Die Abendsonne hing wie eine blutrote Kugel über den Baumwipfeln und warf ihr fahles Licht auf das Lager, die weit verstreute Masse aus Pferdehalteseilen, Planwagen und hochrädrigen Karren und Zelten jeder Art und Größe. Der Schnee am Boden war zu Matsch zertrampelt. Weder die Tageszeit noch der Ort, an dem Elenia Sarand auf einem Pferderücken sein wollte. Der Geruch von siedendem Rindfleisch, der aus den schwarzen Kesseln emporwallte, reichte aus, um ihr den Magen umzudrehen. Die kalte Luft verwandelte ihren Atem in Nebel und versprach eine bittere Nacht, und der Wind schnitt durch ihren besten roten Umhang, ohne sich an der dicken Schicht aus weißem Pelz zu stören. Angeblich sollte Schneefuchs wärmer als andere Pelze sein, aber das hatte sie noch nie feststellen können.
Sie hielt den Umhang mit einer behandschuhten Hand geschlossen, ritt langsam und gab sich — wenn auch nicht besonders erfolgreich — alle Mühe, nicht zu zittern. In Anbetracht der Stunde schien es mehr als nur wahrscheinlich, dass sie die Nacht hier verbringen würde, aber bis jetzt hatte sie noch keine Ahnung, wo sie schlafen sollte. Zweifellos im Zelt irgendeines niedrigen Adligen, den man irgendwo anders hin verfrachtet hatte und der sich alle Mühe gab, gute Miene zum bösen Spiel zu machen, aber Arymilla ließ sie gern bis zum letzten Augenblick zappeln — was ihr Nachtlager und auch alles andere anging. Eine Unsicherheit wurde erst dann ausgeräumt, sobald eine andere sie ersetzen konnte. Offensichtlich war die Frau der Meinung, dass ständige Unsicherheit sie gefügig machen würde, sie vielleicht sogar zu Beflissenheit antrieb. Das war bei weitem nicht Arymillas einzige Fehleinschätzung, das fing schon mit dem Glauben an, dass man Elenia Sarand die Krallen gestutzt hatte.
Sie hatte nur vier Männer mit den beiden Goldenen Ebern auf den Umhängen als Eskorte — und ihre Zofe Janny natürlich, die sich so in ihrem Umhang zusammenkauerte, dass sie auf dem Sattel wie ein grünes Wollbündel erschien —, und sie hatte in dem Lager nicht einen einzigen Burschen gesehen, von dem sie sicher sein konnte, dass er auch nur einen Funken Loyalität für Haus Sarand in sich hatte. Hier und da trugen die Männer, die sich mit ihren Wäscherinnen und Näherinnen um die Feuer drängten, den Roten Fuchs von Haus Anshar, und ihr war eine Zweierreihe Reiter mit Baryns Geflügeltem Hammer im Schritttempo entgegengekommen, harte Männer mit harten Gesichtern hinter den Visierstangen. Aber im Grunde zählten sie nicht viel. Karind und Lir hatten sich böse verbrannt, weil sie bei Morgases Griff nach dem Thron zu langsam gewesen waren. Diesmal würden sie Haus Anshar und Haus Baryn in dem Moment, in dem sie deutlich sehen konnten, wo der Vorteil lag, auf die betreffende Seite bringen und Arymilla mit dem gleichen Eifer im Stich lassen, mit dem sie sich auf ihre Seite geschlagen hatten. Wenn die Zeit gekommen war.
Die meisten der Männer, die durch den schlammigen Matsch wateten oder hoffnungsfroh in die widerwärtigen Kessel spähten, waren Bauern und Städter, die man dienstverpflichtet hatte, als ihr Herr oder ihre Herrin in den Krieg gezogen waren, und nur wenige trugen das Abzeichen ihres Hauses auf den schäbigen Mänteln und geflickten Umhängen. Es war sogar so gut wie unmöglich, vermeintliche Soldaten von Hufschmieden und Pfeilmachern und dergleichen zu unterscheiden, da fast alle irgendein Schwert oder eine Axt trugen. Beim Licht, eine große Anzahl der Frauen trugen Messer, die groß genug waren, um als Kurzschwert durchzugehen, aber es war unmöglich, eine eingezogene Bauersfrau von einem Kutscher zu unterscheiden. Sie trugen alle das gleiche dicke Tuch und hatten die gleichen rauen Hände und müden Gesichter. Aber eigentlich spielte das auch keine Rolle. Diese Winterbelagerung war ein furchtbarer Fehler — die Waffenmänner würden lange vor den Eingeschlossenen hungern —, aber sie verschaffte Elenia eine Chance, und wenn sich einem eine Gelegenheit bot, dann schlug man zu. Sie hatte die Kapuze so weit nach hinten geschoben, dass man ihre Züge trotz des schneidenden Windes erkennen konnte, und nickte jedem ungewaschenen Kerl, der auch nur in ihre Richtung glotzte, erhaben zu und ignorierte die Verblüffung, die einige über ihre Leutseligkeit zeigten.
Die meisten würden sich an ihre Freundlichkeit erinnern und an die Goldenen Eber, die ihre Eskorte trugen, und sie würden wissen, dass Elenia Sarand sie bemerkt hatte. Auf einem solchen Fundament baute man Macht auf. Eine Hohe Herrin stand genau wie eine Königin auf einem aus Menschen errichteten Turm. Keine Frage, die ganz unten waren Ziegel aus dem einfachsten Lehm, aber wenn diese schlichten Ziegel zerbröckelten und ihre Unterstützung fehlte, stürzte der Turm um. Das hatte Arymilla anscheinend vergessen, wenn es ihr jemals bewusst gewesen war.
Elenia bezweifelte, dass Arymilla überhaupt mit jemandem sprach, der im Rang unter einem Leibdiener stand. Wäre es... angebracht... gewesen, hätte sie selbst an jedem Lagerfeuer ein paar Worte gewechselt, vielleicht gelegentlich eine schmierige Hand ergriffen und sich an Leute erinnert, die ihr schon einmal begegnet waren, oder wenigstens so getan, als würde sie es tun. Arymilla fehlte einfach der Verstand, um Königin zu sein.
Das Lager nahm mehr Raum ein als die meisten Städte, es ähnelte mehr hundert Lagern verschiedener Größe als einem, darum konnte Elenia umherschweifen, ohne sich allzu viel Sorgen darum machen zu müssen, an die Grenzen der anderen zu stoßen, aber sie gab trotzdem Obacht. Die diensthabenden Wachen würden höflich sein, sofern sie nicht völlig verblödet waren, aber ohne jeden Zweifel hatten sie ihre Befehle. Im Prinzip hieß sie es gut, wenn Leute das taten, was man ihnen befahl, aber es würde besser sein, peinliche Zwischenfälle zu vermeiden. Vor allem in Anbetracht der wahrscheinlichen Konsequenzen, falls Arymilla auf die Idee kam, dass sie tatsächlich hatte gehen wollen. Eine kalte Nacht im schmutzigen Zelt eines Soldaten hatte sie bereits gezwungenermaßen hinter sich, ein Unterschlupf, der kaum seinem Namen gerecht wurde, einschließlich Ungeziefer und schlecht geflickten Löchern, ganz zu schweigen von der fehlenden Janny, die ihr weder beim Ausziehen helfen noch für etwas zusätzliche Wärme unter der zerschlissenen Decke sorgen konnte, und das alles bloß wegen einer angeblichen Beleidigung. Nun ja, es war eine Beleidigung gewesen, aber sie hatte Arymilla nicht für klug genug gehalten, sie zu verstehen. Beim Licht, allein schon der Gedanke, dass sie in Gegenwart dieser... Närrin mit einem Erbsenhirn auf jedes Wort aufpassen musste! Sie zog den Umhang enger und versuchte so zu tun, als wäre das Schaudern nur eine Reaktion auf den Wind. Es gab Wichtigeres, worüber es sich nachzudenken lohnte. Wichtigere Dinge. Sie nickte einem jungen Mann mit weit aufgerissenen Augen und einem dunklen, um den Kopf gewickelten Schal zu, und er zuckte zurück, als hätte sie ihn finster angestarrt. Dämlicher Bauer!
Der Gedanke, dass dieses junge Ding Elayne nur wenige Meilen entfernt gemütlich und warm im Komfort des Königlichen Palasts saß und von Dutzenden gut ausgebildeten Dienern versorgt wurde und vermutlich über nichts Schwerwiegenderes nachgrübelte, als was sie abends beim Bankett tragen sollte, setzte ihr schwer zu. Gerüchten zufolge war das Mädchen schwanger, vermutlich von irgendeinem Gardisten. Das konnte schon sein. Elayne verfügte über genauso wenig Anstand wie ihre Mutter. Dyelin war der Verstand, der dahintersteckte, ein scharfer und gefährlicher Verstand, auch wenn man ihren erbärmlichen Mangel an Ambition in Betracht zog; vielleicht sogar von einer Aes Sedai beraten. Es musste mindestens eine richtige Aes Sedai hinter all diesen absurden Gerüchten stecken.
Es drangen so viele Lügengeschichten aus der Stadt, dass es schwer wurde, die Realität vom Unsinn zu trennen — Leute vom Meervolk, die Löcher in der Luft erschufen? Völliger Blödsinn! —, dennoch hatte die Weiße Burg offensichtlich ein Interesse daran, eine der ihren auf den Thron zu setzen. Und wieso auch nicht? Aber Tar Valon schien pragmatisch zu sein, wenn es um solche Dinge ging. Die Geschichte zeigte eindeutig, dass diejenige, die den Löwenthron gewann, bald herausfand, dass sie zugleich auch diejenige war, welche die Burg die ganze Zeit favorisiert hatte. Die Aes Sedai würden ihre Verbindung zu Andor nicht durch Untätigkeit verlieren, vor allem nicht, wenn die Burg selbst gespalten war. Das wusste Elenia so sicher wie ihren Namen. Wenn auch nur die Hälfte von dem, was man über die Zustände in der Burg hörte, der Wahrheit entsprach, würde sich die nächste Königin von Andor möglicherweise in einer Position wieder finden, in der sie alles verlangen konnte, nur damit diese Verbindung aufrechterhalten wurde. Auf jeden Fall würde niemand vor dem Sommer mit der Rosenkrone gekrönt werden, und bis dahin konnte sich noch vieles ändern. Sehr vieles.
Sie machte ihre zweite Runde durch das Lager, als der Anblick einer weiteren kleinen berittenen Gruppe voraus, die sich im letzten Tageslicht langsam einen Weg vorbei an den Lagerfeuern suchte, sie die Stirn runzeln und ihr Pferd scharf zügeln ließ. Die Frauen trugen Umhänge und tiefe Kapuzen, die eine trug dicke blaue Seide, die mit schwarzem Pelz verbrämt war, die andere einfaches graues Tuch, aber der silberne dreibärtige Schlüssel auf den Umhängen der vier Waffenmänner verkündete ihre Namen deutlich. Sie konnte mühelos eine Menge Leute benennen, denen sie lieber begegnet wäre als Naean Arawn. Zwar hatte Arymilla ihnen nicht ausdrücklich verboten, sich ohne sie zu treffen — Elenia spürte nicht nur, wie ihre Zähne knirschten, sie konnte es sogar hören, und sie zwang ihre Züge zu einer ausdruckslosen Miene —, aber im Augenblick erschien es klüger, die Dinge nicht zu forcieren. Vor allem, wenn ein solches Treffen keinerlei Vorteile bringen würde.
Zu ihrem Leidwesen sah Naean sie, bevor sie sich abwenden konnte. Die Frau sprach hastig mit ihrer Eskorte, und noch während sich die Waffenmänner und die Dienerin in ihren Sätteln verbeugten, trieb sie ihr Pferd auf Elenia zu, und zwar in einem Tempo, dass die Hufe ihres schwarzen Wallachs Schneeklumpen in die Höhe schleuderten. Das Licht sollte diese Närrin verbrennen! Andererseits, was auch immer Naean zu einer solchen Unbesonnenheit veranlasste, war möglicherweise interessant und zu wissen wert, ob es nun gefährlich war oder nicht. Möglicherweise, aber es herauszufinden barg seine eigenen Gefahren.
