1 Zeit zu verschwinden

Das Rad der Zeit dreht sich, Zeitalter kommen und vergehen und lassen Erinnerungen zurück, die zu Legenden werden. Legenden verblassen zu Mythen, und sogar der Mythos ist lange vergessen, wenn das Zeitalter wiederkehrt, aus dem er geboren wurde. In einem Zeitalter, das von einigen das Dritte Zeitalter genannt wurde, einem Zeitalter, das noch kommen sollte, einem lange vergangenen Zeitalter, erhob sich in den Rhannon-Hügeln ein Wind. Der Wind war nicht der Anfang. Es gibt bei der Drehung des Rads der Zeit keinen Anfang und kein Ende. Aber es war ein Anfang.

Geboren in den Weinbergen und Gehölzen, die den größten Teil der zerklüfteten Hügel bedeckten, den Reihen von Olivenbäumen und Rebstöcken, die bis zum Frühling blattlos bleiben würden, wehte der kalte Wind nach Westen und Norden über die wohlhabenden Bauernhöfe, mit denen das Land zwischen den Hügeln und dem großen Hafen von Ebou Dar gesprenkelt war. Das Land lag noch immer winterbrach, aber Männer und Frauen ölten bereits Pflugscharen und flickten Gespanne, um sich auf die kommende Aussaat vorzubereiten. Sie beachteten die schwer beladenen Wagenzüge kaum, die auf den unbefestigten Straßen nach Osten fuhren und Leute beförderten, die ungewohnte Kleidung trugen und mit seltsamem Akzent sprachen. Viele der Fremde schienen ebenfalls Bauern zu sein, an ihre Wagenkästen war vertraut aussehendes Gerät festgeschnallt, auf den Wagen waren unbekannte Setzlinge geladen, deren Wurzeln in groben Stoff gehüllt waren, aber sie fuhren in ferne Länder. Sie hatten nichts mit dem Leben hier und jetzt zu tun. Die seanchanische Hand ruhte leicht auf jenen, die sich nicht gegen ihre Herrschaft wehrten, und für die Bauern der Rhannon-Hügel hatte sich das Leben nicht verändert. Für sie war ohnehin der Regen oder sein Ausbleiben der wahre Herrscher gewesen.

Der Wind blies nach Westen und Norden, über den breiten blaugrünen Hafen, in dem Hunderte von Schiffen im Wellengang an ihren Ankern schaukelten. Einige davon wiesen einen breiten Bug auf und waren mit gerippten Segeln geriggt, andere wiederum hatten einen langen, scharf geschnittenen Bug, und auf ihnen waren Männer damit beschäftigt, ihre Segel und die Takelage denen der breiteren Schiffe anzupassen. Viele lagen im flachen Wasser, rußgeschwärzte Wracks, die auf die Seite gekippt waren, verbrannte Spanten, die schwarzen Skeletten gleich in dem tiefen grauen Schlamm versanken. Boote schössen unter der Kraft von Dreieckssegeln voran oder krochen von Rudern getrieben daher wie vielgliedrige Wasserkäfer; die meisten beförderten Arbeiter und Nachschub zu den Schiffen, die unversehrt waren. Andere kleine Fahrzeuge und Barken waren an etwas festgezurrt, das Ähnlichkeit mit entasteten Baumstümpfen hatte, die aus dem blaugrünen Wasser ragten; hier sprangen Männer in die Fluten, mit Steinen in den Händen, die sie schnell zu den versunkenen Schiffen in der Tiefe tragen würden, wo sie dann Seile an allem festzurrten, was man bergen konnte. Vor sechs Nächten war hier der Tod auf dem Wasser gewandelt, hatte die Eine Macht Männer und Frauen getötet, Schiffe vernichtet und die Finsternis mit silbernen Blitzen und durch die Luft rasenden Feuerbällen gespalten. Heute erschien der Hafen mit seinem unruhigen Wasser trotz der hektischen Aktivität friedlich, die aufspritzende Gischt vermischte sich mit dem Wind, der in die Flussmündung des Eldar nach Norden und Westen und ins Landesinnere wehte.

Mat saß mit untergeschlagenen Beinen auf einem moosbewachsenen Felsen am schilfgesäumten Ufer des Flusses, krümmte die Schultern gegen den Wind und fluchte stumm. Hier gab es kein Gold, keine Frauen, kein Tanz, keinen Spaß. Dafür aber großes Unbehagen. Kurz gesagt, es war der letzte Ort, den er sich normalerweise ausgesucht hätte. Der Himmel war schiefergrau, und die dicken purpurfarbenen Wolken, die vom Meer herantrieben, verkündeten Regen. Ohne Schnee schien der Winter kein richtiger Winter zu sein — bis jetzt hatte er in Ebou Dar noch keine einzige Schneeflocke gesehen, aber ein kalter, feuchter Morgenwind, der vom Wasser kam, konnte einen Mann genauso gut wie Schnee bis auf die Knochen frieren lassen. Sechs Nächte waren vergangen, seit er in einem Sturm aus der Stadt geritten war, und seine pochende Hüfte schien noch immer zu glauben, er würde sich durchnässt bis auf die Haut an seinen Sattel klammern.

Er wünschte sich, er hätte einen Umhang mitgenommen. Er wünschte sich, er wäre im Bett geblieben.

Hügel verbargen Ebou Dar, das eine Meile im Süden lag, und verbargen ihn auch vor der Stadt, aber nirgendwo war ein Baum oder auch nur mehr als ein Gebüsch in Sicht. Das offene Gelände verursachte in ihm das Gefühl, als würden Ameisen unter seiner Haut krabbeln. Aber er würde hier sicher sein. Der schlichte braune Wollmantel mit der dazugehörigen Mütze hatte nicht die geringste Ähnlichkeit mit der Kleidung, mit der man ihn in der Stadt gekannt hatte. Statt schwarzer Seide verbarg ein einfacher Wollschal die Narbe an seinem Hals, und der Mantelkragen war zusätzlich hochgeklappt. Kein Stück Spitze oder Stickerei. Farblos genug für einen Bauern, der Kühe molk. Keiner, dem er aus dem Weg gehen musste, würde ihn erkennen. Nicht, bevor sie nahe an ihn herangekommen waren. Trotzdem zog er die Mütze ein Stück tiefer in die Stirn.

