsache zu genügen, dass sie nicht in der Weißen Burg zusammentrafen, in dem großen runden Gemach, das der Saal der Burg genannt wurde. Am anderen Ende stand eine einfache, wenn auch auf Hochglanz polierte Bank auf einer kastenähnlichen, mit einem in den sieben Farben der Ajahs gestreiften Tuch bedeckten Plattform. Zusammen mit der Stola um Egwenes Hals waren das sicherlich die einzigen Stellen im Lager, wo die Rote Ajah repräsentiert war. Einige Blaue hatten verlangt, die Farbe zu entfernen, da Elaida anscheinend den Thron, den man den Amyrlin-Sitz nannte, hatte neu lackieren und eine Stola ohne das Blau weben lassen, aber Egwene hatte sich dagegen verwahrt. Wenn sie alle Ajahs repräsentierte und keine, dann würde sie auch von allen Ajahs sein. Auf den hellen Teppichen am Boden führten zwei Reihen von Bänken in Gruppen von jeweils drei schräg vom Eingang fort; sie standen auf Kästen, die mit Tüchern in den Farben der Ajahs verhüllt waren. Nun ja, von sechs Ajahs. Der Tradition nach konnten die beiden ältesten Sitzenden für ihre Ajahs die Plätze beanspruchen, die dem Amyrlin-Sitz am nächsten waren, also nahmen hier Gelb und Blau diese Plätze ein. Danach kam es nur darauf an, wer zuerst kam und wo sitzen wollte, die Ersten wählten immer die Plätze ihrer Ajahs aus.

Es waren nur neun Sitzende anwesend, zu wenig, damit der Saal sich zusammensetzen konnte, zumindest formell gesehen, aber Egwene fiel sofort eine Merkwürdigkeit an der Sitzordnung auf. Romanda war bereits da, was nicht überraschte, zwischen ihr und Salita waren noch Plätze frei, und Lelaine und Moria besetzten die äußersten Plätze auf der Bank der Blauen. Romanda trug ihr Haar in einem festen grauen Knoten im Nacken; sie war die älteste Sitzende und fast immer die Erste, die Platz nahm, wenn sich der Saal zusammensetzte. Lelaine, die trotz ihres glänzenden schwarzen Haars fast genauso alt war, schien unfähig zu sein, der anderen Frau selbst in einer so nebensächlichen Sache einen Vorsprung zu lassen. Die Männer, die die Kästen aufgebaut hatten — sie standen an den Wänden, bis der Saal zur Sitzung gerufen wurde — mussten gerade hinausgegangen sein, denn Kwamesa saß bereits; sie war die einzige Graue Sitzende, und Berana, die soeben zu ihrer Bank hochstieg, die einzige Weiße. Doch Malind, eine Kandori mit Adleraugen und einem runden Gesicht und die einzige Grüne, war offensichtlich vor ihnen eingetreten, aber seltsamerweise hatte sie sich entschieden, die Grünen neben den Eingang des Pavillons zu setzen. Eigentlich lautete das Motto, je näher am Amyrlin-Sitz, umso besser. Und ihr direkt gegenüber stand Escaralde vor den mit Braun verkleideten Kästen und debattierte leise mit Takima. Diese war fast genauso klein wie Nisao, eine stille Frau, die an einen Vogel erinnerte, aber sie konnte energisch sein, wenn sie es wollte, und mit den in die Hüften gestemmten Fäusten sah sie wie ein wütender Spatz aus, dessen gesträubte Federn sie größer erscheinen ließen. Der Art und Weise nach zu urteilen, wie sie Berana immer wieder scharfe Blicke zuwarf, regte sie sich über die Sitzordnung auf. Natürlich war es zu spät, etwas daran zu ändern, aber Escaralde überragte Takima, als erwartete sie, für ihre Wahl kämpfen zu müssen. Es erstaunte Egwene, dass Escaralde das tun konnte. Sie zu überragen. Sie war sogar noch kleiner als Nisao. Es musste reine Willenskraft sein. Escaralde gab niemals nach, wenn sie glaubte, im Recht zu sein. Und sie glaubte immer, im Recht zu sein. Wenn Moria wirklich den sofortigen Angriff auf Tar Valon und Malind den Rückzug wollte, was wollte dann Escaralde?

Trotz Siuans Gerede, dass die Sitzenden vorgewarnt werden wollten, machte Egwenes Eintritt keinen großen Eindruck. Aus welchen Gründen Malind und die anderen auch immer den Saal zusammengerufen hatten, um Akarrins Bericht zu hören, sie hielten die Angelegenheit keineswegs für so brisant, dass sie allein für die Ohren der Sitzenden bestimmt sein sollte; hinter den Bänken der Sitzenden ihrer Ajah standen kleine Gruppen von Aes Sedai, und sie machten ihre Knickse, als Egwene über die Teppiche auf ihren Sitz zuging. Die Sitzenden selbst sahen sie bloß an oder neigten kurz den Kopf. Lelaine schaute sie kühl an und richtete die Aufmerksamkeit dann stirnrunzelnd auf Moria, eine ziemlich gewöhnlich aussehende Frau in einem blauen Wollgewand. Sie sah sogar so gewöhnlich aus, dass man die Alterslosigkeit ihres Gesichts auf den ersten Blick fast übersehen konnte. Sie starrte geradeaus, in die eigenen Gedanken versunken. Romanda gehörte zu denjenigen, die den Kopf ein wenig neigten. Im Saal war der Amyrlin-Sitz noch immer der Amyrlin-Sitz, aber etwas weniger als außerhalb. Nun, vielleicht etwas mehr als das, aber nicht viel. Siuan hatte gesagt, dass genauso viele Amyrlin gescheitert waren, die glaubten, die Sitzenden wären ihnen gleichgestellt, wie jene, die den Unterschied für größer hielten, als er tatsächlich war. Es war, als würde man auf einer schmalen Mauer laufen, während zu beiden Seiten wilde Hunde lauerten. Man behielt vorsichtig sein Gleichgewicht bei und versuchte, den Blick mehr auf die Füße als auf die Hunde gerichtet zu halten. Aber man war sich der Hunde immer bewusst.

Egwene nahm den Umhang ab, als sie auf den gestreiften Kasten stieg, faltete ihn zusammen und legte ihn auf den Sitz, bevor sie Platz nahm. Die Bänke waren hart, und einige Sitzende brachten Kissen mit, wenn sie eine lange Sitzung erwarteten. Egwene zog es vor, das nicht zu tun. Die eingeschränkte Sprechzeit hielt mindestens ein oder zwei Frauen nie davon ab, ihre Kommentare in die Länge zu ziehen, und ein harter Sitz konnte helfen, dass man während des Schlimmsten wach blieb. Sheriam nahm die Position der Behüterin zu Egwenes Linken ein, und nun konnten sie nichts anderes tun als zu warten. Vielleicht hätte sie doch ein Kissen mitbringen sollen.