»Bleibt hier und vergesst nicht, dass ihr nichts seht«, fauchte Elenia ihr Gefolge an und stieß Morgenwind die Absätze in die Flanken, ohne auf eine Erwiderung zu warten. Sie brauchte nicht bei jeder Gelegenheit Verbeugungen und Hofknickse, jedenfalls nicht über das übliche Maß des Anstands hinaus, und ihre Leute wussten es besser, etwas anderes als befohlen zu tun. Um alle anderen musste sie sich Sorgen machen, sollten sie doch alle zu Asche verbrennen! Als die langbeinige Stute einen Satz nach vorn machte, entglitt ihr der Saum ihres Umhangs, und er flatterte hinter ihr her wie das blutrote Banner von Sarand. Sie verzichtete darauf, den Umhang wieder unter Kontrolle zu bringen, sich vor Bauern und das Licht allein wusste wem noch zu verrenken, also schnitt der Wind durch ihr Reitgewand, ein weiterer Grund für schlechte Laune.
Naean hatte wenigstens den Verstand, das Tempo zu drosseln und sie auf halbem Weg zu treffen, neben zwei schwer beladenen Karren, deren abgeschirrte Deichseln im Dreck lagen. Das nächste Feuer war mindestens zwanzig Schritte entfernt, die nächsten Zelte noch weiter, und ihre Eingänge waren fest gegen die Kälte verschnürt. Die Männer am Feuer richteten ihre Aufmerksamkeit auf den großen Eisenkessel, der über dem Feuer dampfte, und der entströmende Gestank reichte aus, dass sich Elenia am liebsten übergeben hätte, aber wenigstens würde der Wind, der den Geruch heranwehte, keine Wortfetzen bis zu ihnen tragen. Aber es sollten besser wichtige Worte sein.
Man hätte Naean als Schönheit bezeichnen können. Der schwarze Pelz rahmte ein Gesicht so hell wie Elfenbein ein, und es störte nicht einmal der strenge Zug um ihren Mund oder die Augen, die so kalt wie blaues Eis erschienen. Hoch aufgerichtet und nach außen hin ganz ruhig, wirkte sie von allem unberührt. Ihr Atem, der sich in weißen Nebel verwandelte, kam gleichmäßig und beherrscht.
»Wisst Ihr schon, wo Ihr diese Nacht schlafen werdet, Elenia?«, fragte sie.
Elenia gab sich nicht die geringste Mühe, ihren wütenden Blick zu verbergen. »Das wollt Ihr wissen?« Arymillas Zorn für eine hirnlose Frage zu riskieren! Der Gedanke daran, Arymillas Zorn heraufzubeschwören, allein die Vorstellung, dass Arymillas Zorn etwas war, dem sie aus dem Weg gehen musste, ließ sie fauchen. »Da wisst Ihr so viel wie ich, Naean.« Sie zog an den Zügeln und wollte gerade ihr Pferd herumreißen, als Naean erneut das Wort ergriff, diesmal mit einer Spur Leidenschaft.
»Spielt mir nicht die Dumme vor, Elenia. Und erzählt mir nicht, dass Ihr nicht genauso wie ich bereit seid, Euch den eigenen Fuß abzubeißen, um aus dieser Falle herauszukommen. Können wir jetzt wenigstens so tun, als wären wir höflich zueinander?«
Elenia hielt Morgenwind halb von der anderen Frau abgewandt und sah sie von der Seite an, vorbei an dem pelzverbrämten Saum ihrer Kapuze. So konnte sie auch die Männer im Auge behalten, die sich ums Feuer drängten. Hier waren keine Haus-Abzeichen zu sehen. Sie konnten zu jedem gehören. Gelegentlich warf einer der Burschen, die ihre Hände unter die Achseln geschoben hatten, den beiden Ladys im Sattel einen Blick zu, aber ihr wahres Interesse galt dem Feuer und wie lange es dauern würde, bis das Rindfleisch zu so etwas wie Brei zerkochte. Solche Männer schienen alles essen zu können.
»Glaubt Ihr, Ihr könnt entkommen?«, fragte sie leise.
Höflichkeit war schön und gut, aber nicht, wenn es bedeutete, sich hier länger als nötig allen Blicken preiszugeben. Aber wenn Naean einen Ausweg sah... »Wie? Das Treuegelöbnis, das Ihr unterzeichnet habt, um Marne zu unterstützen, ist mittlerweile in halb Andor verteilt worden. Davon abgesehen glaubt Ihr ja wohl kaum, dass Arymilla Euch so ohne weiteres abreisen lassen wird.« Naean zuckte zusammen, und Elenia konnte ein schmales Lächeln nicht unterdrücken. Die Frau war nicht so unbeteiligt, wie sie zu sein vorgab. Aber sie schaffte es immerhin, ihre Stimme ganz ruhig klingen zu lassen.
»Ich habe gestern Jarid gesehen, Elenia, und selbst aus einiger Entfernung sah er aus wie eine Gewitterwolke — er galoppierte daher, als wollte er dem Pferd und sich selbst den Hals brechen. Wie ich Euren Mann kenne, plant er bereits etwas, um Euch aus dieser Sache herauszuholen. Für Euch würde er dem Dunklen König ins Auge spucken.« Das stimmte; das würde er. »Ich bin sicher, Euch ist klar, dass es viel besser wäre, wenn ich Teil dieser Pläne wäre.«
»Mein Mann hat dasselbe Gelöbnis unterzeichnet wie Ihr, Naean, und er ist ein ehrenhafter Mann.« Tatsächlich war er ehrenhafter, als gut für ihn war, aber Elenias Wünsche waren schon vor ihrem Austausch des Ehegelübdes sein Antrieb gewesen. Jarid hatte das Dokument unterschrieben, weil sie es ihm gesagt hatte — nicht dass sie unter diesen Umständen eine andere Wahl gehabt hätte, und sollte sie verrückt genug sein, ihn darum zu bitten, würde er sich wieder davon distanzieren, wenn auch zögernd. Natürlich bestand im Augenblick die Schwierigkeit darin, ihm ihre Wünsche mitzuteilen. Arymilla sorgte dafür, dass sie nicht einmal auf eine Meile in seine Nähe kam. Sie hatte alles in der Hand — soweit das unter diesen Umständen möglich war —, aber sie musste Jarid Bescheid geben, und wenn auch nur, um ihn davon abzuhalten, ihr »einen Weg freizukämpfen«. Dem Dunklen König ins Auge spukken? Er konnte sie beide ins Verderben führen in dem Glauben, ihr zu helfen, und möglicherweise tat er es sogar in dem Wissen, dass es ihren Untergang bedeutete.
Es erforderte eine beträchtliche Anstrengung, sich die ganze Frustration und Wut, die plötzlich in ihr aufwallte, nicht anmerken zu lassen, aber sie überspielte die Mühe mit einem Lächeln. Sie war sehr stolz darauf, das für jede Situation passende Lächeln aufsetzen zu können. Das hier zeigte eine Spur von Überraschung. Und einen Hauch Geringschätzung. »Ich plane gar nichts, Naean, und Jarid auch nicht, da bin ich mir sicher. Aber selbst wenn ich es täte, warum sollte ich Euch mit einschließen?«
»Wenn ich nicht an diesen Plänen beteiligt werde, könnte Arymilla davon erfahren«, sagte Naean ganz direkt.
»Sie mag ja eine blinde Närrin sein, aber sie sieht, sobald man ihr gesagt hat, wo sie hinsehen muss. Und Ihr könntet Euch jeden Abend im Zelt Eures ›Verlobten‹ wieder finden, ganz zu schweigen davon, von seinen Waffenmännern beschützt zu werden.«
Elenias Lächeln schmolz dahin, ihre Stimme verwandelte sich in Eis, das zu der Kälte passte, die plötzlich ihren Leib füllte. »Ihr solltet vorsichtig sein mit dem, was Ihr sagt, andernfalls könnte Arymilla ihren Taraboner bitten, noch einmal mit Euch Katzenkrippe zu spielen. Das garantiere ich Euch.«
Es erschien unmöglich, dass Naeans Gesicht noch blasser wurde, aber das tat es. Sie schwankte tatsächlich im Sattel und griff nach Elenias Arm, als wollte sie einen Sturz vermeiden. Ein Windstoß blähte ihren Umhang auf, und sie ließ ihn los. Die eben noch kalten Augen waren jetzt weit aufgerissen. Die Frau unternahm keine Anstrengung, ihre Furcht zu verbergen. Vielleicht war sie bereits zu weit getrieben worden, um sie noch verbergen zu können. Ihre Stimme klang panisch. »Ich weiß, dass Jarid und Ihr etwas geplant habt, Elenia. Ich weiß es! Nehmt mich mit, und... und Arawn wird Euch sofort die Treue schwören, sobald ich von Arymilla frei bin.« Oh, sie musste erschüttert sein, um so ein Angebot zu machen.
»Wollt Ihr noch mehr Aufmerksamkeit erregen, als Ihr es ohnehin schon getan habt?«, fauchte Elenia und riss sich aus dem Griff der anderen Frau los. Morgenwind und der schwarze Wallach tänzelten nervös, weil jeder die Stimmung seiner Reiterin spürte, und Elenia zügelte ihr Pferd hart, um es zur Ruhe zu bringen. Die Männer am Feuer senkten eilig die Köpfe. Sie glaubten, zwei in der Abenddämmerung streitende Adlige zu sehen, und hatten kein Interesse, einen Teil des Zorns auf sich heraufzubeschwören. Ja, mehr steckte bestimmt nicht dahinter. Sie würden vielleicht Geschichten verbreiten, aber sie wussten es besser, als sich in eine Auseinandersetzung Höhergestellter einzumischen.
»Ich habe keine... Fluchtpläne, nicht im Mindesten«, sagte Elenia mit ruhigerer Stimme. Sie zog den Umhang enger um den Körper und drehte gelassen den Kopf, um die Karren und Zelte zu inspizieren. Wenn Naean verängstigt genug war... Wenn sich ein Ausweg auftat... Niemand war nahe genug, um sie zu belauschen, aber sie senkte ihre Stimme trotzdem. »Natürlich können sich Dinge ändern. Wer weiß das schon? Falls sie es tun, gebe ich Euch das folgende Versprechen: Unter dem Licht und bei meiner Hoffnung auf Wiedergeburt werde ich nicht ohne Euch gehen.« Überraschte Hoffnung zeichnete sich auf Naeans Gesicht ab. Jetzt war der Zeitpunkt gekommen, den Haken einzuschlagen. »Falls ich einen Brief von Euch in der Hand halte, von Euch persönlich geschrieben, unterschrieben und versiegelt, in dem Ihr Euren Beistand für Marne ausdrücklich zurücknehmt, aus freiem Willen, und mir die Unterstützung von Haus Arawn schwört, für meine Thronbesteigung. Unter dem Licht und bei Eurer Hoffnung auf Wiedergeburt. Weniger kommt nicht in Frage.«
Naean riss den Kopf zurück, sie fuhr mit der Zungenspitze über die Lippen. Ihre Augen huschten umher, als würde sie einen Ausweg suchen... oder Hilfe. Der schwarze Wallach tänzelte und schnaubte weiter, aber sie zügelte ihn kaum fest genug, um ihn zu bändigen, und selbst das tat sie unbewusst. Ja, sie hatte Angst. Aber sie war nicht zu verängstigt, um zu wissen, was Elenia da verlangte. In der Geschichte von Andor gab es zu viele Beispiele, um es nicht zu wissen. Solange es nichts Schriftliches gab, blieben tausend Möglichkeiten bestehen, aber die bloße Existenz eines solchen Briefes würde Naean den Mund stopfen und Elenia freie Hand geben. Eine Veröffentlichung bedeutete Naeans Vernichtung, es sei denn, Elenia wäre so töricht und würde zugeben, sie dazu gezwungen zu haben. Naean konnte nach dieser Enthüllung weiterhin versuchen, die Macht in den Händen zu halten, doch selbst ein Haus mit weniger Streit zwischen seinen Angehörigen als Arawn, mit bedeutend weniger Cousins und Tanten und Onkeln, die alle bereit waren, einander auf der Stelle zu hintergehen, würde daran zerbrechen. Die bedeutungsloseren Häuser, die seit Generationen an Arawn gebunden waren, würden anderswo Schutz suchen. In nur wenigen Jahren würde Naean die Hohe Herrin eines unbedeutenden und in Misskredit gebrachten Hauses sein. O ja, es war schon zuvor passiert.