»Wollt Ihr noch länger hier sitzen, Mat?« Noals zer — schlissener dunkelblauer Mantel hatte schon bessere Tage gesehen, aber das Gleiche ließ sich auch über ihn sagen. Der alte Bursche mit seinen gekrümmten Schultern, den weißen Haaren und der gebrochenen Nase hockte unterhalb des Felsens auf den Fersen und fischte mit einer Bambusangel im Fluss. Die meisten seiner Zähne fehlten, und manchmal tastete er mit der Zunge nach einer Lücke, so als wäre er überrascht, sie dort zu finden. »Falls Ihr es noch nicht bemerkt haben solltet, es ist kalt. Alle glauben, in Ebou Dar sei es immer warm, aber der Winter ist überall kalt, selbst an Orten, die Ebou Dar wie Schienar erscheinen lassen. Meine Knochen sehnen sich nach einem Feuer. Oder zumindest einer Wolldecke. Ein Mann kann es sich mit einer Wolldecke gemütlich machen, solange er nicht im Wind sitzt. Gedenkt Ihr, irgendetwas anderes zu tun, als flussabwärts zu starren?«

Als Mat ihn bloß ansah, zuckte Noal mit den Schultern und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf den geteerten Holzschwimmer, der im Schilf trieb. Gelegentlich bewegte er eine der knotigen Hände, so als würden seine verkrümmten Finger die Kälte ganz besonders spüren, aber wenn dem so war, war das seine eigene Schuld. Der alte Narr war am seichten Ufer herumgewatet, um mit einem Korb Pfrillen für Köder einzufangen; der Korb stand zur Hälfte mit einem glatten Stein verankert im Wasser. Trotz seiner Klagen über das Wetter war Noal ohne Aufforderung mit zum Fluss gekommen. Nach allem, was er erzählt hatte, war jeder, der ihm etwas bedeutet hatte, schon viele Jahre tot, und ehrlich gesagt schien er verzweifelt bemüht, irgendeine Art von Gesellschaft zu haben. So verzweifelt, dass er Mats Gesellschaft wählte, wo er mittlerweile schon fünf Tage von Ebou Dar entfernt sein könnte. Ein Mann konnte in fünf Tagen eine hübsche Distanz zurücklegen, wenn er einen triftigen Grund und ein Pferd hatte. Mat hatte oft darüber nachgedacht.

Auf der anderen Seite des Eldar, halb verdeckt von einer der sumpfigen Inseln, von denen der Fluss nur so wimmelte, wurden in einem breiten Ruderboot die Ruder hochgehoben, dann stand ein Mann auf und fischte mit einem langen Bootshaken im Schilf herum.

Ein anderer Ruderer half ihm, das, was er gefunden hatte, ins Boot zu hieven. Auf diese Entfernung sah es wie ein großer Sack aus. Mat zuckte zusammen und wandte den Blick flussabwärts. Sie fanden noch immer Leichen, und er war verantwortlich. Die Unschuldigen starben an der Seite der Schuldigen. Und wenn man nichts unternahm, dann starben nur die Unschuldigen oder erlitten ein Schicksal, das fast so schlimm wie der Tod war. Oder vielleicht auch schlimmer, je nachdem, wie man es betrachtete.

Er runzelte gereizt die Stirn. Blut und Asche, er verwandelte sich in einen verfluchten Philosophen!

Die Verantwortung presste sämtliche Freude aus dem Leben und ließ einen Mann zu Staub vertrocknen. In diesem Augenblick wünschte er sich einen ordentlichen Krug Wein in einer gemütlichen Schänke voller Musik und eine üppige, hübsche Dienstmagd auf dem Schoß, irgendwo weit weg von Ebou Dar. Sehr weit weg. Doch er hatte nur Verpflichtungen, vor denen er nicht weglaufen konnte, und eine Zukunft, die ihm nicht zusagte. Es schien nicht zu helfen, wenn man Ta'veren war, nicht, wenn sich das Muster auf diese Weise formte. Wenigstens hatte er noch immer sein Glück. Er lebte und war nicht in einer Zelle angekettet. Unter diesen Urnständen durfte er sich glücklich schätzen.

Von seinem Sitz aus hatte er einen ziemlich freien Blick vorbei an den niedrigen sumpfigen Flussinseln. Vom Wind erfasste Gischt trieb Nebelbänken gleich vom Hafen heran, aber sie reichte nicht aus, um das zu verstecken, was er sehen musste. Er versuchte alles im Kopf auszurechnen, zählte die verankerten Schiffe, versuchte die Wracks zu zählen. Aber er verlor den Überblick, glaubte, manche Schiffe doppelt erfasst zu haben, und fing von vorn an. Die Leute vom Meervolk, die man wieder eingefangen hatte, schlichen sich ebenfalls in seine Gedanken. Er hatte gehört, dass an den Galgen im Rahad mehr als hundert Leichen zur Schau gestellt wurden, ihre Verbrechen auf den dazugehörigen Schildern wurden als »Mord« und »Rebellion« bezeichnet. Für gewöhnlich benutzten die Seanchaner Henkersbeil und Pfahl, während der Adel, das Blut, das Privileg der Würgeschnur erhielt, aber Besitztum musste sich damit zufrieden geben, aufgehängt zu werden.

Soll man mich doch zu Asche verbrennen, ich habe getan, was ich konnte, dachte er mürrisch. Es war sinnlos, sich Vorwürfe zu machen, nicht mehr getan zu haben. Sinnlos! Völlig sinnlos! Er musste an die Menschen denken, die entkommen waren.