Die anderen Bänke füllten sich, aber sie taten es langsam. Aledrin und Saroiya hatten sich zu Berana gesellt; Aledrin war dick genug, um die anderen beiden schlank erscheinen zu lassen. Natürlich hatten die lotrechten Streifen aus weißen Schnörkeln auf Saroiyas Röcken ohnehin diese Wirkung, während Aledrins weite weiße Ärmel und der schneeweiße Streifen auf der Vorderseite ihres Kleids genau den gegenteiligen Effekt hatten. Der Art und Weise nach zu urteilen, wie sie die Köpfe einander zuwandten und den Blauen, Braunen und Grünen Blicke zuwarfen, versuchte jede von ihnen offensichtlich herauszufinden, ob die andere wusste, worum es hier ging. Varilin, eine rothaarige Frau, die wie ein Storchenweibchen aussah und größer als die meisten Männer war, hatte sich neben Kwamesa gesetzt. Sie richtete unablässig ihre Stola und ließ die Blicke von Moria zu Escaralde zu Malind und wieder zurück huschen. Magla, die ihre mit gelben Fransen versehene Stola fest um die breiten Schultern gewickelt hatte, und Faiselle, eine Domani mit kantigem Gesicht, die mit grüner Stickerei übersäte Seide trug, betraten gerade den Pavillon und ignorierten einander selbst dann, wenn sich ihre Röcke berührten. Magla stand fest in Romandas Lager und Faiselle in Lelaines, und die beiden Gruppen redeten nicht miteinander. Andere Schwestern kamen nacheinander oder grüppchenweise herein, Nisao und Myrelle gehörten zu dem halben Dutzend, die hinter Magla und Faiselle hereinschlüpften. Morvrin war bereits unter den Braunen hinter Takima und Escaralde, und Beonin stand am Rand der Grauen hinter Varilin und Kwamesa. Wenn es so weiterging, würde sich bald die Hälfte der im Lager befindlichen Aes Sedai in dem Pavillon drängen.

Während Magla noch zu den Sitzen der Gelben ging, erhob sich Romanda. »Wir sind jetzt mehr als elf, also können wir anfangen.« Ihre Stimme war überraschend hoch. Man hätte sich vorstellen können, dass sie eine wunderschöne Singstimme hatte, wenn man sich Romanda singend hätte vorstellen können. Ihr Gesicht schien jederzeit zu einem finsteren Ausdruck bereit, zumindest war es immer leicht missbilligend. »Ich glaube nicht, dass dies eine formelle Sitzung werden muss«, fügte sie hinzu, als Kwamesa aufstand. »Ich weiß eigentlich nicht, warum das überhaupt eine Sitzung sein muss, aber wenn es denn so sein soll, lasst es uns hinter uns bringen. Einige von uns haben wichtigere Dinge zu erledigen. So wie Ihr sicher auch, Mutter.«

Letzteres sagte sie mit einem tiefen Neigen des Kopfes, mit einem Tonfall, der vielleicht eine Spur zu respektvoll war. Natürlich nicht zu weit über der Grenze, um sarkastisch zu klingen. Sie war zu klug, um sich in Schwierigkeiten zu bringen; dumme Leute erlangten nur selten den Stuhl einer Sitzenden oder behielten ihn lange, und Romanda hatte fast achtzig Jahre lang einen Sitz im Saal innegehabt. Das war ihre zweite Amtszeit als Sitzende. Egwene neigte den Kopf leicht und blickte kühl. Eine Bestätigung, dass sie angesprochen worden war und den Tonfall bemerkt hatte. Ein sehr sorgfältiges Gleichgewicht.

Kwamesa stand da und sah sich mit offenem Mund um, unsicher, ob sie die zeremoniellen Formeln sagen sollte, die immer von der jüngsten anwesenden Sitzenden aufgesagt wurden und eine formelle Sitzung des Saals eröffneten. Romandas Stellung verschaffte ihr gehörigen Einfluss und eine gewisse Autorität, aber andere konnten sie darin überstimmen. Eine gewisse Anzahl von Sitzenden runzelten die Stirn oder rutschten auf ihren Bänken herum, aber keine sprach.

Lyrelle glitt in den Pavillon und auf die Bänke der Blauen zu. Groß für eine Cairhienerin, was sie fast an allen anderen Orten zu einer Frau von durchschnittlicher Größe machte, bot sie in ihrer blaugeschlitzten Seide und dem mit roten und goldenen Stickereien verzierten Oberteil einen eleganten Anblick; ihre Bewegungen waren anmutig. Manche behaupteten, sie sei Tänzerin gewesen, bevor sie als Novizin in der Burg aufgenommen worden war. Im Vergleich zu ihr schien Samalin, die fuchsgesichtige Grüne, die ihr auf den Fersen folgte, wie ein Mann auszuschreiten, dabei war an der Murandianerin nichts Unbeholfenes. Beide schienen sie überrascht zu sein, Kwamesa stehend vorzufinden, und eilten zu ihren Bänken. Varilin fing an, an Kwamesas Ärmel zu zupfen, bis die Frau aus Arafel sich schließlich wieder setzte. Kwamesas Gesicht war eine Maske kühler Ruhe, aber sie schaffte es, Missfallen auszustrahlen. Sie legte großen Wert aufs Zeremoniell.

»Vielleicht gibt es ja doch einen Grund für eine formelle Sitzung.« Nach Romanda erschien Lelaines Stimme leise. Sie richtete ihre Stola, als hätte sie alle Zeit der Welt, erhob sich anmutig und sah absichtlich nicht in Egwenes Richtung. Lelaine war als wunderschöne Frau die personifizierte Erhabenheit. »Angeblich sind Gespräche mit Elaida genehmigt worden«, sagte sie kühl. »Mir ist klar, dass wir unter dem Kriegsrecht nicht konsultiert werden müssen, aber ich finde auch, dass wir es in der Sitzung besprechen sollten, vor allem, da viele von uns der Möglichkeit entgegensehen, gedämpft zu werden, wenn Elaida an der Macht bleibt.«

Das Wort »Dämpfung« verbreitete nicht länger Furcht, wie es üblich gewesen war, bevor Siuan und Leane davon Geheilt worden waren, aber ein Murmeln ging durch die Aes Sedai, die sich hinter die Bänke drängten. Anscheinend hatte sich die Nachricht von den Verhandlungen doch nicht so schnell verbreitet, wie Egwene erwartet hatte. Sie vermochte nicht zu sagen, ob die Schwestern aufgeregt oder entsetzt waren, aber offensichtlich waren sie überrascht. Und das galt auch für einige der Sitzenden. Janya, die eingetreten war, während Lelaine sprach, blieb wie angewurzelt stehen, sodass eine Gruppe Schwestern, die den Saal betraten, beinahe in sie hineingelaufen wären. Sie starrte die Blaue an, dann Egwene, und zwar länger und intensiver. Nach der Art und Weise zu urteilen, wie Romanda die Lippen zusammenpresste, war sie ebenfalls überrascht, und die Mienen der zu jungen Sitzenden reichten von eiskalter Ruhe bei Berana über Erstaunen bei Samalin und offenem Entsetzen bei Salita. Was das anging, schwankte Sheriam kurz. Egwene hoffte, dass sich die Frau nicht vor dem ganzen Saal übergeben würde.