»Wir waren lange genug zusammen.« Elenia nahm die Zügel. »Ich will keinen Klatsch auslösen. Vielleicht bietet sich uns ja noch eine andere Gelegenheit für ein Gespräch unter vier Augen, bevor Arymilla den Thron besteigt.« Welch widerwärtiger Gedanke! »Vielleicht.«
Die andere Frau atmete aus, als würde sämtliche Luft aus ihr herausströmen, aber Elenia lenkte ihr Pferd weiter herum, nicht zu langsam und auch nicht zu schnell, und hörte nicht auf, bis Naean drängend sagte: »Wartet!«
Sie sah über die Schulter und wartete, ohne ein Wort zu verlieren. Was gesagt werden musste, war gesagt worden. Jetzt blieb nur noch abzuwarten, ob die Frau verzweifelt genug war, sich in Elenias Hände zu begeben. Eigentlich musste sie es sein. Sie hatte keinen Jarid, der für sie arbeitete. Tatsächlich würde jeder in Arawn, der die Meinung vertrat, Naean müsste gerettet werden, sich im Kerker wieder finden, weil er gegen ihren ausdrücklichen Willen handelte. Ohne Elenia würde sie in der Gefangenschaft alt und grau werden. Aber mit dem Brief würde es eine andere Art von Gefangenschaft sein. Mit dem Brief würde Elenia in der Lage sein, sie wie eine völlig unabhängige Frau erscheinen zu lassen. Offenbar war sie schlau genug, um das zu begreifen. Oder vielleicht hatte sie auch einfach nur genug Angst vor dem Taraboner.
»Ich lasse ihn Euch zukommen, so schnell es geht«, sagte sie schließlich resigniert.
»Das ist gut«, murmelte Elenia und gab sich keine große Mühe, ihre Zufriedenheit zu verbergen. Aber wartet nicht zu lange, fügte sie beinahe hinzu und konnte sich gerade noch rechtzeitig im Zaum halten. Naean mochte geschlagen sein, aber auch ein geschlagener Gegner konnte einem ein Messer in den Rücken jagen, wenn man ihn zu sehr verhöhnte. Davon abgesehen fürchtete sie Naeans Drohung so sehr, wie Naean die ihre fürchtete. Vielleicht noch mehr. Aber so lange Naean das nicht wusste, fehlte ihrem Dolch die Spitze.
Als Elenia zu ihren Waffenmännern zurückritt, war sie fröhlicherer Stimmung als seit... Mit Sicherheit bevor sich ihre »Retter« als Arymillas Männer entpuppt hatten. Vielleicht sogar bevor Dyelin sie in Aringill eingesperrt hatte, obwohl sie dort nie die Hoffnung verloren hatte. Ihr Gefängnis war das Haus des Statthalters gewesen, recht bequem, selbst wenn sie sich ihr Gemach mit Naean hatte teilen müssen. Mit Jarid in Verbindung zu treten war nicht schwer gewesen, und sie war der festen Überzeugung, ein paar Kontakte zu den Königlichen Gardisten in Aringill geknüpft zu haben. So viele von ihnen waren eben erst aus Cairhien gekommen, dass sie... unsicher... waren, wem sie die Treue halten sollten.
Diese wunderbar zufällige Begegnung mit Naean verbesserte ihre Laune so sehr, dass sie Janny anlächelte und ihr einen Schrank voller neuer Kleider versprach, sobald sie in Caemlyn waren. Was der Frau mit den pummeligen Wangen ein dankbares Lächeln entlockte. Elenia kaufte für ihre Zofe immer neue Kleider, wenn sie sich besonders gut fühlte, und ein jedes davon war kostbar genug, um von einer wohlhabenden Kauffrau getragen zu werden. Es war eine Methode, sich Loyalität und Diskretion zu versichern, und Janny hatte zwanzig Jahre mit beidem gedient.
Die Sonne war jetzt nur noch ein roter Bogen über den Bäumen, und es war Zeit, Arymilla zu finden, damit sie erfuhr, wo sie in dieser Nacht zu schlafen hatte. Sollte das Licht gewähren, dass es ein anständiges Bett war, in einem warmen Zelt, das nicht zu verräuchert war, und vorher eine ordentliche Mahlzeit. Im Moment konnte sie nicht mehr verlangen. Aber nicht einmal das konnte ihr die Laune verderben. Sie nickte den Männern und Frauen, an denen sie vorbeiritt, nicht nur zu, sie lächelte sie sogar an. Beinahe hätte sie ihnen zugewunken. Die Dinge entwickelten sich besser als seit langem. Naean war nicht nur als Rivalin für den Thron ausgeschaltet, sie war angeleint und musste wie eine Hündin kuschen — jedenfalls so gut wie —, und das würde vermutlich — nein, bestimmt! — ausreichen, um Karind und Lir auf ihre Seite zu bringen. Und dann waren da jene, die jeden auf dem Thron akzeptieren würden, solange es keine Trakand war. Ellorien gehörte dazu. Morgase hatte sie auspeitschen lassen! Ellorien würde niemals eine Trakand akzeptieren. Aemlyn, Arathelle und Abelle waren ebenfalls mögliche Kandidaten, mit eigenen Schwächen, die man ausnutzen konnte. Vielleicht auch Pelivar oder Luan. Sie hatte ihre Fühler ausgestreckt. Und sie würde den Vorteil, der Caemlyn bot, nicht so verschwenden, wie es dieser Trampel Elayne tat. Die Vergangenheit hatte gezeigt, dass die Kontrolle über Caemlyn ausreichte, um mindestens die Unterstützung von vier, wenn nicht sogar fünf Häusern zu erringen.
Es kam darauf an, den richtigen Zeitpunkt zu erkennen! Das auf jeden Fall, oder Arymilla würde den Vorteil ausnützen, aber Elenia konnte sich bereits auf dem Löwenthron sehen, während die Hohen Herrinnen und Herren das Knie beugten, um ihr die Treue zu schwören. Sie hatte bereits eine Liste gemacht, wer davon ausgetauscht werden musste. Niemand, der gegen sie gekämpft hatte, würde Gelegenheit erhalten, ihr später Ärger zu machen. Dafür würde eine Reihe tragischer Unfälle sorgen. Zu bedauerlich, dass sie die Nachfolger nicht bestimmen konnte, aber Unfälle konnten mit unglaublicher Häufigkeit passieren.
Elenias Heiterkeit verflüchtigte sich, als sich ein hagerer Mann auf einem stämmigen grauen Pferd an ihre Seite setzte, dessen Augen im schwindenden Licht einen fiebrigen Glanz hatten. Aus irgendeinem Grund hatte Nasin grüne Tannenzweige in seinem dünnen weißen Haar stecken. Es ließ ihn aussehen, als wäre er einen Baum hinaufgeklettert, und sein roter Seidenmantel und der rote Umhang waren derart mit hellen Blüten bestickt, dass man sie für Teppiche aus Illian hätte halten können. Er war lächerlich. Aber er war auch der Hohe Herr des mächtigsten Hauses von Andor. Und er war wahnsinnig. »Elenia, mein lieber Schatz«, röhrte er und spuckte dabei. »Welch süßer Anblick für meine Augen. Ihr lasst Honig bitter und Rosen farblos erscheinen.«
Mechanisch zügelte sie Morgenwind und sorgte dafür, dass sich Jannys braune Stute zwischen sie schob. »Ich bin nicht Eure Verlobte, Nasin«, fauchte sie und kochte innerlich vor Wut, es laut genug sagen zu müssen, sodass es jeder hören konnte. »Ich bin verheiratet, Ihr alter Narr! Wartet!«, fügte sie hinzu und riss die Hand hoch.
Der Befehl und die Geste galten den Waffenmännern, die nach den Schwertern griffen und Nasin finster anstarrten. Etwa dreißig oder vierzig Männer mit Schwert und Stern von Haus Caeren folgten dem Mann, und sie würden nicht zögern, jeden niederzumachen, den sie für eine Bedrohung ihres Hohen Herrn hielten. Einige hatten bereits die Schwerter zur Hälfte gezogen. Ihr würden sie natürlich nichts tun. Nasin hätte sie alle hängen lassen, wenn sie auch nur einen blauen Fleck aufweisen würde. Beim Licht, sie wusste nicht, ob sie darüber lachen oder weinen sollte.
»Fürchtet Ihr Euch noch immer vor diesem jungen Narren Jarid?«, wollte Nasin wissen und zügelte sein Pferd, um ihr zu folgen. »Er hat kein Recht, Euch länger zu belästigen. Der bessere Mann hat gewonnen, und er sollte es akzeptieren. Ich werde ihn herausfordern!« Mit einer Hand, die unter dem eng anliegenden roten Handschuh wohl ebenfalls knochig war, fummelte er an einem Schwert herum, das er vermutlich seit zwanzig Jahren nicht mehr gezogen hatte. »Ich werde ihn wie einen Hund abstrecken, weil er Euch Angst gemacht hat!«
Elenia trieb Morgenwind energisch an, sodass sie einen Kreis um Janny ritten, die zu Nasin Entschuldigungen murmelte und vorgab, ihr Pferd aus dem Weg zu schaffen, während sie es tatsächlich immer zwischen ihnen hielt. Im Geiste fügte Elenia ein paar Stickereien für die Kleider hinzu, die sie kaufen würde. So hohlköpfig Nasin auch war, er konnte in dem einen Augenblick süße Worte höfischer Liebe von sich geben und sie im nächsten angrabschen, als wäre sie ein billiges Tavernenflittchen. Das würde sie nicht ertragen, nicht noch einmal, und mit Sicherheit nicht in der Öffentlichkeit. Weiter kreisend zwang sie ein besorgtes Lächeln auf ihr Gesicht, obwohl das Lächeln ehrlich gesagt mehr Mühe kostete als die Sorge. Wenn dieser alte Narr Jarid zwang, ihn zu töten, würde das alles ruinieren! »Ihr wisst, dass ich es nicht ausstehen kann, wenn Männer um mich kämpfen, Nasin.« Ihre Stimme war atemlos und besorgt, aber sie versuchte nicht, gelassener zu klingen. Atemlos und besorgt passten. »Wie könnte ich einen Mann mit Blut an den Händen lieben?«
Nasin sah sie so lange mit starrem Blick an, dass sie sich fragte, ob sie zu weit gegangen war. Er war so verrückt wie ein Märzhase, aber nicht in jeder Hinsicht. Nicht immer.
»Mir war nicht klar, dass Ihr so... feinfühlig seid«, sagte er schließlich, ohne in seinen Bemühungen innezuhalten, um Janny herumzureiten. Sein verhärmtes Gesicht hellte sich auf. »Aber ich hätte es wissen sollen. Von jetzt an werde ich daran denken. Jarid darf leben. Solange er Euch nicht behelligt.« Plötzlich schien er Janny das erste Mal richtig wahrzunehmen, und mit einer gereizten Grimasse hob er die Hand und ballte sie zur Faust. Die pummelige Frau stählte sich sichtlich für den Schlag, ohne zur Seite zu weichen, und Elenia biss die Zähne zusammen. Seidenstickereien. Definitiv unpassend für eine Zofe, aber Janny hatte es sich verdient.
»Lord Nasin, ich habe Euch schon überall gesucht«, rief da eine affektierte Frauenstimme, und das Kreisen hörte auf.
Elenia atmete erleichtert auf, als Arymilla mit ihrem Gefolge herangeritten kam, und musste erneut ihre Wut darüber unterdrücken, dass sie Erleichterung verspürte. Arymilla war eine pummelige Frau, fast schon korpulent, sie war in viel zu aufwändig verzierte grüne Seide gekleidet, mit Spitzenbesatz unter dem Kinn und an den Ärmeln; sie hatte ein ausdrucksloses Lächeln und braune Augen, die stets weit aufgerissen Interesse vortäuschten, wenn es gar nichts Bemerkenswertes gab. Ihr fehlte der Verstand, um den Unterschied zu erkennen, sie war gerade schlau genug, um zu wissen, dass es Dinge gab, die sie interessieren sollten, und sie wollte nicht, dass jemand auf die Idee kam, sie wären ihr entgangen. Ihre einzige echte Sorge galt der eigenen Bequemlichkeit und dem dazu nötigen Einkommen, und sie wollte den Thron nur aus dem Grund, weil die Königliche Schatzkammer für mehr Luxus sorgen konnte als die Einkünfte einer Hohen Herrin. Ihr Gefolge war größer als Nasins, aber nur die Hälfte bestand aus Waffenmännern, die die Vier Monde ihres Hauses trugen. Der Rest bestand größtenteils aus Speichelleckern, unwichtigen Lords und Ladys bedeutungsloser Häuser und anderen, die bereit waren, Arymilla für eine Stellung bei Hofe das Handgelenk zu lecken. Sie liebte es, wenn die Leute um sie herumscharwenzelten. Naean war auch da, am Rand der Gruppe mit ihren Waffenmännern und der Dienerin, allem Anschein nach hatte sie sich wieder völlig unter Kontrolle. Aber sie hielt Abstand zu Jaq Lounalt, einem schlanken Mann mit einem albernen tarabonischen Schleier, der seinen gewaltigen Schnurrbart bedeckte, und einer konisch geformten Kappe, die seine Kapuze zu lächerlichen Höhen ausbeulte. Auch dieser Bursche lächelte zu viel. Er sah kaum wie ein Mann aus, der einen nur mit ein paar Strikken zum Betteln und Flehen bringen konnte.