Die Atha'an Miere, die entkommen waren, hatten Schiffe aus dem Hafen für ihre Flucht benutzt, und obwohl sie kleinere Fahrzeuge hätten nehmen können alles, was sie in der Nacht betreten und erobern konnten —, hatten sie so viele ihrer Leute mitnehmen wollen wie nur möglich. Da Tausende von ihnen als Gefangene im Rahad schufteten, mussten große Schiffe her, also seanchanische Großschiffe. Sicher wären viele der Schiffe des Meervolks groß genug gewesen, aber sie alle waren von ihren Segeln und der Takelage befreit worden, um nach seanchanischer Art ausgerüstet zu werden. Wenn er herausfinden konnte, wie viele Großschiffe noch da waren, konnte er sich möglicherweise eine ungefähre Vorstellung davon machen, wie viele Atha'an Miere es in die Freiheit geschafft hatten. Es war richtig gewesen, die Windsucherinnen des Meervolks zu befreien, es war das Einzige gewesen, was er hatte tun können, aber von den Gehängten abgesehen, hatte man in den vergangenen fünf Tagen Hundert e von Toten aus dem Hafen gefischt, und allein das Licht wusste, wie viele mit den Gezeiten hinaus aufs offene Meer getragen worden waren. Die Totengräber arbeiteten von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, und die Friedhöfe waren gefüllt mit weinenden Frauen und Kindern. Auch mit Männern. Mehr als nur ein paar dieser Toten waren Atha'an Miere gewesen, um die niemand weinte, während sie in Massengräber geworfen wurden, und Mat wollte eine Vorstellung von der Zahl haben, die er gerettet hatte, um damit seine düsteren Vermutungen über die Zahl auszugleichen, die er umgebracht hatte.

Aber es war schwer, auch nur zu schätzen, wie viele Schiffe es hinaus aufs Meer der Stürme geschafft hatten, selbst wenn er sich nicht immer wieder verzählte.

Im Gegensatz zu den Aes Sedai hatten die Windsucherinnen keine Schwierigkeiten damit, die Macht als Waffe zu benutzen, nicht wenn das Wohlergehen ihrer Leute auf dem Spiel stand, und mit Sicherheit hatten sie die Verfolgung verhindern wollen, bevor sie begann. Niemand nahm in einem brennenden Schiff die Verfolgung auf. Die Seanchaner mit ihren Damane hatten noch weniger Skrupel, zurückzuschlagen. Blitze so zahlreich wie Grashalme zuckten durch den Regen, und Feuerbälle von der Größe von Pferden rasten durch den Himmel, und der Hafen schien von der einen Seite bis zur anderen in Flammen zu stehen, bis die Nacht selbst im Sturm das Schauspiel eines Feuerwerkers armselig erscheinen ließ. Ohne den Kopf drehen zu müssen, konnte Mat Dutzende Stellen zählen, an denen die verbrannten Spannten eines Großschiffes aus dem niedrigen Wasser ragten oder ein Rumpf auf der Seite lag und die Hafenwellen gegen das Deck schlugen, und es gab doppelt so viele, an denen die Reihen aus verkohltem Holz schmaler waren, die Überreste von Klippern des Meervolks. Offenbar hatten sie den Leuten, die sie in Ketten gelegt hatten, nicht ihre Schiffe überlassen wollen. Drei Dutzend genau vor ihm, und das ohne die versunkenen Wracks hinzuzuzählen, über denen die Bergungsboote arbeiteten. Vielleicht konnte ein Seefahrer anhand der aus dem Wasser ragenden Mastspitzen ein Großschiff von einem Klipper unterscheiden, aber das lag jenseits seiner Fähigkeiten.

Plötzlich stieg in ihm eine alte Erinnerung empor, über das Beladen von Schiffen für einen Angriff vom Meer, und wie viele Männer man wie lange Zeit auf welchem Raum unterbringen konnte. Eigentlich war das nicht seine Erinnerung, an einen längst vergangenen Krieg zwischen Fergansea und Moreina, aber sie schien es zu sein. Die Erkenntnis, dass er die Szenen aus dem Leben anderer Männer einer längst vergangenen Zeit tatsächlich nicht selbst erlebt hatte, überraschte ihn immer wieder aufs Neue, und vielleicht gehörten sie ihm ja doch auf gewisse Weise. Sie waren auf jeden Fall klarer als manche Phasen seines Lebens. Die Schiffe, an die er sich erinnert hatte, waren kleiner als die meisten Schiffe im Hafen gewesen, aber das Prinzip war das gleiche.

»Sie haben nicht genug Schiffe«, murmelte er. Die Seanchaner hatten in Tanchico noch mehr, als hier vor Anker gegangen waren, aber die Verluste reichten aus, um einen Unterschied zu machen.

»Genug Schiffe wofür?«, sagte Noal. »Ich habe noch nie zuvor so viele an einem Ort gesehen.« Da es von ihm kam, war das schon eine beachtliche Aussage. Wenn man Noal Glauben schenken wollte, hatte er schon alles gesehen, und so gut wie immer war es größer oder großartiger als das gewesen, was sich vor seiner Nase abspielte. Zu Hause hätte man gesagt, er würde die Wahrheit fest verschnürt im Beutel halten.

Mat schüttelte den Kopf. »Sie haben nicht genug Schiffe, um wieder alle nach Hause schaffen zu können.«

»Wir haben unser Zuhause nicht verlassen«, sagte eine Frauenstimme mit einem breiten Akzent hinter ihm. »Wir sind nach Hause gekommen.«

Der seanchanische Akzent ließ Mat nicht zusammenzucken, aber es hätte nicht viel gefehlt, bevor er die Sprecherin erkannte.