Aber viel bemerkenswerter waren die Reaktionen derjenigen, die Delanas Bericht zufolge von Verhandlungen gesprochen hatten. Varilin saß ganz still da und schien ein Lächeln zu unterdrücken, während sie ihre Röcke musterte, aber Magla befeuchtete sich zögernd die Lippen und warf Romanda verstohlene Seitenblicke zu. Saroiya hatte die Augen geschlossen, und ihre Lippen bewegten sich, als würde sie ein Gebet sprechen. Faiselle und Takima blickten Egwene mit einem kaum merklichen Stirnrunzeln an. Als sie sich dessen bewusst wurden, zuckten sie zusammen und setzten schnell eine so majestätische Gelassenheit auf, dass sie einander zu verspotten schienen. Es war alles sehr seltsam. Bestimmt hatte Beonin sie mittlerweile alle darüber informiert, was Egwene gesagt hatte, aber mit Ausnahme von Varilin schienen sie aus der Fassung gebracht zu sein. Sie konnten unmöglich geglaubt haben, dass die Verhandlungen zur Kapitulation führen sollten. Jede Frau, die in diesem Saal saß, riskierte allein schon durch ihre Anwesenheit Dämpfung und Hinrichtung. Falls es jemals außer Elaidas Sturz einen Weg zurück gegeben hätte, hatte sich der schon vor Monaten erledigt, als dieser Saal erwählt wurde. Davon gab es keinen Weg zurück.

Lelaine schien mit der Wirkung ihrer Worte zufrieden — sie war sogar so selbstzufrieden wie eine Katze in der Milchkammer —, aber bevor sie wieder Platz genommen hatte, sprang Moria auf die Füße. Das zog jeden Blick auf sich und rief weiteres Gemurmel hervor. Niemand hätte Moria als besonders anmutig bezeichnet, aber die Illianerin war keine Frau, die aufsprang. »Das muss besprochen werden«, sagte sie, »aber erst später. Dieser Saal ist von drei Sitzenden zusammengerufen worden, die dieselbe Frage gestellt haben. Diese Frage muss vor allem anderen angesprochen werden. Was haben Akarrin und ihre Gruppe herausgefunden? Ich verlange, dass man sie holt, damit sie vor dem Saal Bericht erstatten können.«

Lelaine sah ihre Mit-Blaue böse an, und das konnte sie großartig, ihre Blicke waren so scharf wie Ahlen, aber zumindest in dieser Hinsicht war das Burggesetz eindeutig und allen bekannt. Oft genug war es das nicht. Sheriam bat mit unsicherer Stimme Aledrin, nach Kwamesa die Jüngste, Akarrin und die anderen in den Saal zu bringen. Egwene entschied, sofort nach der Sitzung mit der rothaarigen Frau zu sprechen. Wenn Sheriam sich nicht änderte, würde sie als Behüterin bald nutzlos sein.

Delana schoss umgeben von anderen Schwestern in den Pavillon, die letzte Sitzende, und saß auf ihrer Bank und richtete die Stola, als die pummelige Weiße Sitzende mit den sechs Schwestern zurückkehrte und sie vor Egwene führte. Sie mussten ihre Umhänge draußen auf dem Gehweg gelassen haben, denn keine trug jetzt einen. Delana betrachtete sie, ein Stirnrunzeln zog ihre Brauen in die Tiefe. Sie schien außer Atem zu sein, als wäre sie zum Pavillon gerannt.

Anscheinend war Aledrin der Ansicht, dass es keine Rolle spielte, ob die Sitzung nun formell war oder nicht, und sie mit dem Zeremoniell weitermachen sollte. »Ihr seid vor den Saal der Burg gerufen worden, um zu berichten, was ihr gesehen habt«, sagte sie mit starkem tarabonischem Akzent. Die Kombination aus dunkelblondem Haar und braunen Augen war in Tarabon nicht ungewöhnlich, allerdings trug sie das schulterlange Haar nicht als perlengeschmückte Zöpfe, sondern in einem weißen Spitzennetz.

»Ich befehle euch, von diesen Dingen Zeugnis abzulegen, ohne etwas zurückzuhalten, und alle Fragen vollständig zu beantworten und nichts zurückzuhalten. Verkündet nun, dass ihr das tun werdet, unter dem Licht und bei eurer Hoffnung auf Wiedergeburt und Errettung, oder erleidet die Konsequenzen.« Die Schwestern in der Vergangenheit, die diesen Teil des Saal-Zeremoniells erschaffen hatten, hatten genau gewusst, wie viel Raum einem die Drei Eide gaben. Eine kleine Auslassung hier, dort ein Hauch von Unbestimmtheit, und die ganze Bedeutung dessen, was man sagte, konnte auf den Kopf gestellt werden, dabei sagte man die ganze Zeit die Wahrheit.

Akarrin sagte ihren Spruch laut und etwas ungeduldig auf, die anderen fünf mit unterschiedlichen Graden an Feierlichkeit. Viele Schwestern waren in ihrem ganzen Leben kein einziges Mal dazu aufgerufen worden, vor dem Saal Zeugnis abzulegen. Aledrin wartete, bis die Letzte jedes Wort wiederholt hatte, bevor sie zu ihrer Bank zurückmarschierte.

»Sagt uns, was Ihr gesehen habt, Akarrin«, forderte Moria sie auf, sobald sich die Weiße Sitzende abgewandt hatte. Aledrin versteifte sich sichtlich, und als sie ihren Platz einnahm, war ihr Gesicht völlig ausdruckslos, aber auf ihren Wangen brannten helle Flecken. Moria hätte warten müssen. Sie musste sehr ungeduldig sein.

Nach der Tradition — es gab viel mehr Traditionen und Verhaltensregeln als Gesetze, und das Licht wusste, dass es mehr Gesetze gab, als jeder tatsächlich kannte, oftmals auch widersprüchliche Gesetze, die im Laufe der Jahrhunderte erlassen worden waren, aber Traditionen und Regeln bestimmten das Leben der Aes Sedai genauso sehr, wie es die Gesetze der Burg je getan hatten, vielleicht sogar noch mehr — nach der Tradition richtete Akarrin ihre Ansprache an den Amyrlin-Sitz.