»Arymilla«, sagte Nasin verwirrt, dann starrte er seine Faust an, als würde es ihn überraschen, sie erhoben vorzufinden. Er senkte die Hand zum Sattelknauf und strahlte die alberne Frau an. »Arymilla, meine Liebe«, sagte er warmherzig. Nicht mit der Art von Wärme, die Elenia vorbehalten war. Es hatte den Anschein, als hätte er sich irgendwie zur Hälfte davon überzeugt, dass Arymilla seine Tochter war, und zwar seine Lieblingstochter, was das anging. Elenia war einmal Zeugin gewesen, wie er mit ihr lang und breit in Erinnerungen an ihre »Mutter« geschwelgt hatte, seine letzte Frau, die mittlerweile über dreißig Jahre tot war. Arymilla war es gelungen, ihren Teil dieser Unterhaltung zu bestreiten, obwohl sie Miedelle Caeren nie begegnet war, soweit Elenia wusste.
Trotz seiner väterlichen Miene für Arymilla musterte er die Horde hinter ihr, und sein Ausdruck entspannte sich, als er Sylvase entdeckte, seine Enkelin und Erbin, eine kräftige, gelassene junge Frau, die seinen Blick ohne zu lächeln erwiderte und dann ihre pelzverbrämte Kapuze nach vorn zog. Elenia hatte sie noch nie lächeln oder die Stirn runzeln oder sonst eine Gefühlsregung bei ihr gesehen, sie behielt immer den gleichen kuhähnlichen Ausdruck bei. Offensichtlich hatte sie auch den Verstand einer Kuh. Arymilla hielt Sylvase näher bei sich als Elenia oder Naean, und so lange sie das tat, gab es nicht die geringste Chance, dass man Nasin zum Rücktritt zwingen konnte. Er war verrückt, keine Frage, aber durchtrieben. »Ich hoffe, Ihr gebt gut auf meine kleine Sylvase Acht, Arymilla«, murmelte er.
»Überall sind Glücksjäger, und ich will, dass mein kleiner Schatz sicher ist.«
»Aber natürlich«, erwiderte Arymilla und lenkte ihre überfütterte Stute an Elenia vorbei, ohne sie eines Blickes zu würdigen. Ihr Tonfall war honigsüß und widerwärtig kindisch. »Ihr wisst, dass ich auf sie aufpasse wie auf mich selbst.« Hohlköpfig lächelnd fing sie an, Nasins Umhang auf seinen Schultern zu richten und glättete ihn mit dem Benehmen von jemandem, der einem geliebten Invaliden einen Schal umband. »Es ist viel zu kalt für Euch. Ich weiß, was Ihr braucht. Ein warmes Zelt und heißen gewürzten Wein. Ich lasse ihn für Euch von meiner Zofe zubereiten, keine Widerrede. Arlene, begleite Lord Nasin zu seinem Zelt und mache ihm einen schönen gewürzten Wein.«
Eine schlanke Frau aus ihrem Gefolge zuckte erschrokken zusammen und ritt dann zögernd vor, schob die Kapuze ihres Umhangs zurück und enthüllte ein hübsches Gesicht und ein zittriges Lächeln. Plötzlich waren alle Speichellecker und Krötenfresser damit beschäftigt, ihre Umhänge zu richten oder die Handschuhe fester zu ziehen; sie sahen überall hin, nur nicht zu Arymillas Zofe. Vor allem die Frauen nicht. Jede von ihnen hätte auserwählt werden können, und das wussten sie. Seltsamerweise schaute Sylvase nicht weg. Es war unmöglich, ihr Gesicht im Schatten der Kapuze zu erkennen, aber die Öffnung bewegte sich und folgte der schlanken Frau.
Nasins Grinsen entblößte seine Zähne, was ihn noch mehr als gewöhnlich wie einen Ziegenbock aussehen ließ.
»Ja. Ja, gewürzter Wein wäre gut. Arlene, richtig? Kommt, Arlene, seid ein braves Mädchen. Euch ist doch nicht kalt, oder?« Das Mädchen stieß einen spitzen Schrei aus, als er ihr seinen Umhang über die Schultern schwang und sie so eng an sich zog, dass sie sich auf ihrem Sattel vorbeugen musste. »In meinem Zelt wird Euch warm sein, das verspreche ich.« Ohne auch nur einen Blick zurückzuwerfen, ritt er im Schritttempo los, kicherte vor sich hin und flüsterte der jungen Frau im Arm etwas zu. Seine Waffenmänner folgten ihm mit quietschendem Leder und dem langsamen, feuchten Schlag von Hufen im Schlamm. Einer von ihnen lachte, als hätte ein anderer einen Witz gemacht.
Elenia schüttelte angewidert den Kopf. Eine hübsche Frau in Nasins Richtung zu stoßen, um ihn abzulenken, war eine Sache — sie musste nicht mal besonders hübsch sein; jede Frau, die der alte Narr in eine Ecke treiben konnte, war in Gefahr —, aber die eigene Zofe zu nehmen war widerwärtig. Wenn auch nicht so widerwärtig wie Nasin selbst. »Ihr habt versprochen, ihn mir vom Hals zu halten, Arymilla«, sagte sie mit leiser, angespannter Stimme. Der geile alte Verrückte mochte sie ja für den Augenblick vergessen haben, aber er würde sich sofort an sie erinnern, wenn er sie das nächste Mal sah. »Ihr habt es mir versprochen.«
Arymillas Miene nahm einen mürrischen Zug an, und sie zupfte verdrossen an ihren Reithandschuhen herum. Sie hatte nicht das bekommen, was sie gewollt hatte. Für sie war das eine große Sünde. »Wenn Ihr vor Verehrern sicher sein wollt, solltet Ihr in meiner Nähe bleiben, statt herumzuwandern. Ist es meine Schuld, wenn Ihr die Männer anzieht? Und ich habe Euch gerettet. Dafür habe ich keinen Dank gehört.«
Elenia biss die Zähne so fest zusammen, dass ihr Kiefer schmerzte. So tun zu müssen, als würde sie diese Frau aus eigenem Willen unterstützen, entfachte in ihr den Wunsch, etwas zu beißen. Man hatte ihr ihre Möglichkeiten überaus deutlich erklärt. Entweder einen Brief an Jarid oder eine längere Hochzeitsreise zusammen mit ihrem »Verlobten«.
Beim Licht, sie hätte es darauf ankommen lassen, wäre nicht klar gewesen, dass Nasin sie in irgendeinem abgelegenen Herrenhaus einsperren und — nachdem sie seine Fummeleien über sich hatte ergehen lassen müssen — schließlich vergessen würde. Aber Arymilla bestand auf dieser Scharade. Sie bestand auf vielen Dingen, und einige davon waren völlig unerträglich. Und doch musste man sie ertragen. Für den Augenblick. Vielleicht konnte ja Meister Lounalt ein paar Tage lang seine Kunst Arymilla widmen, sobald die Dinge geregelt waren.
Irgendwoher nahm sie ein entschuldigendes Lächeln und überwand sich, den Kopf zu senken wie einer der stiefelleckenden Blutsauger, die sie neugierig beobachteten. Denn wenn sie vor Arymilla kroch, dann bewies das nur, dass sie auch das Richtige taten. Das Gefühl ihrer Blicke auf dem Körper ließ sie sich nach einem Bad sehnen. Dies vor Naean tun zu müssen wollte sie schreien lassen. »Ich biete Euch alle Dankbarkeit, die in mir ist, Arymilla.« Nun, das war keine Lüge. Alle Dankbarkeit in ihr zusammengenommen entsprach dem Wunsch, die Frau zu erwürgen. Ganz langsam. Aber sie musste tief Luft holen, bevor sie die nächsten Worte herausbekam. »Ihr müsst mir verzeihen, dass ich so langsam bin, bitte.« Ein sehr bitteres Wort.
»Nasin hat mich durcheinander gebracht. Ihr wisst, wie Jarid reagieren würde, wenn er von Nasins Benehmen erfährt.« Bei den letzten Worten nahm ihr Tonfall an Schärfe zu, aber die närrische Frau kicherte. Sie kicherte!
»Aber natürlich verzeihe ich Euch, Elenia«, lachte sie, und ihre Miene hellte sich auf. »Ihr braucht doch bloß zu fragen. Jarid ist ein Hitzkopf, nicht wahr? Ihr müsst ihm schreiben und ihm berichten, wie zufrieden Ihr seid. Ihr seid doch zufrieden, oder? Ihr könnt meinem Sekretär diktieren. Ich hasse es, mir die Finger mit Tinte schmutzig zu machen, Ihr nicht auch?«
»Aber sicher bin ich zufrieden, Arymilla. Wie könnte ich es nicht sein?« Diesmal erforderte das Lächeln keine Mühe. Die Frau glaubte doch allen Ernstes, sie sei clever. Wenn Arymillas Sekretär den Brief schrieb, bestand keine Möglichkeit, Geheimtinte zu nehmen, aber sie konnte Jarid ganz offen befehlen, absolut nichts ohne ihren vorherigen Rat zu unternehmen, und die hirnlose dumme Kuh würde glauben, dass sie brav gehorchte.
Arymilla nickte selbstzufrieden und nahm die Zügel, und ihr Gefolge tat es ihr gleich. Hätte sie sich einen Topf auf den Kopf gesetzt und ihn Hut genannt, hätten auch sie alle Töpfe getragen. »Es wird spät«, sagte sie, »und ich will morgen früh raus. Aedelle Baryns Koch hat ein ausgezeichnetes Mahl für uns vorbereitet. Ihr und Naean müsst mit mir reiten, Elenia.« Sie ließ es klingen, als würde sie ihnen damit eine Ehre erweisen, und sie hatten keine andere Wahl, als sich so zu verhalten, als wäre das der Fall. Sie ritten neben sie. »Und Sylvase natürlich. Sylvase, kommt mit.«
Nasins Enkelin brachte ihre Stute näher heran, jedoch nicht an Arymillas Seite. Sie blieb ein Stück zurück, während Arymillas Speichellecker sich an ihre Fersen hefteten, da sie nicht eingeladen worden waren, mit ihrer Herrin zu reiten. Trotz des böigen, eiskalten Windes, der an ihren Umhängen zerrte, bemühten sich mehrere der Frauen und zwei oder drei der Männer vergeblich, das Mädchen in eine Unterhaltung zu verwickeln. Sie sprach kaum zwei zusammenhängende Worte. Aber da keine Hohe Herrin in der Nähe war, die man mit Schmeicheleien beeindrucken konnte, würde es die Erbin eines Hohen Herren auch tun, und vielleicht hoffte ja einer der Burschen, eine gute Partie zu machen. Vermutlich waren ein paar von ihnen Leibwächter oder zumindest Spione, die dafür sorgten, dass sie nicht mit einem Mitglied ihres Hauses in Verbindung trat. Dieser Haufen würde das aufregend finden, ein Kontakt mit den Ausläufern der Macht. Elenia hatte ihre eigenen Pläne für Sylvase.