Egeanin schaute finster drein, ihre Augen erinnerten an blaue Dolche, aber das war nicht auf ihn gemünzt. Zumindest glaubte er das nicht. Sie war hochgewachsen und schlank und hatte ein hartes Gesicht, das trotz eines Lebens auf See blass geblieben war. Ihr grünes Kleid war grell genug für eine Kesselflickerin und an dem hohen Kragen und den Ärmelaufschlägen mit winzigen gelben und weißen Blüten bestickt. Ein fest unter dem Kinn gebundener Schal mit Blumenmuster hielt die schwarze Perücke auf ihrem Kopf fest, deren Locken bis über die Schultern reichten. Sie hasste den Schal und das Kleid, das nicht so richtig passte, aber alle paar Minuten tasteten ihre Finger nach der Perücke, um sich zu vergewissern, dass sie noch richtig saß. Das machte ihr mehr Sorgen als die Kleidung, obwohl Sorgen nicht mal annähernd das passende Wort war.

Die langen Fingernägel kurz schneiden zu müssen hatte ihr lediglich ein Seufzen entlockt, aber sie hatte fast einen Wutanfall bekommen, mit rotem Gesicht und hervorquellenden Augen, als er ihr klar gemacht hatte, dass sie sich den Kopf kahl rasieren musste. Die Art und Weise, wie sie ihr Haar zuvor getragen hatte — oberhalb der Ohren rasiert bis auf einen runden Schöpf und einen bis zu den Schultern reichenden Pferdeschwanz —, schrie der Welt förmlich zu, dass sie als niedrige Adlige dem seanchanischen Blut angehörte. Selbst jemand, der noch nie zuvor einen Seanchaner gesehen hatte, hätte sich an sie erinnert. Sie hatte zögernd eingewilligt, aber danach war sie beinahe hysterisch geworden, bis sie den Kopf hatte bedecken können. Allerdings nicht aus Gründen, aus denen die meisten Frauen rasend geworden wären. Nein, bei den Seanchanern rasierte sich allein die kaiserliche Familie den Kopf. Männer, die kahl wurden, trugen Perücken, sobald der Haarausfall sichtbar wurde. Egeanin wäre eher gestorben, als jemanden glauben zu lassen, sie würde vortäuschen, ein Mitglied des Kaiserhauses zu sein, und selbst wenn es Leute gewesen wären, die nie im Leben auf diesen Gedanken gekommen wären. Nun, unter den Seanchanern stand auf diese Art der Täuschung die Todesstrafe, aber Mat hätte es nie für möglich gehalten, dass sie so darauf herumreiten würde. Was bedeutete schon ein Todesurteil mehr, wenn man ohnehin die Axt im Nacken spürte? Oder in ihrem Fall die Würgeschnur. Für ihn würde es das Henkersseil sein.

Er schob das zur Hälfte gezogene Messer zurück in seinen linken Ärmel und rutschte von dem Felsen herunter. Er landete ungeschickt und wäre fast gefallen; der stechende Schmerz in seiner Hüfte ließ ihn beinahe das Gesicht verziehen. Aber nur beinahe. Sie war eine Adlige und ein Schiffskapitän, und sie versuchte oft genug, das Kommando zu übernehmen, ohne dass er auch noch irgendwelche Schwächen zeigen musste, die ihr einen weiteren Anlass gegeben hätten. Sie hatte ihn um Hilfe gebeten, nicht umgekehrt, aber das galt bei ihr nichts. Er lehnte sich mit verschränkten Armen an den Felsen und tat so, als würde er dort ganz gemütlich stehen, dabei trat er lässig nach abgestorbenen Grasbüscheln, um die schmerzenden Muskeln zu lockern. Das tat so weh, dass ihm trotz des kalten Windes der Schweiß ausbrach. Die Flucht im Sturm hatte seiner Hüfte geschadet, und noch hatte er nicht wieder an Boden gut gemacht.

»Seid Ihr sicher, was das Meervolk angeht?«, fragte er sie. Sinnlos, den Mangel an Schiffen noch einmal zu erwähnen. Es hatten sich sowieso zu viele seanchanische Siedler von Ebou Dar aus ausgebreitet, und von Tanchico mussten es noch mehr sein. Wie viele Schiffe sie auch immer hatten, keine Macht auf der Welt würde jetzt noch alle Seanchaner wieder zurückwerfen können.

Sie griff erneut nach der Perücke, zögerte, sah stirnrunzelnd ihre kurzen Fingernägel an und schob sich stattdessen die Hände unter die Achselhöhlen. »Was ist damit?« Sie wusste, dass er hinter dem Ausbruch der Windsucherinnen steckte, aber keiner von ihnen hatte es erwähnt. Sie bemühte sich immer zu vermeiden, über die Atha'an Miere zu sprechen. Einmal abgesehen von all den versunkenen Schiffen und den Toten war die Befreiung von Damane ein weiteres Verbrechen, auf das die Todesstrafe stand, darüber hinaus war es in den Augen der Seanchaner eine so widerwärtige Tat wie Vergewaltigung oder Kindesmissbrauch. Natürlich hatte sie ebenfalls bei der Befreiung einiger Damane geholfen, allerdings gehörte das ihrer Meinung nach zu den geringsten ihrer Verbrechen.

Dennoch mied sie auch dieses Thema. Es gab einige Themen, bei denen sie stumm blieb.

»Seid Ihr sicher, was die Windsucherinnen betrifft, die man gefangen hat? Ich habe gehört, man will ihnen Hände oder Füße abhacken.« Mat schluckte einen bitteren Geschmack herunter. Er hatte Männer sterben sehen, hatte Männer mit eigenen Händen getötet. Das Licht sei ihm gnädig, er hatte sogar eine Frau getötet! Nicht einmal die finsterste Erinnerung der anderen Männer brannte so quälend heiß wie diese, dabei waren einige davon finster genug, um in Wein ertränkt werden zu müssen, wenn sie an die Oberfläche kamen. Aber der Gedanke, jemandem absichtlich die Hände abzuhacken, bereitete ihm Übelkeit.