»Was wir gesehen haben, Mutter, war ein ungefähr rundes Loch im Boden«, sagte sie und nickte bei fast jedem Wort, um es zu unterstreichen. Sie schien die Worte sorgfältig auszuwählen, als wollte sie sichergehen, dass sie auch jeder verstehen konnte. »Möglicherweise war es ursprünglich ein genauer Kreis, wie die Hälften einer Kugel geformt, aber an einigen Stellen sind die Seiten eingebrochen. Das Loch hat etwa einen Durchmesser von drei Meilen und ist vermutlich anderthalb Meilen tief.« Jemand keuchte laut auf, und Akarrin runzelte die Stirn, als hätte derjenige absichtlich versucht, sie zu unterbrechen. Sie machte jedoch ohne Pause weiter. »Wir konnten die Tiefe nicht genau bestimmen. Der Grund ist voller Wasser und Eis. Wir sind der Meinung, dass daraus ein See entstehen wird. Wie dem auch sei, wir konnten unsere Position ohne allzu große Schwierigkeiten bestimmen, und dieses Loch befindet sich an der Stelle, an der sich einst die Stadt Shadar Logoth erhob.« Sie verstummte, und einen langen Augenblick war nur das Rascheln von Röcken zu hören, als Aes Sedai unbehaglich auf ihren Plätzen hin und her rutschten.

Auch Egwene hielt es kaum auf ihrem Sitz. Beim Licht, ein Loch von dieser Größe würde die Hälfte von Tar Valon einnehmen! »Habt Ihr irgendeine... Idee, wie dieses... Loch erschaffen wurde, Akarrin?«, fragte sie schließlich. Sie war ziemlich stolz darauf, wie beherrscht ihre Stimme klang. Sheriam zitterte doch tatsächlich am ganzen Leib! Egwene hoffte, dass es sonst niemand bemerkte. Das Verhalten der Behüterin fiel immer auf die Amyrlin zurück. Wenn die Behüterin Angst zeigte, würden viele Schwestern glauben, dass Egwene Angst hatte, und diesen Eindruck wollte sie unter allen Umständen vermeiden.

»Jede von uns wurde ausgewählt, weil wir die Fähigkeiten haben, Rückstände lesen zu können, Mutter. Und zwar besser als die meisten.« Also waren sie nicht nur ausgewählt worden, weil keine, die in der Macht stärker waren, interessiert waren. Darin lag eine Lektion. Was Aes Sedai taten, war selten so einfach, wie es auf den ersten Blick erschien. Egwene wünschte, sie müsste nicht immer wieder Lektionen neu erlernen, die sie bereits gemeistert geglaubt hatte. »Nisain ist von uns darin am besten«, fuhr Akarrin fort. »Mit Eurer Erlaubnis überlasse ich die Antwort ihr, Mutter.«

Nisain glättete nervös den dunklen Wollrock und räusperte sich. Die schmächtige Graue mit dem kantigen Kinn und den überraschend blauen Augen hatte einen gewissen Ruf, was Gesetzesfragen und Verträge anging, aber es bereitete ihr offensichtlich Unbehagen, vor dem Saal zu sprechen. Sie blickte geradeaus auf Egwene, als wollte sie die versammelten Sitzenden nicht sehen. »Nach der Menge an Saidar zu urteilen, das dort benutzt wurde, Mutter, war es keine Überraschung, dass die Rückstände beinahe so dicht wie der Schnee waren.« Da war mehr als nur ein Hauch von Murandy in ihrer Stimme. »Selbst nach so langer Zeit hätte ich fähig sein müssen, mir eine Vorstellung davon zu machen, was dort gewebt wurde, wenn es auch nur annähernd Ähnlichkeit mit etwas hatte, das mir bekannt ist, aber das konnte ich nicht. Ich konnte das Gewebe nachempfinden, Mutter, und es ergab nicht den geringsten Sinn. Überhaupt keinen. Tatsächlich erschien es so fremd, dass es möglicherweise gar nicht von...« Sie räusperte sich erneut und schluckte. Ihr Gesicht verlor jegliche Farbe. »Es ist möglicherweise nicht von einer Frau gewebt worden. Natürlich sind wir davon ausgegangen, dass es die Verlorenen waren, also habe ich es auf ihre Resonanz hin überprüft. Wir alle haben das.« Sie drehte sich ansatzweise zu ihren Gefährtinnen um, um sich dann wieder eilig nach vorn zu wenden. Sie zog es eindeutig vor, Egwene anzusehen statt die Sitzenden, die sich alle begierig vorbeugten. »Ich kann nicht sagen, was man dort getan hat, abgesehen von den drei Meilen Erde, die aus dem Boden geholt wurden, oder wie es getan wurde, aber Saidin war definitiv auch im Spiel. Die Resonanz war so stark, dass wir es hätten riechen müssen. Dort wurde mehr Saidin als Saidar benutzt, viel mehr, der Drachenberg im Vergleich zu einem Hügel.

Und das ist alles, was ich sagen kann, Mutter.« Ein Laut wehte durch den Pavillon, der von Schwestern angehaltene Atem, der ausgestoßen wurde. Sheriam war dabei am lautesten, aber vielleicht erschien das auch nur so, weil sie am nächsten stand.

Egwene ließ ihre Miene zu Reglosigkeit erstarren. Die Verlorenen und ein Gewebe, das halb Tar Valon vernichten konnte. Wenn Malind die Flucht vorschlug, konnte sie dann die Schwestern dazu bringen, zu bleiben und sich dem entgegenzustellen? Konnte sie Tar Valon und die Burg und das Licht allein wusste wie viele Zehntausende von Leben im Stich lassen? »Hat jemand eine Frage?«, sagte sie schließlich.

»Ich habe eine«, sagte Romanda trocken. Ihre Ruhe hatte nicht einmal einen haarfeinen Riss bekommen. »Aber nicht an diese Schwestern. Wenn keiner mehr Fragen an sie hat, dann bin ich mir sicher, dass es ihnen angenehmer wäre, wenn der Saal sie nicht länger anstarrt.«

Einerseits stand ihr dieser Vorschlag nicht zu, andererseits konnte man dagegen auch nichts einwenden, also übersah Egwene es. Wie sich herausstellte, hatte keiner mehr Fragen an Akarrin oder ihre Gefährtinnen, und Romanda bedankte sich bei ihnen überraschend herzlich für ihre Bemühungen. Was präzise genommen wiederum nicht ihre Sache war.

»An wen richtet sich Eure Frage?«, erkundigte sich Egwene, als sich Akarrin und die anderen fünf zu der wachsenden Zahl an Schwestern gesellten, die sich zwischen die Kandelaber und Kohlenpfannen drängten. Wie Romanda gesagt hatte, hatten sie es eilig, den Blicken des Saals zu entkommen, aber sie wollten wissen, was aus ihrer Arbeit wurde. Es fiel Egwene schwer, Schärfe aus ihrer Stimme herauszuhalten. Romanda tat so, als würde sie es nicht bemerken. Vielleicht tat sie es auch wirklich nicht.