Arymilla gehörte ebenfalls zu den Leuten, denen es nicht schwer fiel, ohne Unterbrechung zu plappern, wo sich jeder mit einem Funken Verstand die Kapuze ins Gesicht zog, und während sie durch das sterbende Licht ritten, erstreckte sich ihre Unterhaltung von der Frage, was Lir wohl zum Abendessen servierte, bis hin zu den Plänen für ihre Krönung. Elenia hörte bloß aufmerksam genug zu, um an den scheinbar angebrachten Stellen etwas zu murmeln. Wenn die Närrin allen, die sich gegen sie gestellt hatten, eine Amnestie gewähren wollte, würde Elenia Sarand ihr bestimmt nicht sagen, dass sie dumm war. Es war qualvoll genug, dieser Frau mit... Freundlichkeit begegnen zu müssen, da musste man nicht auch noch zuhören. Dann traf sie einer von Arymillas Sätzen wie der Stich einer Nadel.
»Es wird Euch und Naean doch nicht stören, Euch ein Bett zu teilen, oder? Es hat den Anschein, als hätten wir nicht genügend anständige Zelte.«
Sie plapperte weiter, aber einen Augenblick lang konnte Elenia kein Wort verstehen. Sie fühlte sich, als hätte man ihr Schnee unter die Haut geschoben. Kaum merklich drehte sie den Kopf und begegnete Naeans schockiertem Blick. Es war unmöglich, dass Arymilla von ihrem zufälligen Treffen erfahren haben konnte, nicht so schnell, und selbst wenn doch, warum sollte sie ihnen die Gelegenheit geben, einen Plan zu schmieden? Eine Falle? Spione, die jedes Wort belauschten? Naeans Dienerin, oder... Oder Janny? Die Welt schien sich zu drehen. Vor Elenias Augen tanzten schwarze und silbrige Funken. Sie glaubte in Ohnmacht fallen zu müssen.
Plötzlich wurde ihr bewusst, dass Arymilla sie direkt angesprochen hatte und mit einem zusehends ungeduldiger werdenden Stirnrunzeln auf eine Antwort wartete. Ihre Gedanken rasten. Ja, das war es gewesen. »Eine vergoldete Kutsche, Arymilla?« Welch lächerliche Idee. Da konnte man genauso gut im Wagen eines Kesselflickers fahren!
»Oh, wunderbar! Ihr habt so großartige Einfälle!«
Arymillas erfreutes Lächeln ließ Elenia etwas ruhiger atmen. Die Frau war eine hirnlose Närrin. Vielleicht gab es ja zu wenig Zelte. Aber wahrscheinlicher war, dass sie sie für gezähmt hielt. Elenia machte aus ihren gebleckten Zähnen ein Lächeln. Aber sie verwarf die Idee, den Taraboner die Frau »unterhalten« zu lassen, nicht mal eine Stunde lang. Mit Jarids Unterschrift auf dem Dokument gab es nur einen Weg, wie sie auf den Thron gelangen konnte. Alles stand bereit. Die einzige offene Frage bestand nur noch darin, ob Arymilla oder Naean zuerst sterben sollte.
Die Nacht legte sich bedrückend auf Caemlyn, eiskalt, von scharfen Winden getrieben. Hier und da kündete Lichtschein in Fenstern in oberen Stockwerken von noch wachen Menschen, aber die meisten Schlagläden waren verschlossen, und die Mondsichel tief am Himmel schien die Dunkelheit noch zu betonen. Selbst der Schnee, der die Dächer bedeckte und den man dort, wo er den Aktivitäten des Tages entkommen war, vor den Gebäuden aufgehäuft hatte, erschien von schattenhaftem Grau. Der einsame Mann, der von einem dunklen Umhang verhüllt wurde und durch den gefrorenen Matsch auf dem Pflaster schritt, hörte genauso auf Daved Hanlon wie auf Doilin Mellar; ein Name war nichts anderes als ein Mantel, und ein Mann wechselte den Mantel, wann immer es nötig war. Im Verlauf der Jahre hatte er viele getragen. Wäre es nach seinen Wünschen gegangen, hätte er im Königlichen Palast die Füße vor einem prasselnden Kaminfeuer hochgelegt, einen Krug in der Hand, ein Glas Branntwein neben ihm und ein williges Mädchen auf den Knien, aber er musste die Wünsche anderer erfüllen. Wenigstens waren hier in der Neustadt die Straßen sicherer. Nicht ungefährlich, mit diesem gefrorenen Matsch unter den Sohlen, der ein Ausrutschen in einen Sturz verwandeln konnte, aber hier war es zumindest unwahrscheinlicher als in der Innenstadt, dass einem die Stiefel unter dem Körper fortgerissen wurden. Außerdem passte die nächtliche Dunkelheit zu seiner Stimmung.
Es waren nur wenige Leute in den Straßen unterwegs gewesen, als er aufgebrochen war, und die Zahl hatte sich verringert, als die Dunkelheit immer tiefer geworden war.
Kluge Leute blieben nach Einbruch der Nacht im Haus. Gelegentlich bewegten sich undeutliche Umrisse in den tieferen Schatten, aber nach einem kurzen Blick auf Hanlon schossen sie vor ihm um die nächste Ecke, zogen sich in Gassen zurück und versuchten ihre Flüche zu dämpfen, während sie in Schnee traten, der aller Wahrscheinlichkeit nach nicht von der Sonne berührt worden war. Er war nicht massig und nur wenig größer als die meisten Männer, Schwert und Brustpanzer wurden vom Umhang verborgen, aber Straßenräuber hielten nach Schwächen und Zögern Ausschau, und er bewegte sich mit Entschlossenheit und deutlicher Furchtlosigkeit. Ein Verhalten, das noch von dem langen Dolch verstärkt wurde, den er verborgen in der von einem Panzerhandschuh verhüllten rechten Hand hielt.
Er hielt unterwegs Ausschau nach Patrouillen der Garde, aber er rechnete nicht damit, welchen zu begegnen. Die Straßenräuber und Beutelschneider hätten sich andere Jagdgründe gesucht, wären Gardisten in der Nähe gewesen. Natürlich konnte er neugierige Gardisten mit einem Wort fortschicken, aber er wollte weder Beobachter noch Fragen, was er so weit vom Palast entfernt tat. Sein Schritt geriet ins Stocken, als auf einer vorausliegenden Kreuzung zwei in dicke Umhänge gehüllte Frauen erschienen, aber sie gingen weiter, ohne auch nur einen Blick in seine Richtung zu werfen, und er atmete erleichtert auf. Zu dieser Nachtzeit wagten sich nur sehr wenige Frauen ohne einen Mann mit einem Schwert oder einer Keule auf die Straße, und selbst ohne ihre Gesichter gesehen zu haben, hätte er eine Hand voll Gold gegen einen Pferdeapfel gewettet, dass es sich bei den beiden um Aes Sedai handelte. Oder um andere der seltsamen Frauen, die die meisten Betten im Palast in Beschlag nahmen.
Der Gedanke an den Haufen ließ ihn die Stirn runzeln und ein Jucken zwischen seinen Schulterblättern entstehen, das wie ein Nesselbusch war. Was auch immer da im Palast vor sich ging, es verursachte ihm Magendrücken. Die Frauen vom Meervolk waren schon schlimm genug, und nicht nur, weil sie auf diese verführerische Weise durch die Gänge wiegten und dann einen Mann mit dem Messer bedrohten. Er hatte nicht einmal daran gedacht, einer einen Klaps auf den Hintern zu geben, nachdem ihm klar geworden war, dass sie und die Aes Sedai sich anstarrten wie zwei Katzen, die man in einen Kasten gesetzt hatte. Und offensichtlich — so unmöglich das auch erschien — waren die Frauen vom Meervolk die größeren Katzen. Aber auf gewisse Weise waren die anderen schlimmer. Ganz egal, was man sich auch erzählte, er wusste, wie Aes Sedai aussahen, und sie hatten keine Falten. Trotzdem konnten ein paar von ihnen die Macht lenken, und er hatte den beunruhigenden Eindruck, dass sie es alle konnten. Was aber keinen Sinn ergab. Vielleicht hatte das Meervolk eine besondere Gabe, aber was die Kusinen anging, wie Falion sie nannte, wusste er eines mit Sicherheit: Sollten sich drei Frauen, die die Macht lenken konnten und keine Aes Sedai waren, an denselben Tisch setzen, würden Aes Sedai auftauchen, bevor sie ein Glas Wein trinken konnten, und ihnen den Befehl geben, sofort weiterzuziehen und nie wieder miteinander zu sprechen. Und sie würden dafür sorgen, dass es auch so geschah. Das war eine Tatsache. Aber hier hockten diese Frauen im Palast, über hundert von ihnen, hielten ihre privaten Zusammenkünfte ab und gingen an Aes Sedai vorbei, ohne dass auch nur jemand eine Miene verzog. Zumindest war es bis zum heutigen Tag so gewesen, und was es auch immer gewesen war, was sie wie verängstigte Glucken zusammengetrieben hatte, die Aes Sedai waren genauso besorgt gewesen. Das waren zu viele Merkwürdigkeiten, um ihm zu schmecken. Wenn sich Aes Sedai ungewöhnlich verhielten, dann war für einen Mann die Zeit gekommen, sich um seine eigene Haut zu kümmern.
Mit einem Fluch riss er sich aus seinen Gedanken. In der Nacht musste jeder Mann auf seine Haut aufpassen, und seine Gedanken schweifen zu lassen war nicht die richtige Methode. Wenigstens war er nicht stehen geblieben oder langsamer geworden. Nach ein paar weiteren Schritten lächelte er schmal und fuhr mit dem Daumen über die Dolchklinge. Der Wind flüsterte die Straße entlang und verstummte, er pfiff über die Dächer und verstummte, und in den kurzen stillen Pausen dazwischen konnte er das leise Knirschen von Stiefeln hören, die ihm schon seit kurz nach dem Aufbruch vom Palast folgten.
Bei der nächsten Straßenkreuzung wandte er sich mit dem gleichen gemächlichen Schritt nach rechts und drückte sich dann plötzlich mit dem Rücken gegen die Vorderseite eines Stalls, der direkt an der Ecke stand. Die breiten Stalltore waren geschlossen und vermutlich von innen verriegelt, aber der Geruch von Pferden und Pferdedung hing in der eiskalten Luft. Das Gasthaus auf der gegenüberliegenden Straße war ebenfalls verriegelt und verrammelt, die Fenster mit den Schlagläden verschlossen und dunkel, der einzige Laut außer dem Wind war das Quietschen seines Schildes, das Hanlon in der Nacht nicht entziffern konnte. Niemand war da, um zu sehen, was ihn nichts anging.
Er hörte das Geräusch von Stiefeln, die in dem Bemühen, ihn nicht aus den Augen zu verlieren, schneller ausschritten, und dann schob sich vorsichtig ein von einer Kapuze verhüllter Kopf um die Ecke. Natürlich nicht vorsichtig genug. Hanlons linke Hand zuckte in die Kapuze, um eine Kehle zu umschließen, während zur gleichen Zeit seine rechte einen geübten Stoß mit dem Dolch ausführte. Im Grunde rechnete er mit einem Brustpanzer oder einem Kettenhemd unter dem Mantel des Mannes, aber ein paar Fingerbreit Stahl drangen mühelos unter dem Brustbein des Mannes ein. Er wusste nicht, warum das die Lungen eines Mannes zu lähmen schien, sodass er nicht aufschreien konnte, bis er an seinem eigenen Blut erstickt war, aber er wusste, dass es so war. Doch heute Nacht hatte er keine Zeit. Zwar waren keine Gardisten in Sichtweite, aber das bedeutete nicht, dass es auch so blieb. Mit einem schnellen Ruck schlug er den Kopf des Mannes hart genug gegen die Steinmauer des Stalls, um ihm den Schädel zu spalten, dann trieb er den Dolch bis zum Heft in den Körper und fühlte, wie die Klinge knirschte, als sie die Wirbelsäule des Burschen durchtrennte.