Egeanins Kopf zuckte herum, und einen Augenblick lang glaubte er, sie würde seine Frage ignorieren. »Ich wette, das Gerede kommt von Renna«, sagte sie abfällig. »Ein paar Sul'dam erzählen solchen Unsinn, um ungehorsame Damane zu ängstigen, die neu an der Leine sind, aber das hat schon seit sechshundert oder siebenhundert Jahren keiner mehr getan. Jedenfalls nicht viele, und Leute, die ihren Besitz nicht ohne Verstümmelungen im Griff haben, sind sowieso ... sei'mosiev.« Ihr Mund verzog sich vor Abscheu, aber es blieb unklar, ob wegen der Verstümmelung oder dem sei'mosiev.

»Ob nun beschämt oder nicht, sie tun es«, fauchte er.

Für einen Seanchaner bedeutete sei'mosiev mehr als nur beschämt zu sein, aber er bezweifelte, dass jemand, der einer Frau absichtlich die Hand abschnitt, ausreichend gedemütigt werden konnte, um sich deswegen umzubringen. »Gehört Suroth zu den ›wenigen‹?«

Die Seanchanerin erwiderte seinen wütenden Blick mit der gleichen Intensität und stemmte die Fäuste in die Hüften, sie beugte sich mit gespreizten Beinen vor, als stände sie auf dem Deck eines Schiffes und wäre im Begriff, einen begriffsstutzigen Matrosen zu schelten.

»Die Hochlady Suroth ist nicht die Besitzerin dieser Damane, Ihr dummer Bauer! Sie sind der Besitz der Kaiserin, möge sie ewig leben. Suroth könnte sich genauso gut die Adern aufschlitzen, wenn sie so etwas für eine kaiserliche Damane anordnet. Das heißt, falls sie so etwas überhaupt tun könnte; ich habe nie gehört, dass sie ihren Besitz schlecht behandelt. Ich will es mal so erklären, dass Ihr es auch versteht. Wenn Euer Hund wegläuft, dann verstümmelt Ihr ihn nicht. Ihr prügelt den Hund, damit er weiß, dass er das nicht tun darf, und bringt ihn zurück in seinen Zwinger. Außerdem sind Damane so ...«

»So wertvoll«, vollendete Mat den Satz trocken. Er hatte das schon so oft gehört, dass es ihm aus den Ohren herauskam.

Sie reagierte nicht auf seinen Sarkasmus oder bemerkte es vielleicht auch nicht. Seiner Erfahrung nach konnte eine Frau, wenn sie etwas nicht hören wollte, es so lange ignorieren, bis man anfing zu zweifeln, es überhaupt gesagt zu haben. »Endlich fangt Ihr an zu verstehen«, sagte sie und nickte. »Diese Damane, über die Ihr Euch solche Sorgen macht, haben vermutlich nicht mal mehr Striemen.« Sie schaute zu den Schiffen im Hafen, und langsam trat ein Ausdruck des Verlusts in ihr Gesicht, der von der Härte ihrer Züge noch verstärkt wurde. Sie strich mit den Daumen über die Fingerspitzen. »Ihr würdet nicht glauben, was mich meine Damane gekostet hat«, sagte sie leise, »sie und die Sul'dam. Sie war natürlich jeden Thron wert, den ich bezahlt habe. Ihr Name ist Serrisa. Gut ausgebildet und aufmerksam. Würde sich mit honiggesüßten Nüssen voll stopfen, wenn man sie ließe, aber sie wird niemals seekrank. Eine Schande, dass ich sie in Cantorin zurücklassen musste. Ich schätze, ich werde sie nie wiedersehen.« Sie seufzte bedauernd.

»Ich bin sicher, sie vermisst Euch genauso sehr«, sagte Noal und ließ ein lückenhaftes Lächeln aufblitzen, und er klang ernst. Vielleicht war es sogar sein Ernst. Er hatte behauptet, Schlimmeres als Damane und Da'covale gesehen zu haben, was auch immer das bedeuten mochte.

Egeanin versteifte sich, und sie runzelte die Stirn, als würde sie ihm sein Verständnis nicht abnehmen. Oder ihr war gerade aufgefallen, wie sie die Schiffe im Hafen anstarrte. Auf jeden Fall wandte sie sich auffällig vom Wasser ab. »Ich habe den Befehl gegeben, dass keiner die Wagen verlässt«, sagte sie energisch. Die Männer auf ihren Schiffen waren bei diesem Tonfall garantiert gesprungen. Sie riss den Kopf vom Fluss weg, als würde sie erwarten, dass Mat und Noal ebenfalls in die von ihr erwartete Richtung sprangen.

»Habt Ihr das?« Mat grinste und zeigte seine Zähne. Er konnte ein so unverschämtes Grinsen zustande bringen, dass die meisten aufgeblasenen Narren kurz vor einem Schlaganfall standen. Egeanin war alles andere als eine Närrin, aber aufgeblasen war sie. Schiffskapitän und Adlige. Er wusste nicht, was davon schlimmer war. Ach, beide taugten nichts! »Nun, ich wollte sowieso dort hin. Es sei denn, Noal, dass Ihr noch nicht mit Fischen fertig seid. Wir können hier noch eine Weile warten, wenn Ihr noch nicht soweit seid.«

Aber der alte Mann leerte bereits die übrig gebliebenen silbergrauen Pfrillen aus dem Korb in den Fluss. Seine Hände waren übel gebrochen gewesen, ihrem verkrümmten Erscheinungsbild nach zu urteilen sogar mehr als nur einmal, aber sie konnten die Angelschnur geschickt um das Bambusrohr wickeln. In der kurzen Zeit hatte er fast ein Dutzend Fische gefangen, von denen der größte nicht ganz einen Fuß lang war. Er hatte behauptet, mit dem richtigen Pfeffer — aus Shara, ausgerechnet! Er hätte genauso gut auf dem Mond wachsen können! — eine Fischsuppe machen zu können, die Mat seine Hüfte vergessen lassen würde. So wie Noal auf dem Pfeffer beharrte, vermutete Mat, dass er alles höchstens deshalb vergessen würde, weil er vollauf damit beschäftigt wäre, genug Ale zu finden, um seine Zunge zu kühlen.