»An Moria. Wir hatten die Verlorenen von Anfang an im Verdacht. Wir wussten, dass das, was auch immer dort geschah, sehr mächtig war, und dass es in großer Entfernung geschah. Aber eigentlich haben wir nur erfahren, dass Shadar Logoth nicht mehr existiert, und dazu kann ich nur sagen, dass die Welt ohne dieses Pestloch des Schattens besser dran ist.« Sie bedachte die Blaue Schwester mit einem Blick, der viele Aes Sedai sich wie eine Novizin hatte krümmen lassen. »Meine Frage lautet wie folgt: Ist das für uns irgendwie von Bedeutung?«

»Das sollte es«, antwortete Moria und erwiderte den Blick der anderen Frau unerschrocken. Sie mochte nicht so lange Mitglied des Saals sein wie Romanda, aber Sitzende hatten zumindest theoretisch die gleiche Stellung. »Wir haben lange Zeit Vorbereitungen für den Fall getroffen, dass die Verlorenen gegen uns vorgehen. Jede Schwester weiß, wie sie einen Zirkel bilden muss oder sich ihm anschließt, wenn sie dazustößt, bis jeder Zirkel aus dreizehn Mitgliedern besteht. Jede muss aufgenommen werden, selbst die Novizinnen, sogar die neuesten.« Lelaine sah scharf zu ihr auf, aber so sehr sie Moria auch schelten wollte, gehörten sie doch zur selben Ajah. Sie mussten zumindest den äußeren Anschein einer gemeinsamen Front bieten. Aber die Anstrengung, den Mund zu halten, ließ Lelaines Lippen schmal werden.

Romanda kannte keine derartigen Beschränkungen.

»Müsst Ihr erklären, was jede der hier Anwesenden bereits weiß? Wir sind diejenigen, die diese Vorbereitungen getroffen haben. Habt Ihr das vielleicht vergessen?« Diesmal war ihre Stimme schneidend. Offene Zurschaustellung von Wut war im Saal verboten, Sticheleien nicht.

Aber falls Moria sich angesprochen fühlte, ließ sie es sich nicht anmerken, wenn man davon absah, dass sie die Stola zurechtrückte. »Ich muss es von Anfang an erklären, weil wir nicht weit genug gedacht haben. Malind, können sich unsere Zirkel gegen das wehren, was Akarrin und Nisain beschrieben haben?«

Trotz ihres finsteren Blickes schien Malinds voller Mund stets zu einem Lachen bereit, aber sie war sehr ernst, als sie aufstand, und sie starrte jede Sitzende nacheinander an, als wollte sie ihnen ihre Worte einhämmern. »Das können sie nicht. Selbst wenn wir die Dinge neu organisieren, sodass die stärksten Schwestern immer im gleichen Zirkel sind — was bedeutet, dass sie zusammen leben, essen und schlafen müssten, wenn sie sofort einen Zirkel bilden sollen —, selbst dann wären wir Mäuse, die einer Katze gegenüberstehen. Genug Mäuse können selbst eine große hungrige Katze überwinden, aber nicht, bevor viele Mäuse tot sind. Doch wenn genug von diesen Mäusen sterben, stirbt die Weiße Burg.« Wieder wehte ein flüsterndes Seufzen einer unsteten Brise gleich durch den Pavillon.

Es gelang Egwene, das Gesicht ausdruckslos zu halten, aber sie musste ihre Fäuste zwingen, den Griff um ihre Röcke zu lockern. Was würden sie vorschlagen, Angriff oder Flucht? Beim Licht, wie sollte sie sich ihnen entgegenstellen?

Ob nun dieselbe Ajah oder nicht, Lelaine konnte sich nicht länger beherrschen. »Was schlagt Ihr vor, Moria?«, fauchte sie. »Selbst wenn wir die Burg heute noch wieder vereinigen, würde das nichts an den Tatsachen ändern.« Moria lächelte schmal, als hätte die andere Blaue genau das gesagt, von dem sie gehofft hatte, dass es jemand zur Sprache bringen würde. »Wir müssen die Tatsachen verändern. Im Augenblick ist es eine Tatsache, dass unsere stärksten Zirkel zu schwach sind. Wir haben keine Angreal, noch weniger Sa'angreal, also können wir sie genauso gut ignorieren. Aber ich bin nicht einmal davon überzeugt, dass es in der Burg etwas gibt, das überhaupt einen Unterschied bewirken würde. Wie sollen wir nun unsere Zirkel stärker machen? Stark genug, um eine Hoffnung zu haben, dass wir uns dem entgegenstellen können, was in Shadar Logoth geschehen ist, und es aufzuhalten. Escaralde, was habt Ihr dazu zu sagen?«

Egwene beugte sich überrascht vor. Sie arbeiteten zusammen. Aber wozu?

Sie war nicht die Einzige, die erkannte, dass die drei Sitzenden, die den Saal zusammengerufen hatten, alle standen. Indem sie stehen geblieben waren, hatten Moria und Malind eine klare Absichtserklärung abgegeben. Escaralde stand wie eine Königin da, aber die kleine Braune schien sich der Blicke, die zwischen ihr und Malind und Moria hin und her huschten, nur allzu bewusst zu sein, den in nachdenkliche Falten gelegten Stirnen und reglosen Gesichtern. Sie zupfte zweimal an ihrer Stola herum, bevor sie sprach. Dabei klang sie, als würde sie vor einer Klasse dozieren, ihre Stimme war dünn und zugleich energisch.

»Die alte Literatur ist darin ziemlich eindeutig, auch wenn sie, wie ich fürchte, kaum gelesen wird. Sie zieht eher Staub als Leser an. Schriften, die in den frühesten Jahren der Burg gesammelt wurden, legen eindeutig dar, dass Zirkel im Zeitalter der Legenden nicht auf dreizehn beschränkt waren. Der präzise Mechanismus oder vielmehr das präzise Gleichgewicht ist unbekannt, aber es sollte keine unlösbare Aufgabe sein, das herauszufinden. Für diejenigen von Euch, die nicht die Zeit in der Burgbibliothek verbracht haben, die sie dort hätten verbringen sollen, die Methode, einen Zirkel zu vergrößern, beinhaltet...« — sie stockte zum ersten Mal und zwang sich sichtlich zum Weitersprechen — »... beinhaltet die Einbeziehung von Männern, die die Macht lenken können.«

Faiselle sprang auf die Füße. »Was schlagt Ihr da vor?«, rief sie aufgebracht und setzte sich sofort wieder, damit keiner auf den Gedanken kam, sie würde zur Unterstützung dastehen.

»Ich verlange, dass der Saal geräumt wird!«, sagte Magla und stand auf. Sie kam wie Moria aus Illian, und Erregung verstärkte ihren Akzent. »Dies ist eine Sache, die allein in einer geschlossenen Sitzung des Saals diskutiert werden sollte.« Auch sie setzte sich sofort wieder hin, als sie geendet hatte, und saß mit finsterer Miene da, krümmte die breiten Schultern und öffnete und schloss die Fäuste auf den Röcken.

»Ich fürchte, dazu ist es zu spät«, sagte Moria laut. Sie musste laut sprechen, um das Gemurmel der Schwestern, die aufgeregt hinter den Bänken sprachen, zu übertönen; es war ein Summen wie in einem Bienenkorb. »Was gesagt wurde, wurde gesagt, und es haben zu viele Schwestern gehört, als dass jetzt jemand versuchen könnte, dies ungeschehen zu machen.« Ihr Busen hob sich, als sie tief Luft holte, und sie sprach noch lauter weiter. »Ich stelle vor dem Saal den Antrag, dass wir eine Übereinkunft mit der Schwarzen Burg treffen, dass wir falls nötig Männer in unsere Zirkel einbringen können.« Wenn sie am Ende etwas erstickt klang, so war das kein Wunder. Nur wenige Aes Sedai konnten diesen Namen ohne Ekel oder puren Hass sagen. Die Worte trafen auf das Stimmengewirr — und sorgten für den Zeitraum von drei Herzschlägen für absolute Stille.