Seine Atmung blieb gleichmäßig — Töten war bloß etwas, das gelegentlich erforderlich war, nichts, weswegen man sich aufregen musste —, aber er setzte die Leiche schnell im Schnee an der Wand ab, ging daneben in die Hocke und wischte die Klinge an dem dunklen Mantel des Mannes ab, während er sich seine andere Hand unter die Achselhöhle klemmte, um den Panzerhandschuh auszuziehen. Er schaute sich schnell nach beiden Seiten um, während er in der Dunkelheit das Gesicht des Mannes abtastete. Bartstoppeln verrieten ihm, dass es ein Mann war, aber mehr auch nicht. Mann, Frau oder Kind, das machte für ihn keinen Unterschied — nur Narren taten so, als hätten Kinder keine Augen im Kopf oder Zungen, die erzählen konnten, was sie gesehen hatten —, aber er wünschte sich, es hätte einen Schnurrbart oder eine dicke Nase gegeben, irgendetwas, um eine Erinnerung in ihm aufblitzen zu lassen und ihm zu verraten, wer der Bursche war. Seine Hand glitt über den Ärmel des Toten und fand dicke Wolle, weder besonders fein noch besonders grob, und einen sehnigen Arm, der einem Schreiber oder Kutscher oder Fußsoldaten gehören mochte. Mit anderen Worten, also jedem Mann, genau wie der Mantel. Hanlon durchwühlte die Taschen des Toten, er fand einen Holzkamm und ein Fadenknäuel, das er zur Seite warf. Am Gürtel des Mannes verharrte er. Dort hing eine leere Lederscheide. Kein Mann auf der Welt hätte mit Hanlons Stahl in der Lunge noch seinen Dolch ziehen können. Natürlich gab es gute Gründe, das Messer gezogen zu tragen, wenn man nachts unterwegs war, aber der Grund, der ihm sofort einfiel, bestand darin, jemanden in den Rücken zu stechen oder eine Kehle durchzuschneiden.
Aber das ließ ihn nur kurz verharren. Er verschwendete keine weitere Zeit mit Spekulationen, sondern schlitzte den Geldbeutel des Burschen auf. Das Gewicht der Münzen, die ihm in die Hand fielen und die er hastig in den eigenen Beutel stopfte, verriet ihm, dass es kein Gold war, vermutlich war nicht mal ein Silberstück dabei. Aber ein aufgeschlitzter Beutel und fehlendes Geld würden denjenigen, der die Leiche fand, auf einen Raubmord schließen lassen. Er erhob sich, zog den Panzerhandschuh an und schritt nur Augenblicke, nachdem er zugestochen hatte, wieder über den mit Schneematsch bedeckten Bürgersteig, den Dolch unter dem Umhang eng an die Seite gehalten und mit misstrauischem Blick. Er entspannte sich erst, als er eine Straße von dem Toten entfernt war, und selbst dann entspannte er sich nicht sehr.
Die meisten Leute, die von dem Verbrechen hörten, würden die Geschichte mit dem Raubmord, die er präsentiert hatte, glauben, aber nicht derjenige, der den Kerl geschickt hatte. Da er ihm vom Palast aus gefolgt war, bedeutete das, dass ihn jemand geschickt hatte, aber wer? Wenn eine vom Meervolk ihm ein Messer in den Leib stoßen wollte, hätte sie es selbst getan. So sehr Hanlon die Kusinen allein schon durch ihre Existenz beunruhigten, schienen sie sich still und unauffällig zu verhalten. Gewiss, Leute, die bewusst keine Aufmerksamkeit erregten, kamen am ehesten dafür in Frage, einen Meuchelmörder in der Nacht zu dingen, aber er hatte mit keiner von ihnen je mehr als drei Worte gewechselt, und mit Sicherheit hatte er nie versucht, eine von ihnen zu betatschen. Die Aes Sedai kamen dafür noch eher in Frage, aber er war ziemlich sicher, nichts getan zu haben, was ihren Argwohn geweckt hätte. Andererseits konnte jede von ihnen ihre eigenen Gründe haben, ihn tot sehen zu wollen. Bei Aes Sedai konnte man nie wissen. Birgitte Trahelion war eine dumme Kuh, die sich allen Ernstes für eine Gestalt aus einer Geschichte zu halten schien, vielleicht war sie sogar die echte Birgitte, falls es je eine Birgitte gegeben hatte, aber es war durchaus möglich, dass sie ihn als Bedrohung für ihre Position betrachtete. Sie mochte ja ein Flittchen sein, so wie sie in ihren Hosen durch die Korridore tänzelte, aber sie hatte einen kalten Blick. Sie hätte ohne zu blinzeln den Befehl geben können, jemandem die Kehle durchzuschneiden. Aber die letzte Möglichkeit war jene, die ihn am meisten besorgte. Seine eigenen Herren gehörten nicht zu den vertrauensseligsten aller Menschen und waren auch nicht besonders vertrauenswürdig. Und Lady Shiaine Avarhin, die ihm im Augenblick die Befehle gab, war diejenige gewesen, die ihn in dieser Nacht zu sich gerufen hatte. Wo zufällig ein Kerl mit einem Messer in der Hand auf ihn wartete. Er glaubte nicht an Zufälle, ganz egal, was die Leute über diesen al'Thor sagten.
Der Gedanke, zum Palast zurückzukehren, kam und verging wieder blitzartig. Er hatte Gold versteckt; er konnte einen Weg durch das Tor genauso leicht bezahlen wie jeder andere auch, oder einfach den Befehl geben, eines lange genug zu öffnen, damit er hinausreiten konnte. Aber das würde bedeuten, den Rest seines Lebens über die Schulter blicken zu müssen, und jeder, der auf Armlänge an ihn herankam, konnte derjenige sein, der ausgesandt worden war, ihn zu töten. Kein großer Unterschied zu seiner jetzigen Lebensweise. Abgesehen von der Sicherheit, dass ihm jemand früher oder später Gift in die Suppe streuen oder ein Messer zwischen die Rippen jagen würde. Aber die Hexe Birgitte war die Hauptverdächtige. Oder eine Aes Sedai. Oder vielleicht hatte er diese Kusinen ja doch irgendwie beleidigt. Es zahlte sich immer aus, auf der Hut zu sein. Seine Finger spannten sich um den Dolchgriff. Im Augenblick war das Leben gut, mit ordentlichen Annehmlichkeiten und vielen Frauen, die von einem Hauptmann der Garde beeindruckt waren oder sich von ihm einschüchtern ließen, andererseits war ein Leben auf der Flucht dem Tod an Ort und Stelle deutlich vorzuziehen.
Es war nicht einfach, die richtige Straße und erst recht das richtige Haus zu finden — in der Dunkelheit sah eine Seitengasse so aus wie die andere —, aber er gab sich Mühe und pochte schließlich an die Tür eines hohen, im Schatten liegenden Gebäudes, das einem wohlhabenden, aber diskreten Kaufmann hätte gehören können. Er wusste jedoch, dass dem nicht so war. Avarhin war ein kleines Adelshaus, einige hielten es sogar für ausgestorben, aber es gab noch eine Tochter, und Shiaine hatte Geld.
Einer der Türflügel schwang auf, und er riss die Hand hoch, um sich vor dem plötzlichen Lichtglanz zu schützen.
Die linke Hand; den Dolch in der rechten hielt er verborgen und bereit. Er blinzelte durch die gespreizten Finger und erkannte die Frau in der einfachen dunklen Dienerinnentracht an der Tür. Nicht, dass ihn das auch nur eine Spur beruhigte.
»Gebt mir einen Kuss, Falion«, sagte er, als er eintrat.
Mit einem anzüglichen Grinsen griff er nach ihr. Natürlich mit der Linken.
Die Frau mit dem schmalen Gesicht stieß seine Hand zur Seite und schloss die Tür fest hinter ihm. »Shiaine ist mit einem Gast oben im Wohnzimmer«, sagte sie ruhig, »und die Köchin ist in ihrer Kammer. Sonst ist niemand im Haus. Hängt Euren Umhang an die Garderobe. Ich lasse sie wissen, dass Ihr da seid, aber vielleicht müsst Ihr warten.«
Hanlon ließ das Grinsen verschwinden und die Hand sinken. Trotz ihres alterslosen Gesichts konnte man Falion bestenfalls als ansehnlich beschreiben, und selbst das strapazierte die Wahrheit, wenn man ihren eisigen Blick und die kalte Art in Betracht zog. Sie war kaum die Art von Frau, an der er mit Begeisterung herumgefummelt hätte, aber anscheinend wurde sie von einem der Auserwählten bestraft, und er war ein Teil der Strafe, was die Sachlage veränderte. Bis zu einem gewissen Grade. Mit einer Frau ins Bett zu gehen, die keine andere Wahl hatte, hatte ihn nie gestört, und Falion hatte nun wirklich keine. Ihre Dienerinnentracht entsprach der Wahrheit; sie tat die Arbeit von fünf Frauen, als Leibdienerin, Küchenmagd und Mädchen für die Nachttöpfe, sie schlief, wenn sie die Zeit dafür fand, und zuckte zusammen, wenn Shiaine auch nur die Stirn runzelte. Ihre Hände waren rau und rot vom Wäschewaschen und Bödenschrubben. Aber sie würde ihre Bestrafung vermutlich überleben, und das Letzte, was er wollte, war eine Aes Sedai mit einem persönlichen Groll auf Daved Hanlon. Nicht, wenn sich die Umstände ändern konnten, bevor er Gelegenheit hatte, ihr ein Messer ins Herz zu stoßen. Mit ihr eine Übereinkunft zu treffen war aber einfach gewesen. Sie schien alles praktisch zu sehen. Wenn die anderen dabei waren, tatschte er jedes Mal, wenn sie in Reichweite kam, an ihr herum, und wenn genug Zeit war, schleppte er sie in die winzige Dienstbotenkammer oben unter dem Dach. Dort zerwühlten sie dann die Laken, setzten sich in der Kälte auf das schmale Bett und tauschten Informationen aus. Obwohl er ihr auf ihr Drängen hin ein paar blaue Flecke verpasste, nur für den Fall, dass Shiaine nachsah. Er hoffte, dass sie sich daran erinnern würde, dass sie ihn dazu gedrängt hatte.
»Wo sind die anderen?«, sagte er, nahm schwungvoll den Umhang ab und hängte ihn auf die mit Leopardenschnitzereien verzierte Garderobe. Das Hallen seiner Stiefel auf den Bodenfliesen wurde von der hohen Decke der Eingangshalle zurückgeworfen. Es war eine hübsche Halle, mit bemalten Stucksimsen und mehreren aufwändig gestalteten Wandteppichen, die auf mit Schnitzwerk versehenen Wandpaneelen hingen. Das Holz war auf Hochglanz poliert und wurde von Spiegelkandelabern beleuchtet, die ausreichend vergoldet waren, um in den Königlichen Palast zu passen. Aber er sollte zu Asche verbrennen, wenn es hier drinnen viel wärmer als draußen war. Falion betrachtete den Dolch in seiner Hand mit hochgezogener Braue, und er schob ihn mit einem schmalen Lächeln in die Scheide. Er konnte ihn wieder schneller in der Hand halten, als es jemand für möglich gehalten hätte, und sein Schwert fast genauso schnell. »In der Nacht sind die Straßen voller Diebe.« Trotz der frostigen Luft zog er die Panzerhandschuhe aus und steckte sie hinter den Schwertgürtel. Alles andere hätte möglicherweise den Anschein erweckt, dass er sich in Gefahr glaubte. Und falls es zum Schlimmsten kam, sollte der Brustharnisch eigentlich reichen.
»Ich weiß nicht, wo Marillin ist«, sagte sie über die Schulter, da sie sich bereits abgewandt und die Röcke für die Treppe geschürzt hatte. »Sie ist vor Einbruch der Nacht gegangen. Murellin ist mit seiner Pfeife im Stall. Wir können reden, nachdem ich Shiaine von Eurer Ankunft unterrichtet habe.«
Er sah ihr hinterher und grunzte. Murellin, ein hünenhafter Bursche, den Hanlon nicht im Rücken haben wollte, war in den Stall hinter dem Haus verbannt worden, wenn er seine Pfeife rauchen wollte, weil Shiaine den Geruch seines groben Tabaks nicht ausstehen konnte, und da er für gewöhnlich einen Krug Ale mitnahm oder auch gleich eine ganze Kanne, sollte er nicht so schnell wieder da sein. Marillin machte Hanlon mehr Sorgen. Auch sie war eine Aes Sedai und stand anscheinend genauso unter Shiaines Befehl wie Falion oder er selbst, aber mit ihr hatte er keine Abmachung. Auch keinen Streit, aber er misstraute Aes Sedai aus Prinzip, ob sie nun Schwarze Ajah waren oder nicht. Wo war sie hingegangen? Um was zu tun? Was ein Mann nicht wusste, konnte ihn umbringen, und Marillin Gemalphin verbrachte viel zu viel Zeit damit, Dinge zu tun, über die er nicht Bescheid wusste. Er kam zu dem Schluss, dass es in Caemlyn überhaupt zu viele Dinge gab, über die er nicht Bescheid wusste. Höchste Zeit, dass er sie in Erfahrung brachte, wenn er überleben wollte.