Egeanin, die voller Ungeduld wartete, beachtete Mats Grinsen ebenfalls nicht, also legte er einen Arm um sie. Wenn sie schon zurückgingen, konnten sie genauso gut auch jetzt schon damit anfangen. Sie schlug seine Hand von ihrer Schulter. Diese Frau ließ ein paar altjüngferliche Tanten, die er gekannt hatte, wie Tavernenmädchen aussehen.

»Wir sollen ein Paar darstellen, Ihr und ich«, erinnerte er sie.

»Hier ist niemand, der uns sehen kann«, knurrte sie.

»Wie oft muss ich dir das noch sagen, Leilwin?« Das war der Name, den sie benutzte. Sie behauptete, er stamme aus Tarabon. Auf jeden Fall klang er nicht seanchanisch. »Wenn wir nur dann Händchen halten, wenn wir sehen, dass uns jemand beobachtet, wird uns jeder, den wir nicht sehen, für ein seltsames Liebespaar halten.«

Sie schnaubte verächtlich, wehrte sich aber nicht, als er den Arm wieder um sie legte und sie es ihm nachmachte. Aber sie schenkte ihm gleichzeitig einen warnenden Blick.

Mat schüttelte den Kopf. Sie war so verrückt wie ein Märzhase, wenn sie glaubte, ihm würde das Spaß machen. Die meisten Frauen hatten eine gewisse Polsterung über den Muskeln, zumindest die Frauen, die ihm gefielen, aber Egeanin zu umarmen war wie einen Zaunpfosten in den Arm zu nehmen. Fast genauso hart und definitiv genauso steif. Er konnte nicht verstehen, was Domon in ihr sah. Vielleicht hatte sie dem Illianer ja keine Wahl gelassen. Immerhin hatte sie den Mann gekauft, so wie man ein Pferd kaufte. Soll man mich zu Asche verbrennen, ich werde diese Seanchaner nie — mals verstehen, dachte er. Nicht, dass er es überhaupt wollte. Das Problem war nur, dass er es musste.

Als sie sich abwandten, warf er einen letzten Blick in Richtung Hafen und wünschte sich beinahe, er hätte es nicht getan. Zwei kleine Segelschiffe durchbrachen die breite Nebelwand, die sich langsam auf den Hafen herabsenkte. Gegen den Wind herabsenkte. Zeit zu verschwinden; eigentlich hätten sie schon längst weg sein müssen.

Vom Fluss bis zur Großen Nordstraße waren es fast mehr als zwei Meilen durch eine hügelige Landschaft, die von winterbraunem Gras und Unkraut bedeckt wurde und mit schlingpflanzendurchzogenen Gebüschen gesprenkelt war, die selbst jetzt in fast blätterlosem Zustand zu dicht waren, um sich hindurchzwängen zu können. Die Steigungen verdienten kaum die Bezeichnung Hügel, jedenfalls nicht für jemanden, der als Junge in den Verschleierten Bergen herumgeklettert war — Mat hatte Gedächtnislücken, aber an ein paar seiner Exkursionen konnte er sich erinnern —, doch es dauerte nicht lange, und er war froh, den Arm um jemanden legen zu können. Er hatte zu lange reglos auf dem verdammten Felsen gesessen. Das Pochen in seiner Hüfte war zu einem dumpfen Schmerz geschwunden, aber es ließ ihn noch immer hinken, und ohne eine Stütze wäre er auf den Abhängen ins Stolpern geraten. Nicht, dass er sich auf Egeanin stützte, natürlich nicht, aber sich an ihr festzuhalten half ihm, gleichmäßig zu gehen. Die Frau schaute ihn düster an, als glaubte sie, er wolle sich etwas herausnehmen.

»Wenn Ihr das tun würdet, was man Euch sagt«, knurrte sie, »müsste ich Euch nicht tragen.«

Er zeigte ihr wieder die Zähne, aber diesmal versuchte er nicht, es als Lächeln zu tarnen. Noal spazierte mühelos neben ihnen her; obwohl er den Korb mit den Fischen auf die eine Hüfte stützte und in der anderen Hand die Angelrute trug, ging er so sicher wie auf ebenem Gelände, und es war peinlich. So ausgemergelt der Alte auch aussah, so agil war er doch. Manchmal sogar zu agil.

Ihre Route führte sie nördlich am Himmelskreis vor — bei mit seinen langen Sitzreihen aus poliertem Stein, auf denen bei wärmerem Wetter reiche Gönner unter bunten Zeltplanen auf Kissen saßen und den Pferderennen zuschauten. Jetzt waren die Zeltbahnen und ihre Pfosten verstaut und die Pferde alle in ihren Ställen auf dem Land untergebracht — jedenfalls diejenigen, die die Seanchaner nicht genommen hatten —, und die Sitze waren bis auf ein paar Jungen leer, die die Reihen rauf- und runtersprangen und Fangen spielten. Mat mochte Pferde und Pferderennen, aber sein Blick glitt an dem Kreis vorbei in Richtung Ebou Dar. Jedes Mal, wenn er eine Anhöhe erklomm, waren die massiven weißen Stadtmauern sichtbar, auf denen eine Straße die ganze Stadt umkreiste, und der Anblick gab ihm einen Vorwand, einen Augenblick lang stehenzubleiben. Dumme Frau! Ein bisschen Hinken hieß noch lange nicht, dass sie ihn trug! Ihm gelang es, seine gute Laune zu behalten, es nicht zu ernst zu nehmen und sich nicht zu beschweren. Warum nicht also auch ihr?