»Das ist Wahnsinn!« Sheriams schriller Ruf ließ die Stille in mehrerer Hinsicht zerbrechen. Die Behüterin der Chroniken mischte sich nicht in Diskussionen des Saals ein. Sie konnte ohne die Amyrlin den Saal nicht einmal betreten. Sheriams Wangen färbten sich knallrot, sie drückte den Rücken durch, vielleicht um sich der unweigerlich folgenden Zurechtweisung zu stellen, vielleicht auch, um sich zu verteidigen. Aber der Saal hatte andere Dinge im Sinn, als sie zu tadeln.

Sitzende sprangen von ihren Bänken auf, gerade lange genug, um zu sprechen, zu schreien, manchmal sogar einander zu übertönen.

»Wahnsinn beschreibt das nicht einmal annähernd!«, schrie Faiselle zur selben Zeit, in der Varilin rief: »Wie können wir uns mit Männern verbünden, die die Macht lenken können?«

»Diese so genannten Asha'man sind mit dem Makel behaftet!«, rief Saroiya und ließ jedes Anzeichen der berühmten Zurückhaltung der Weißen Ajah vermissen. Sie hatte die Stola fest umkrallt und zitterte so sehr, dass die langen weißen Fransen bebten. »Mit dem Makel des Dunklen Königs!«

»Allein dieser Vorschlag stellt alles in Frage, wofür die Weiße Burg steht«, sagte Takima grob. »Wir würden von jeder Frau verachtet, die sich Aes Sedai nennt, von Aes Sedai, die schon lange in ihren Gräbern liegen!«

Magla ging so weit, unverhohlen mit der Faust zu drohen. »So etwas kann nur eine Schattenfreundin vorschlagen! Nur eine Schattenfreundin!« Die Anschuldigung ließ Moria erblassen, dann wurde sie von Zorn ergriffen selbst knallrot im Gesicht.

Egwene wusste nicht, wie sie dazu stehen sollte. Die Schwarze Burg war Rands Schöpfung, vielleicht war sie sogar nötig, falls überhaupt Hoffnung bestehen sollte, die Letzte Schlacht zu gewinnen, aber die Asha'man waren Männer, die die Macht lenken konnten, eine Sache, vor der man sich dreitausend Jahre lang gefürchtet hatte, und sie lenkten vom Schatten beschmutztes Saidin. Rand selbst war ein Mann, der die Macht lenken konnte, doch ohne ihn würde der Schatten bei Tarmon Gai'don siegen. Das Licht mochte ihr beistehen, dass sie es so kühl sah, aber es war eine bittere Wahrheit. Wie auch immer ihre Meinung war, in diesem Augenblick gerieten die Dinge außer Kontrolle. Escaralde und Faiselle tauschten so laut sie konnten Beleidigungen aus. Offene Beleidigungen! Im Saal! Saroiya hatte die letzten Fetzen ihrer Zurückhaltung abgestreift und schrie Malind an, die zurückschrie. Es wäre ein Wunder gewesen, hätten sie verstehen können, was die andere von sich gab, und vielleicht war es ein Segen, dass sie es nicht konnten. Überraschenderweise hatten weder Romanda noch Lelaine den Mund aufgemacht. Sie saßen nur da und starrten einander an, ohne zu blinzeln. Vermutlich versuchte jede von ihnen den Standpunkt der anderen zu erahnen, damit sie die gegenteilige Position einnehmen konnte. Magla stieg von ihrer Bank und schritt auf Moria zu, in ihrem Blick lag ein Funkeln, als sei sie auf eine Schlägerei aus. Kein Wortgefecht, eine Schlägerei. Magla hatte die Fäuste an den Seiten geballt. Ihre Stola rutschte unbemerkt zu Boden.

Egwene stand auf und umarmte die Quelle. Mit Ausnahme bestimmter festgelegter Funktionen war im Saal das Machtlenken verboten — ein weiterer Brauch, der auf die dunklen Tage in der Geschichte des Saals verwies —, aber sie machte ein einfaches Gewebe aus Luft und Feuer.

»Dem Saal wurde ein Antrag vorgelegt«, sagte sie und ließ Saidar los. Das fiel nicht mehr so schwer wie früher. Es war nicht leicht, nicht einmal annähernd, aber es fiel nicht mehr so schwer. Eine Erinnerung an die Süße der Macht blieb, genug, um sie es bis zum nächsten Mal aushalten zu lassen.

Von dem Gewebe verstärkt, hallten ihre Worte wie Donnerhall durch den Pavillon. Aes Sedai zuckten zurück und hielten sich die Ohren zu. Die einsetzende Stille erschien unglaublich laut. Magla starrte sie erstaunt an, dann wurde ihr bewusst, dass sie auf dem halben Weg zu den Bänken der Blauen stand. Hastig eilte sie zurück zu ihrem Platz und hielt nur kurz inne, um die Stola vom Boden aufzuheben. Sheriam stand da und weinte offen. So laut war es doch nun sicherlich auch nicht gewesen.

»Dem Saal wurde ein Antrag vorgelegt«, wiederholte Egwene in die Stille hinein. Nach dem von der Macht verstärkten Ruf hallte ihr die eigene Stimme in den Ohren wider. Vielleicht war es doch lauter gewesen, als sie beabsichtigt hatte. Dieses Gewebe war nie für den Gebrauch in geschlossenen Räumen vorgesehen gewesen, selbst wenn es sich bei den Wänden um geflicktes Segeltuch handelte.

»Was sagt Ihr zu einer Allianz mit der Schwarzen Burg, Moria?« Sie setzte sich wieder, sobald sie zu Ende gesprochen hatte. Was dachte sie darüber? Welche Schwierigkeiten würden sich für sie ergeben? Wie konnte sie das zu ihrem Vorteil nutzen? Mochte das Licht ihr helfen, in der Tat. Das waren die ersten Dinge, die ihr einfielen. Sie wünschte, Sheriam würde die Augen trocknen und ihr Rückgrat wieder entdecken. Sie war der Amyrlin-Sitz, und sie brauchte eine Behüterin, keinen Waschlappen.

Es dauerte ein paar Minuten, ehe wieder Ordnung einkehrte, die Sitzenden unnötigerweise die Röcke glätteten, die Blicke der anderen mieden und vor allem nicht zu den Schwestern sahen, die sich hinter den Bänken drängten.

Manche Gesichter wurden von einem Rot gezeichnet, das nichts mit Zorn zu tun hatte. Sitzende schrien einander nicht an wie Bäuerinnen bei der Schafschur. Und vor allem erst recht nicht vor anderen Schwestern.