Da Falion gegangen war, begab er sich von der eisigen Vorhalle direkt in die Küche im rückwärtigen Teil des Hauses. Der Raum mit den Ziegelwänden war natürlich leer — die Köchin wusste Besseres, als ihre Nase aus ihrem Zimmer im Keller zu stecken, sobald man sie für die Nacht entlassen hatte —, und der schwarze Eisenofen und die Herde waren kalt, aber ein kleines Feuer in dem langen Steinkamin machte die Küche zu einem der wenigen Räume, die in diesem Haus warm sein würden. Jedenfalls verglichen mit dem Rest. Shiaine war eine geizige Frau, solange es nicht um ihre eigene Bequemlichkeit ging. Das Feuer brannte hier bloß für den Fall, dass sie mitten in der Nacht heißen Wein haben wollte oder heiß gemachte Eiermilch.
Seit seinem Eintreffen in Caemlyn war er etwa ein halbes Dutzend Mal in diesem Haus gewesen und wusste, in welchen Schränken die Gewürze aufbewahrt wurden und in welchem Nebenraum der Küche immer ein Fass Wein stand. Und immer guter Wein. Hier sparte Shiaine nicht. Jedenfalls nicht bei dem, was sie selbst trinken wollte. Als Falion zurückkehrte, hatte er den Honigtopf und eine Schale mit Ingwer und Gewürznelken neben eine Kanne mit Wein auf den großen Küchentisch gestellt und einen Schürhaken ins Feuer geschoben. Shiaine konnte »Kommt jetzt« sagen und auch »jetzt« meinen, aber wenn sie einen warten lassen wollte, konnte es fast schon wieder Tag sein, bevor sie einen empfing. Diese Besuche kosteten ihn immer Schlaf, sollte die Frau doch zu Asche verbrennen!
»Wer ist der Besucher?«, fragte er.
»Er hat sich mir nicht mit Namen vorgestellt«, erwiderte Falion und hielt die Tür zum Korridor mit einem Stuhl geöffnet. Das ließ etwas von der kargen Wärme hinaus, aber sie würde hören, falls Shiaine sie rief. Vielleicht wollte sie auch nur sichergehen, dass die andere Frau sie nicht belauschen konnte. »Ein schlanker Mann, groß und hart, sieht wie ein Soldat aus. Seinem Benehmen nach zu urteilen ein Offizier, vielleicht ein Adliger, der Akzent ist andoranisch. Er scheint intelligent und vorsichtig zu sein. Seine Kleidung ist unauffällig, wenn auch teuer, und er trägt keine Ringe oder Nadeln.« Sie musterte den Tisch mit einem Stirnrunzeln, ging zu einem der Schränke neben der Tür zum Korridor und stellte einen zweiten Zinnpokal neben den, den er sich geholt hatte. Es war ihm nie in den Sinn gekommen, zwei Pokale dort hinzustellen. Schlimm genug, dass er sich den Wein selbst machen musste. Aes Sedai oder nicht, sie war hier die Dienerin. Aber sie nahm einen Stuhl am Tisch und schob die Schale mit den Gewürzen von sich, als würde sie erwarten, dass er sie bediente.
»Shiaine hatte gestern zwei Besucher, die allerdings weniger vorsichtig waren als dieser Bursche«, fuhr sie fort.
»Der Besucher am Morgen hatte die Goldenen Eber von Sarand auf den Stulpen seiner Handschuhe. Vermutlich hat er gedacht, niemand würde diese kleinen Stickereien bemerken, wenn er überhaupt nachgedacht hat. Ein dicker, blonder Mann in den mittleren Jahren, der auf alles herabsah; er hat ein Kompliment über den Wein gemacht, als wäre er überrascht, in diesem Haus einen vernünftigen Jahrgang vorzufinden, und er wollte, dass Shiaine mich prügelt, weil ich es am nötigen Respekt mangeln ließ.« Selbst das sagte sie mit kalter, beherrschter Stimme. Nur wenn Shiaine sie mit dem Riemen schlug, ließ sie eine Gefühlsregung erkennen. Er hatte sie brüllen gehört. »Ein Mann vom Land, der nur selten in Caemlyn war, aber glaubt, dass er weiß, wie sich die Höhergestellten benehmen, würde ich sagen. Ihr könnt ihn an einer Warze an seinem Kinn und einer kleinen halbmondförmigen Narbe neben dem linken Auge erkennen. Der Bursche am Nachmittag war klein und dunkel, mit einer spitzen Nase und misstrauischen Blicken, keine Narben oder Male, soweit ich sehen konnte, obwohl er einen Ring mit einem rechteckigen Granaten an der linken Hand trug. Er war sparsam mit seinen Worten und sehr darauf bedacht, nichts preiszugeben bei dem Wenigen, was ich mithören konnte, aber er trug einen Dolch, auf dessen Knauf die Vier Monde von Haus Marne waren.«
Hanlon verschränkte die Arme, lehnte sich an den Kamin und hielt das Gesicht reglos, obwohl er die Stirn runzeln wollte. Er war davon überzeugt gewesen, dass der Plan vorsah, Elayne auf den Thron zu helfen, auch wenn das, was danach kam, ein Rätsel geblieben war. Sie war ihm als Königin versprochen worden. Ob sie nun eine Krone trug oder nicht, wenn er sie nahm, war es ihm völlig egal, auch wenn es eine gewisse Würze in die Sache gebracht hätte — dieses langbeinige Miststück sattelgerecht zuzureiten würde das reine Vergnügen sein, selbst wenn sie eine Bauerstochter gewesen wäre, vor allem, nachdem diese Schlampe ihn heute vor all den anderen Frauen heruntergemacht hatte! —, aber Besprechungen mit Sarand und Marne hatten vielleicht zu bedeuten, dass Elayne doch ungekrönt sterben sollte. Vielleicht war er trotz all der Versprechungen, es mit einer Königin treiben zu können, nur auf seinen Posten gelangt, um sie in einem bestimmten Augenblick zu töten, wenn ihr Tod ein bestimmtes Ergebnis zur Folge hatte, auf das Shiaine aus war. Beziehungsweise der Auserwählte, der ihr ihre Befehle gegeben hatte. Moridin hieß der Kerl, ein Name, den Hanlon nie zuvor gehört hatte. Das störte ihn nicht. Wenn ein Mann den Mut hatte, sich als Auserwählter zu bezeichnen, war Hanlon nicht so dumm, ihn in Frage zu stellen. Die Wahrscheinlichkeit, dass er bei diesem ganzen Unternehmen nicht mehr als ein Dolch war, gab ihm zu denken. Solange der Dolch seine Arbeit machte, welche Rolle spielte es dann, wenn er dabei zerbrach? Es war viel besser, die Faust am Griff zu sein als die Klinge.
»Habt Ihr gesehen, ob Gold den Besitzer gewechselt hat?«, fragte er. »Habt Ihr etwas gehört?«
»Das hätte ich gesagt«, erwiderte sie schmallippig. »Und unserer Übereinkunft zufolge bin ich jetzt mit einer Frage dran.«
Es gelang ihm, seine Gereiztheit hinter einer erwartungsvollen Miene zu verbergen. Die dumme Gans erkundigte sich immer nach den Aes Sedai im Palast oder nach jenen, die sie Kusinen nannte, oder nach den Meervolk-Frauen. Alberne Fragen. Wer mit wem freundschaftlich umging und wer nicht. Wer sich zu privaten Gesprächen traf und wer sich aus dem Weg ging. Was er aufgeschnappt hatte. Als hätte er nichts anderes zu tun, als in den Korridoren herumzulungern und ihnen nachzuspionieren. Er log sie nie an — das Risiko, dass sie die Wahrheit erfuhr, war zu groß; selbst wenn sie in diesem Haus als Dienerin arbeiten musste, war sie schließlich eine Aes Sedai! —, aber es fiel immer schwerer, Dinge zu finden, die er ihr noch nicht erzählt hatte, und sie bestand darauf, dass er ihr Informationen gab, wenn er welche zu bekommen gedachte. Aber heute hatte er nur ein paar unbedeutende Sachen anzubieten: Vom Meervolk reisten ein paar Frauen ab, und sie alle waren den ganzen Tag herumgelaufen, als hätte ihnen jemand Eiszapfen in die Kragen gesteckt. Damit würde sie sich zufrieden geben müssen. Was er wissen musste, war wichtig, das war kein verdammter Klatsch.
Aber bevor sie ihre Frage stellen konnte, wurde die Hoftür geöffnet. Murellin war groß genug, um fast den Türrahmen zu füllen, aber eisige Kälte schoss herein, ein Windstoß, der das kleine Feuer tanzen ließ und Funken den Schornstein hinaufschickte, bis der große Mann die Tür zustieß. Er schien die Kälte nicht zu bemerken, andererseits sah sein brauner Mantel so dick wie zwei Umhänge aus. Darüber hinaus hatte der Mann nicht nur die Größe eines Ochsen, sondern auch dessen Verstand. Er knallte einen großen Holzbecher auf den Tisch, schob beide Daumen hinter den breiten Gürtel und musterte Hanlon aufgebracht.
»Ihr macht mit meiner Frau rum?«, knurrte er.
Hanlon zuckte zusammen. Nicht, weil er vor Murellin Angst hatte, nicht, wenn der Dummkopf auf der anderen Seite des Tisches stand. Was ihn überraschte, war die Aes Sedai, die vom Stuhl aufsprang und die Weinkanne vom Tisch riss. Sie warf Gewürznelken und Ingwer hinein, fügte einen Löffel Honig hinzu und ließ die Kanne umherwirbeln, so als würde das alles vermischen, dann holte sie mit einem Zipfel ihres Rocks den Schürhaken aus dem Feuer und hielt ihn in die Kanne, ohne sich vorher zu vergewissern, ob er überhaupt schon heiß genug war. Dabei sah sie nicht einmal in Murellins Richtung.
»Eure Frau?«, sagte Hanlon vorsichtig. Das entlockte seinem Gegenüber ein hämisches Grinsen.
»So gut wie. Die Lady meint, ich könnte genauso gut das benutzen, was Ihr nicht wollt. Fally und ich halten einander nachts warm.« Murellin ging noch immer grinsend um den Tisch herum, aber jetzt in Richtung der Frau. Ein Ruf hallte durch den Korridor, und er blieb seufzend stehen. Das Grinsen verschwand.
»Falion!«, erklang Shiaines Stimme aus der Ferne.
»Bring Hanlon rauf, und zwar schnell!« Falion stellte die Kanne hart genug auf dem Tisch ab, dass der Wein über den Rand schwappte, und eilte schon zur Tür, bevor Shiaines Ruf verhallt war. Wenn die andere Frau die Stimme erhob, dann sprang Falion.
Auch Hanlon sprang, allerdings aus anderen Gründen. Er holte sie ein und packte ihren Arm, als sie die erste Stufe erreichte. Ein schneller Blick zurück verriet ihm, dass sich die Küchentür schloss. Vielleicht spürte Murellin die Kälte ja doch. Trotzdem hielt er seine Stimme leise. »Was hat das zu bedeuten?«
»Das geht Euch nichts an«, sagte sie kurz angebunden.