In der Stadt funkelten weiße Dächer und Mauern, weiße Kuppeln und Türme, die mit schmalen Farbringen geschmückt waren, ein Bild des Friedens. Er konnte nicht die Lücken ausmachen, wo Häuser niedergebrannt waren. Eine lange Schlange aus Ochsenkarren mit hohen Rädern wälzte sich durch den breiten Torbogen, der sich auf die Große Nordstraße hin öffnete, Landleute auf ihrem Weg zu den Stadtmärkten, die das verkauften, was auch immer sie so spät im Winter noch anzubieten hatten, und in ihrer Mitte befand sich ein Kaufmannszug aus großen Planwagen, die von Gespannen mit sechs oder acht Pferden gezogen wurden, und allein das Licht wusste, wo die Waren herkamen, die sie transportierten. Sieben weitere Wagenzüge, die sich aus vier bis zehn Wagen zusammensetzten, standen am Straßenrand in einer Reihe und warteten darauf, dass die Torwächter ihre Inspektionen beendeten. Solange die Sonne schien, hörte der Handel nicht auf, ganz egal, wer eine Stadt beherrschte, es sei denn, es wurde gerade gekämpft. Und manchmal hörte er nicht einmal dann auf.

Der Menschenstrom in die andere Richtung bestand hauptsächlich aus Seanchanern, Soldaten in ihren mit Streifen bemalten Rüstungen und Helmen, die wie große Insektenköpfe aussahen. Einige von ihnen marschierten und andere ritten, Adlige, die immer im Sattel saßen und verzierte Umhänge, Reitgewänder und Spitzenschleier trugen oder Pluderhosen und lange Mäntel. Auch seanchanische Siedler verließen noch immer die Stadt, ein Wagen nach dem anderen voller Bauern und Handwerker und ihrem jeweiligen Handwerkszeug. Die Siedler waren unmittelbar nach dem Ausschiffen aufgebrochen, aber es würde Wochen dauern, bis sie alle weg waren. Es war ein friedlicher Anblick, alltäglich und gewöhnlich, wenn man außer Acht ließ, was geschehen war, aber jedes Mal, wenn sie an eine Stelle kamen, an der er die Tore sehen konnte, blitzte in Mat wieder die Erinnerung an den Augenblick vor sechs Nächten auf, und er war wieder da, am Tor.

Der Sturm war schlimmer geworden, als sie die Stadt vom Tarasin-Palast aus durchquert hatten. Der Regen fiel kübelweise, trommelte auf die dunkle Stadt herab und machte die Pflastersteine unter den Pferdehufen glitschig, und der Wind heulte vom Meer der Stürme heran und trieb den Regen wie aus Schleudern geschossene Steine vor sich her und riss an ihren Umhängen, sodass der Versuch, sich trocken zu halten, ein aussichtsloser Kampf war. Wolken verbargen den Mond, und die Sintflut schien das Licht der Stablaternen aufzusaugen, die Blaeric und Fen zu Fuß vor ihnen hertrugen. Dann betraten sie den langen Tunnel durch die Stadtmauer und fanden zumindest etwas Schutz vor dem Regen. Der Wind ließ den hohen Tunnel wie eine Flöte pfeifen. Die Torwächter warteten am anderen Ende des Durchgangs; vier von ihnen trugen ebenfalls Stablaternen. Ein weiteres Dutzend, die Hälfte davon Seanchaner, trugen Hellebarden, die einen Mann aus dem Sattel zerren konnten. Zwei Seanchaner mit abgenommenen Helmen schauten aus der Tür der hell erleuchteten Wachshabe, die in die weiß getünchte Stadtmauer hineingebaut war, und zuckende Schatten hinter ihnen verrieten, dass sich dort noch mehr von ihnen aufhielten. Zu viele, um sich lautlos an ihnen vorbeikämpfen zu können, vielleicht sogar zu viele, um sich überhaupt an ihnen vorbeikämpfen zu können.

Die Wächter waren sowieso nicht die eigentliche Gefahr. Eine hochgewachsene, pausbäckige Frau in Dunkelblau, auf deren knöchellangem Hosenrock rote Rechtecke mit Silberblitzen aufgenäht waren, trat an den Männern in der Wachstubentür vorbei. In der linken Hand der Sul'dam war eine lange, silberne Metallleine, deren anderes Ende sie mit der grauhaarigen Frau in einem dunkelgrauen Kleid verband, die ihr mit einem eifrigen Grinsen nach draußen folgte. Mat hatte gewusst, dass sie da sein würden. Die Seanchaner hatten mittlerweile an allen Toren Sul'dam und Damane platziert. Möglicherweise hielt sich sogar noch ein Paar oder auch zwei in der Stube auf. Sie dachten nicht im Traum daran, auch nur eine Frau, welche die Eine Macht lenken konnte, durch ihre Netze schlüpfen zu lassen. Das silberne Fuchskopf-Medaillon unter seinem Hemd lag kalt auf seiner Haut; es war nicht die Kälte, die signalisierte, dass in unmittelbarer Nähe jemand die Quelle umarmte, sondern bloß die Kälte der Nacht, und seine Haut war zu kalt, es zu erwärmen, aber er konnte nicht auf die anderen warten. Beim Licht, er jonglierte heute Nacht mit Feuerwerk, und die Lunten brannten!

Die Wächter hätten sich vielleicht gefragt, warum eine Adlige zusammen mit über einem Dutzend Bediensteten und einer Reihe Packpferde, die auf eine längere Reise hindeuteten, Ebou Dar mitten in der Nacht und dann noch bei diesem Wetter verließ, aber Egeanin gehörte dem Blut an, ihr Umhang zeigte einen aufgestickten Adler mit gespreizten schwarzweißen Schwingen, und ihre roten Reithandschuhe hatten lange Finger, um Platz für ihre Fingernägel zu lassen. Gewöhnliche Soldaten stellten nie in Frage, was das Blut tat, nicht einmal das rangniedrige Blut. Was nicht bedeutete, dass es keine Formalitäten gab. Jeder konnte die Stadt nach freiem Willen verlassen, aber die Seanchaner führten über die Bewegungen von Damane Buch, und im Gefolge ritten drei von ihnen. Sie hielten die Köpfe gesenkt, die Gesichter von den Kapuzen ihrer grauen Umhänge verborgen, und waren mit der silbernen Länge eines Adam mit einer Sul'dam verbunden.