»Wir haben es mit zwei scheinbar unüberwindlichen Schwierigkeiten zu tun«, sagte Moria schließlich. Ihre Stimme war wieder beherrscht und kühl, aber ihre Wangen waren noch immer leicht gerötet. »Die Verlorenen haben eine Waffe entdeckt — oder ausgegraben; hätten sie sie schon vorher besessen, hätten sie sie mit Sicherheit benutzt —, eine Waffe, der wir nichts entgegenzusetzen haben. Eine Waffe, bei der wir nicht mithalten können, auch wenn das Licht weiß, warum wir das überhaupt sollten, aber was noch wichtiger ist, eine Waffe, die wir weder überleben noch aufhalten können. Zur gleichen Zeit haben sich die... Asha'man... vermehrt wie Unkraut. Verlässliche Berichte besagen, dass ihre Zahl der Anzahl fast aller lebenden Aes Sedai entspricht. Selbst wenn diese Zahl übertrieben ist, können wir uns die Annahme nicht leisten, dass sie weit übertrieben ist. Und jeden Tag kommen mehr Männer dazu. Die Augen-und-Ohren stimmen darin zu sehr überein, als dass wir etwas anderes glauben können. Wir sollten diese Männer natürlich aufspüren und dämpfen, aber wir haben sie wegen des Wiedergeborenen Drachen ignoriert. Wir haben sie zur Seite geschoben, wollten uns später darum kümmern. Die bittere Wahrheit ist, dass es dafür zu spät sein könnte. Es sind zu viele. Vielleicht war es schon zu spät, als wir das erste Mal erfuhren, was sie taten. Wenn wir diese Männer nicht dämpfen können, dann müssen wir sie irgendwie kontrollieren. Wir müssen eine Vereinbarung mit der Schwarzen Burg — Allianz ist ein zu starkes Wort — in Erwägung ziehen. Mit einer sorgfältig formulierten Vereinbarung können wir die ersten Schritte in die Richtung machen, die Welt vor ihnen zu beschützen. Wir können sie auch in unsere Zirkel bringen.«

Moria hob einen warnenden Finger und ließ den Blick über die Bänke schweifen, aber ihre Stimme blieb kühl und beherrscht. Und unnachgiebig. »Wir müssen klarstellen, dass nur eine Schwester die Ströme vereinigt — ich schlage nicht vor, einen Mann einen Zirkel kontrollieren zu lassen!

-, aber mit Männern in den Zirkeln können wir sie vergrößern. Mit dem Segen des Lichts können wir die Zirkel vielleicht genug vergrößern, um dieser Waffe der Verlorenen entgegenzutreten. Wir töten zwei Hasen mit einem Stein. Aber diese Hasen sind Löwen, und wenn wir diesen Stein nicht werfen, wird einer von ihnen uns sicherlich töten. So einfach ist das.«

Stille kehrte ein. Ausgenommen bei Sheriam. Sie stand noch immer mit zuckenden Schultern ein paar Schritte von Egwene entfernt und schluchzte hemmungslos.

Dann seufzte Romanda tief. »Vielleicht können wir die Zirkel genug vergrößern, um uns gegen die Verlorenen zu wehren«, sagte sie leise. In gewisser Hinsicht verlieh das ihren Worten mehr Gewicht, als wenn sie geschrien hätte.

»Vielleicht können wir die Asha'man kontrollieren. Möglicherweise ein schwaches Wort, in jeder Beziehung.«

»Wenn man ertrinkt«, erwiderte Moria genauso leise, »dann greift man nach jedem vorbeitreibenden Ast, selbst wenn man sich nicht sicher ist, ob er einen stützt, bis man Halt findet. Das Wasser ist noch nicht über unseren Köpfen zusammengeschlagen, Romanda, aber wir ertrinken.«

Wieder trat bis auf Sheriams Geschniefe Stille ein. Hatte sie denn sämtliche Selbstbeherrschung verloren? Andererseits zeigte keine Sitzende ein fröhliches Gesicht, nicht einmal Moria oder Malind oder Escaralde. Es war keine angenehme Vorstellung, die sich ihnen da bot. Delanas Gesicht hatte eindeutig einen grünlichen Farbton angenommen. Sie sah aus, als würde sie sich gleich übergeben.

Egwene erhob sich lange genug, um die erforderliche Frage zu stellen. Selbst wenn das Undenkbare vorgeschlagen wurde, musste man die Rituale befolgen. Vielleicht sogar noch mehr als sonst. »Wer spricht gegen diesen Vorschlag?«

Da gab es keinen Mangel an Sprecherinnen, allerdings hatte sich jede ausreichend beruhigt, um sich ans Protokoll zu halten. Mehrere Sitzende bewegten sich gleichzeitig, aber Magla stand als Erste auf den Füßen, und die anderen setzten sich wieder ohne jede Spur von Ungeduld. Faiselle folgte Magla, und Varilin folgte Faiselle. Dann kam Saroiya und schließlich Takima. Jede sprach lange, Varilin und Saroiya standen kurz davor, eine der verbotenen Ansprachen zu halten, und jede sprach mit der größten Eloquenz, zu der sie fähig war. Niemand errang den Sitz einer Sitzenden, ohne nicht nötigenfalls eloquent zu sein. Trotzdem wurde bald ersichtlich, dass sie sich wiederholten, wenn auch nur mit anderen Worten.

Die Verlorenen und ihre Waffe wurden nie erwähnt. Die Schwarze Burg war das Thema der Sitzenden, die Schwarze Burg und die Asha'man. Die Schwarze Burg war eine faulige Stelle auf dem Antlitz der Erde, eine Bedrohung für die Welt, so groß wie die Letzte Schlacht selbst. Allein schon der Name deutete eine Verbindung zum Schatten an, ganz zu schweigen davon, dass es eine eindeutige Ohrfeige für die Weiße Burg war. Die so genannten Asha'man — niemand benutzte die Bezeichnung, ohne »so genannt« hinzuzufügen oder es mit einem höhnischen Verziehen des Mundes zu sagen; in der Alten Sprache bedeutete das »Wächter«, und sie waren alles, nur keine Wächter —, die so genannten Asha'man waren Männer, die die Macht lenken konnten! Männer, die verdammt waren, vom Wahnsinn verschlungen zu werden, falls die männliche Hälfte der Macht sie nicht vorher tötete! Wahnsinnige, die die Eine Macht lenkten. Von Magla bis Takima stattete jede von ihnen sie mit jeder erdenklichen Schreckensgeschichte aus. Dreitausend Jahre Schrecken der Welt, und die Zerstörung der Welt davor. Solche Männer hatten die Welt zerstört, hatten das Zeitalter der Legenden zerstört und das Antlitz der Welt in eine Wüste verwandelt. Das waren die Leute, mit denen sie sich verbünden sollten. Wenn sie das taten, würde man sie in jeder Nation verfluchen, und das zu Recht. Jede Aes Sedai würde sie verabscheuen, und das zu Recht. Das konnten sie nicht tun. Sie konnten es nicht.