»Könnt Ihr mir etwas besorgen, das ihn schlafen lässt? Etwas, das ich ihm ins Ale oder in den Wein tun kann? Er trinkt alles, egal, wie es schmeckt.«
»Wenn Shiaine der Meinung ist, dass ich Befehlen nicht gehorche, dann geht mich das sehr wohl etwas an, und Ihr solltet das auch so sehen, wenn Ihr einen Funken Verstand habt.«
Sie legte den Kopf schräg und starrte ihn die lange Nase entlang an, so kalt wie ein Fisch. »Das hat nichts mit Euch zu tun. Soweit es Shiaine betrifft, gehöre ich noch immer Euch, wenn Ihr hier seid. Ihr müsst wissen, dass sich gewisse Dinge geändert haben.« Plötzlich schnappte etwas Unsichtbares sein Handgelenk und zog seine Hand von ihrem Ärmel. Etwas anderes umklammerte seine Kehle und drückte zu, bis er keine Luft mehr bekam. Vergeblich tastete er mit der linken Hand nach dem Dolch. Ihr Tonfall blieb kühl. »Ich war der Meinung, dass sich gewisse andere Dinge auch dementsprechend ändern sollten, aber Shiaine sieht die Dinge nicht logisch. Sie sagt, wenn der Große Meister Moridin will, dass meine Strafe erleichtert wird, dann wird er das sagen. Moridin hat mich ihr übergeben. Murellin ist ihre Weise, dafür zu sorgen, dass ich das begriffen habe. Ihre Weise, dafür zu sorgen, dass ich genau weiß, dass ich ihre Hündin bin, bis sie es anders befiehlt.« Sie holte tief Luft, und der Druck von seinem Handgelenk und seiner Kehle verschwand. Noch nie zuvor hatte ein Atemzug so süß geschmeckt. »Könnt Ihr besorgen, worum ich gebeten habe?«, fragte sie so ruhig, als sei sie nicht gerade versucht gewesen, ihn mit der verdammten Macht zu töten. Allein der Gedanke, dass er damit berührt worden war, ließ seine Haut jucken.
»Ich kann...«, begann er heiser und verstummte, um zu schlucken und sich den Hals zu reiben. Es fühlte sich an, als hätte er in einer Henkerschlinge gesteckt. »Ich kann Euch etwas besorgen, das ihn in einen Schlaf versetzt, aus dem er nie wieder aufwachen wird.« Sobald es sicher war, würde er sie abstechen wie eine Gans.
Sie schnaubte verächtlich. »Ich wäre die Erste, die Shiaine verdächtigt, und ich könnte mir gleich die Handgelenke selbst aufschlitzen, wenn ich gegen eine ihrer Entscheidungen Einwände erhebe. Es wird reichen, wenn er die Nächte durchschläft. Überlasst das Denken mir, das ist für uns beide besser.« Sie legte eine Hand auf das geschnitzte Geländer und schaute die Treppe hoch. »Kommt. Wenn sie jetzt sagt, dann meint sie auch jetzt.« Bedauerlich, dass er sie nicht wie eine Gans aufhängen konnte, damit sie so auf das Messer warten konnte.
Er folgte ihr, und die schweren Schritte seiner Stiefel hallten durch die Vorhalle, und ihm wurde bewusst, dass er nicht gehört hatte, wie der Besucher gegangen war. Falls das Haus keinen geheimen Zugang hatte, von dem er nichts wusste, gab es nur die Haustür, die Tür in der Küche und noch eine zweite Tür hinten heraus, die aber nur durch die Küche zu erreichen war. Also sollte er wohl diesen Soldaten kennen lernen. Vielleicht sollte es eine Überraschung sein. Verstohlen lockerte er den Dolch in seiner Scheide.
Wie erwartet brannte in dem breiten Kamin aus blau geädertem Marmor im vorderen Wohnzimmer ein prächtiges Feuer. Es war ein Raum, der es wert gewesen wäre, geplündert zu werden — auf vergoldeten Tischchen standen Porzellanvasen vom Meervolk, und die Wandbehänge und Teppiche hätten einen ordentlichen Preis erzielt. Allerdings war einer der Teppiche jetzt vermutlich wertlos. In der Mitte des Zimmers lag ein mit einer Decke verhüllter niedriger Hügel, und wenn der Bursche, der ihn bildete, den Teppich nicht mit seinem Blut beschmutzt hatte, würde Hanlon die Stiefel essen, die darunter herausschauten.
Shiaine saß auf einem Lehnstuhl, eine hübsche Frau in goldbestickter blauer Seide mit einem kunstvollen Gürtel aus geflochtenem Golddraht und einer schweren Goldkette um den schlanken Hals. Das glänzende braune Haar, das ihr bis über die Schultern fiel, wurde von einem Netz aus hauchdünner Spitze gehalten. Auf den ersten Blick wirkte sie zerbrechlich, aber ihr Gesicht hatte etwas Fuchsartiges, und ihr Lächeln reichte nie bis zu den großen braunen Augen. Sie säuberte einen kleinen Dolch mit einem Feuertropfen im Knauf mit einem spitzenbesetzten Taschentuch.
»Sag Murellin, dass ich ein... Bündel... habe, das er später wegbringen soll, Falion«, erklärte sie ruhig.
Falions Gesicht blieb so reglos wie polierter Marmor, aber sie machte einen Knicks, der viel Ähnlichkeit mit einem Zurückzucken hatte, bevor sie aus dem Zimmer lief.
Hanlon behielt die Frau und den Dolch im Augenwinkel, während er zu dem verhüllten Hügel ging und sich bückte, um eine Ecke der Decke zu lüften. Blicklose blaue Augen starrten aus einem Gesicht, das lebendig vielleicht hart gewesen wäre. Die Toten sahen immer weicher aus. Anscheinend war er weder so vorsichtig noch so intelligent gewesen, wie Falion ihn eingeschätzt hatte. Hanlon ließ die Decke fallen und richtete sich auf. »Hat er etwas gesagt, das Euch nicht behagte, meine Lady?«, fragte er sanft.
»Wer war er?«
»Er hat mehrere Dinge gesagt, gegen die ich Einwände hatte.« Sie hielt den Dolch in die Höhe, musterte die kleine Klinge, um sich zu vergewissern, dass sie auch sauber war, und schob sie in die mit Gold verzierte Scheide an ihrer Taille. »Sagt, ist Elaynes Kind von Euch?«
»Ich weiß nicht, wer die Welpe gezeugt hat«, entgegnete er säuerlich. »Warum, meine Lady? Glaubt Ihr, ich wäre weich geworden? Die letzte Schlampe, die behauptet hat, ein Kind von mir zu erwarten, habe ich in einen Brunnen gesteckt, damit sie wieder einen klaren Kopf bekam, und ich habe dafür gesorgt, dass sie da bleibt.« Auf einem Tablett auf einem der Seitentische standen ein silberner Weinkrug und zwei Silberpokale. »Sind die in Ordnung?«, fragte er. Beide Pokale enthielten noch etwas Wein, aber eine kleine Beimischung hätte den Toten zu einem leichten Opfer gemacht.
»Catrelle Mosenain, die Tochter eines Schmieds aus Maerone«, sagte die Frau so glatt, als wäre das allgemein bekannt, und er wäre beinahe überrascht zusammengezuckt. »Ihr habt ihr den Schädel mit einem Stein eingeschlagen, bevor Ihr sie hineingeworfen habt, zweifellos, um ihr das Ertrinken zu ersparen.« Woher wusste sie den Namen des Mädchens, ganz zu schweigen von dem Stein? Er hatte den Namen nicht mal mehr selbst gewusst. »Nein, ich glaube nicht, dass Ihr weich geworden seid, aber es würde mir gar nicht gefallen, wenn ich zu dem Schluss kommen müsste, dass Ihr Lady Elayne küsst, ohne es mich vorher wissen zu lassen. Das würde ich sogar hassen.«
Plötzlich bedachte sie das blutige Taschentuch in ihrer Hand mit einem Stirnrunzeln und erhob sich anmutig, um zum Kamin zu rauschen und es in die Flammen zu werfen. Sie blieb dort stehen, um sich zu wärmen, und würdigte ihn keines Blickes. »Könnt Ihr dafür sorgen, dass ein paar der seanchanischen Frauen entkommen? Es wäre am besten, wenn es sowohl die wären, die man Sul'dam nennt, wie auch jene, die man Damane nennt.« Die unvertrauten Worte ließen sie jeweils kurz zögern. »Aber wenn das nicht geht, ein paar der Sul'dam würden reichen. Sie werden ein paar der anderen befreien.«
»Vielleicht.« Blut und verdammte Asche, sie wirbelte von einem Thema zum nächsten, noch schlimmer als Falion es getan hatte. »Es wird nicht einfach sein, meine Lady. Sie werden streng bewacht.«
»Ich habe nicht gefragt, ob es einfach ist«, sagte sie und starrte in die Flammen. »Könnt Ihr die Wachen von den Getreidespeichern abziehen? Es würde mich erfreuen, wenn ein paar davon tatsächlich brennen würden. Ich bin die gescheiterten Versuche leid.«
»Das kann ich nicht machen«, murmelte er. »Es sei denn, Ihr wollt, dass ich danach untertauche. Sie führen Unterlagen über die Befehle, dass es einem Cairhiener zu viel würde. Und das würde sowieso nichts nutzen, denn durch diese verdammten Tore treffen jeden verdammten Tag neue Wagen ein.« In Wahrheit bedauerte er das nicht. Die Methode bereitete ihm Unbehagen, ja, aber es tat ihm nicht Leid. Der Palast würde sowieso der letzte Ort in Caemlyn sein, der Hunger litt, aber er hatte auf beiden Seiten der Linien Belagerungen miterlebt, und er hatte nicht vor, noch einmal aus seinen Stiefeln eine Suppe kochen zu müssen. Aber Shiaine wollte Brände.
»Noch eine Antwort, die ich nicht verlangt habe.« Sie schüttelte den Kopf und starrte unverwandt in die Flammen. »Aber vielleicht kann etwas dort getan werden. Wie nahe seid Ihr denn daran, Elaynes... Zuneigung zu genießen?«, schloss sie prüde.
»Näher als an dem Tag, an dem ich im Palast eintraf«, knurrte er und starrte ihren Rücken finster an. Er bemühte sich, diejenigen, die die Auserwählten über ihn gestellt hatten, niemals zu beleidigen, aber diese Schlampe stellte seine Geduld auf eine harte Probe. Er hätte diesen zarten Hals wie einen Zweig zerbrechen können! Um die Hände nicht um ihre Kehle zu legen, füllte er einen Pokal und hielt ihn in der Hand, ohne die Absicht zu haben, daraus zu trinken. Natürlich in der linken Hand. Nur weil bereits ein Toter im Zimmer lag, musste das noch lange nicht bedeuten, dass sie nicht plante, noch einen Mord zu begehen.
»Aber ich muss es langsam angehen lassen. Es ist ja nicht so, als könnte ich sie in eine Ecke drängen und sie aus ihrem Unterhemd kitzeln.«
»Ich schätze nicht«, sagte Shiaine gedämpft. »Sie ist kaum die Art von Frau, an die Ihr gewöhnt seid.« Lachte sie etwa? Amüsierte sie sich über ihn? Es kostete ihn seine ganze Selbstbeherrschung, den Weinpokal nicht zu Boden zu schleudern und das fuchsgesichtige Miststück zu erdrosseln.
Plötzlich drehte sie sich um, und er blinzelte, als sie den Dolch gleichgültig in die Scheide steckte. Er hatte überhaupt nicht bemerkt, dass sie das verdammte Ding gezogen hatte! Er nahm einen Schluck Wein, ohne nachzudenken, und verschluckte sich beinahe, als ihm klar wurde, was er da tat.
»Wie würde es Euch gefallen, Caemlyn geplündert zu sehen?«, fragte sie.
»Gut, wenn ich eine Kompanie und einen freien Pfad zu den Toren habe.« Der Wein musste in Ordnung sein. Der zweite Pokal bedeutete, dass auch sie getrunken hatte, und wenn er den Pokal des Toten genommen hatte, konnte nicht mehr genug Gift darin sein, um eine Maus zu vergiften. »Wollt Ihr das? Ich befolge Befehle genauso gut wie jeder andere.« Wenn er davon ausgehen konnte, sie zu überleben, oder wenn sie von den Auserwählten kamen. Man konnte genauso gut als Narr sterben, als den Auserwählten nicht zu gehorchen. »Aber manchmal ist es hilfreich, mehr zu wissen als ›geht dorthin und tut dies‹. Wenn Ihr mir verratet, was Ihr eigentlich in Caemlyn vorhabt, könnte ich Euch helfen, es schneller zu erreichen.«
»Natürlich.« Sie lächelte breit, während ihre Augen so reglos wie braune Steine blieben. »Aber zuerst verratet mir, warum an Eurem Handschuh frisches Blut klebt.«
Er lächelte zurück. »Ein Straßenräuber, der Pech hatte, meine Lady.« Vielleicht hatte sie den Mann geschickt, vielleicht auch nicht, aber er fügte ihren Hals zu der Liste derjenigen hinzu, die er durchschneiden wollte. Und er konnte Marillin Gemalphin gleich hinzufügen. Schließlich war eine einsame Überlebende die Einzige, die erzählen konnte, was geschehen war.