Als Takima schließlich Platz nahm und die Stola sorgfältig auf den Armen drapierte, zeigte sie ein kleines, aber ziemlich zufriedenes Lächeln. Gemeinsam war es ihnen gelungen, die Asha'man noch furchterregender, noch gefährlicher erscheinen zu lassen als die Verlorenen und die Letzte Schlacht zusammen. Vielleicht sogar als der Dunkle König selbst.

Da Egwene die rituellen Fragen begonnen hatte, musste sie sie auch beenden, und sie stand lange genug auf, um zu sagen: »Wer tritt für eine Vereinbarung mit der Schwarzen Burg ein?« Sie hatte nur geglaubt, dass Stille im Pavillon geherrscht hatte. Sheriam hatte sich endlich beruhigt, auch wenn auf ihren Wangen noch immer Tränen funkelten, aber in der Stille, die dieser Frage folgte, klang ihr Schlukken wie ein Schrei.

Takimas Lächeln gefror, als Janya aufstand, sobald Egwene die Frage beendet hatte. »Selbst ein schmaler Ast ist besser als gar kein Ast, wenn man ertrinkt«, sagte Janya.

»Ich würde es eher versuchen, als mich allein auf die Hoffnung zu verlassen, bevor ich untergehe.« Sie hatte die Angewohnheit zu sprechen, wenn sie es nicht sollte.

Samalin erhob sich, um neben Malind zu stehen, und plötzlich kam es zu einem Ansturm, Salita und Berana und Aledrin zusammen, Kwamesa tat es ihnen nur einen Augenblick später gleich. Neun Sitzende auf den Füßen, und so blieb es, während sich die Momente ausdehnten. Egwene wurde sich bewusst, dass sie sich auf die Lippe biss, und hörte schnell damit auf, in der Hoffnung, dass es niemand bemerkt hatte. Sie hoffte, dass sie sie nicht blutig gebissen hatte. Nicht, dass jemand sie ansah. Jeder schien den Atem anzuhalten.

Romanda schaute stirnrunzelnd zu Salita hoch, die mit grauem Gesicht und bebenden Lippen starr geradeaus starrte. Die Schwester aus Tear mochte nicht in der Lage sein, ihre Furcht zu verbergen, aber sie würde den eingeschlagenen Weg weitergehen. Romanda nickte langsam und stand schockierenderweise auf. Auch sie entschied sich, die Regeln zu verletzen. »Manchmal«, sagte sie und schaute Lelaine direkt an, »müssen wir Dinge tun, die wir lieber nicht tun würden.«

Lelaine erwiderte den Blick der grauhaarigen Gelben, ohne zu blinzeln. Ihr Gesicht hätte aus Porzellan sein können. Ihr Kinn hob sich kaum merklich. Und plötzlich stand sie auf und sah Lyrelle ungeduldig an, die sie kurz anstarrte, bevor auch sie sich erhob.

Alle starrten sie an. Niemand machte einen Laut. Es war geschehen.

Jedenfalls fast. Egwene räusperte sich und versuchte Sheriams Aufmerksamkeit zu erregen. Der nächste Teil war Aufgabe der Behüterin, aber Sheriam stand da, rieb sich mit den Fingern Tränen von den Wangen und ließ den Blick über die Bänke schweifen, als würde sie zählen, wie viele Sitzende standen, und hoffen, dass sie sich verzählt hatte. Egwene räusperte sich lauter, und die Frau zuckte zusammen und starrte sie an. Und selbst dann schien es eine Ewigkeit zu dauern, bevor sie sich wieder auf ihre Pflicht besann.

»Da die einfache Mehrheit steht«, verkündete sie mit unsicherer Stimme, »wird der Versuch in die Wege geleitet, zu einer Vereinbarung mit der... Schwarzen Burg zu kommen.« Sie holte tief Luft, richtete sich zu ihrer vollen Größe auf, und ihre Stimme gewann an Kraft. Sie war wieder auf vertrautem Boden. »Im Interesse der Einheit bitte ich darum, dass die große Mehrheit aufsteht.«

Das war ein mächtiger Aufruf. Selbst bei Angelegenheiten, die von der einfachen Mehrheit entschieden werden konnten, wurde Einigkeit immer bevorzugt, und man arbeitete darauf hin. Es konnten stundenlange Diskussionen, sogar tagelange erforderlich sein, um das zu erreichen, aber die Bemühungen würden nicht aufhören, bis jede Sitzende zustimmte oder es so klar wie Quellwasser war, dass es zu keiner Einigung kommen konnte. Ein mächtiger Aufruf, einer, der jede Schwester ansprach. Delana erhob sich wie eine Marionette, die man gegen ihren Willen in die Höhe zog, und sah sich fragend um.

»Ich kann dafür nicht eintreten«, sagte Takima gegen jede Ordnung. »Ganz egal, was jemand sagt, ganz egal, wie lange wir sitzen, ich kann es nicht tun, und ich werde es auch nicht tun! Ich — werde — es — nicht — tun!«

Auch sonst stand niemand auf. O ja, Faiselle rutschte auf ihrer Bank herum, machte Anstalten aufzustehen, rückte ihre Stola zurecht, zuckte erneut, als wollte sie aufstehen. Das war so nahe dran, wie jede herankam. Saroiya biss sich mit entsetztem Gesichtsausdruck in den Handrücken, und Varilin sah aus wie eine Frau, der man einen Hammer zwischen die Augen geschlagen hatte. Magla ergriff die Enden ihrer Bank, hielt sich fest und starrte trübsinnig auf den Teppich vor ihr. Offensichtlich war sie sich des finsteren Blicks bewusst, den Romanda auf ihren Nacken richtete, aber ihre einzige Erwiderung bestand darin, die Schultern zu krümmen.

Takima hätte die Letzte sein sollen. Es war sinnlos, die große Mehrheit zu suchen, wenn jemand deutlich gemacht hatte, dass er dafür nie eintreten würde. Aber Egwene entschied sich zu ihrem eigenen Bruch mit der Ordnung und den Regeln. »Gibt es eine, die der Meinung ist, wegen dieser Sache ihren Sitz verlassen zu müssen?«, fragte sie mit lauter und klarer Stimme.

Vielfaches Keuchen erfüllte den Pavillon, aber sie hielt den Atem an. Das konnte sie vernichten, aber es war besser, es jetzt in aller Öffentlichkeit auszutragen, wenn es das sein sollte, was daraus entstand. Saroiya starrte sie wild an, aber niemand regte sich.

»Dann werden wir es tun«, verkündete sie. »Vorsichtig. Es wird Zeit brauchen, um festzulegen, welche Schwestern zur Schwarzen Burg gehen sollen und was sie sagen sollen.« Zeit, in der sie ein paar Sicherungen einbauen konnte. Hoffentlich. Beim Licht, sie würde sich zerreißen müssen, um das zu bewältigen. »Als Erstes, gibt es Vorschläge für unsere... Gesandtschaft?«

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