Die pausbäckige Sul'dam ging an ihnen vorbei, ohne ihnen mehr als einen flüchtigen Blick zu widmen. Aber ihre Damane musterte jede Frau genau, sie spürte, ob sie die Macht lenken konnte, und Mat hielt den Atem an, als sie neben der letzten berittenen Damane mit einem leichten Stirnrunzeln verharrte. Selbst mit seinem Glück hätte er nicht gewettet, dass den Seanchanern das alterslose Gesicht einer Aes Sedai entging, wenn sie in die Kapuze hineinschauten. Es gab Aes Sedai, die als Damane gehalten wurden, aber wie wahrscheinlich war es, dass sich drei von ihnen bei Egeanin aufhielten? Beim Licht, wie standen die Chancen, dass eine vom niedrigen Blut drei von ihnen besaß?

Die pausbäckige Frau gab ein Schnalzen von sich, so wie man es vielleicht einem Schoßhund widmete, und zog am Adam, und die Damane folgte ihr. Sie hielten nach Marath'damane Ausschau, die der Leine zu entkommen versuchten. Mat glaubte noch immer zu ersticken. In seinem Kopf ertönte wieder das Klappern rollender Würfel, laut genug, um das gelegentliche Grollen fernen Donners zu übertönen. Etwas würde schief gehen; er wusste es.

Der Wachoffizier, ein stämmiger Seanchaner mit den schräg stehenden Augen eines Saldaeaners, aber blasser, honigbrauner Haut, verbeugte sich höflich und lud Egeanin in die Wachstube ein, dort einen Becher gewürzten Wein zu trinken, während der Schreiber die Angaben über die Damane notierte. Jede Wachstube, die Mat je gesehen hatte, war ein unfreundlicher Ort gewesen, aber das Lampenlicht, das durch die Schießscharten drang, ließ diese beinahe einladend erscheinen. Vermutlich erschien eine Fängerpflanze einer Fliege ebenfalls einladend. Er war froh über den Regen gewesen, der von seiner Kapuze getropft und sein Gesicht hinuntergelaufen war. Das Wasser verbarg den Schweiß der Anspannung. Er hielt eines seiner Wurfmesser; es lag flach auf dem langen Bündel, das vor ihm auf dem Sattel festgeschnallt war. Dort würde es keiner der Soldaten entdecken. Er konnte die Frau in dem Bündel unter seinen Händen atmen spüren, und die Muskeln seiner Schultern waren verspannt, weil er darauf wartete, dass sie um Hilfe rief. Selucia hielt ihr Pferd in seiner unmittelbaren Nähe, beobachtete ihn aus dem Schutz ihrer Kapuze heraus, den blonden Zopf außer Sicht versteckt, und wandte den Blick nicht einmal ab, als die Sul'dam mit ihrer Damane vorbeiging. Ein Ruf von Selucia hätte alles auffliegen lassen können, genau wie einer von Tuon. Er glaubte, dass die Drohung des Messers beide Frauen schweigen ließ — sie mussten einfach glauben, dass er verzweifelt oder verrückt genug war, um es zu benutzen —, aber er konnte sich dessen nicht sicher sein. In dieser Nacht gab es so vieles, dessen er sich nicht sicher sein konnte, so vieles, das aus dem Gleichgewicht und unberechenbar war.

In seiner Erinnerung hielt er erneut den Atem an und fragte sich, wann jemandem auffallen würde, dass das Bündel, das er transportierte, mit kostbaren Stickereien verziert war, und sich fragte, warum er es im Regen nass werden ließ; er verfluchte sich, dass er einen Wandbehang genommen hatte, nur weil er in der Nähe gewesen war. In der Erinnerung verlangsamte sich alles. Egeanin stieg ab und warf Domon ihre Zügel zu, der sie mit einer Verbeugung im Sattel auffing. Domons Kapuze war gerade weit genug zurückgerutscht, um zu zeigen, dass sein Schädel auf der einen Seite rasiert und sein restliches Haar zu einem Zopf geflochten war, der ihm bis zu den Schultern ging. Regen tropfte von dem kurzen Bart des kräftigen Illianers, dennoch schaffte er es, die halsstarrige Arroganz eines So'jhin zu bewahren, eines erbberechtigten Oberdieners einer des Blutes und somit dem Blut fast gleichgestellt. Auf jeden Fall von höherem Rang als ein gewöhnlicher Soldat. Egeanin warf einen Blick zurück zu Mat und seiner Last, das Gesicht eine erstarrte Maske, die als Hochmut durchgehen konnte, wenn man nicht wusste, dass sie von dem entsetzt war, was sie da taten. Die hochgewachsene Sul'dam und ihre Domäne kamen zurück, sie hatten ihre Kontrolle beendet.

Vanin, der direkt hinter Mat eine Kolonne Packpferde führte und wie immer wie ein Sack Mehl im Sattel saß, beugte sich vor und spuckte aus. Mat vermochte nicht zu sagen, warum das in seiner Erinnerung hängen geblieben war, aber das war es. Vanin spuckte aus, und weit hinter ihnen in der Ferne erscholl Trompetenschall. Aus dem Süden der Stadt, wo Männer geplant hatten, auf der Buchtstraße abgeladenen seanchanischen Nachschub in Brand zu setzen.

Der Offizier der Wache verharrte beim Ton der Trompeten, aber plötzlich fing mitten in der Stadt eine Glocke an zu läuten, dann noch eine, und dann hatte es den Anschein, als würden Hunderte von ihnen in der Nacht Alarm schlagen, während der schwarze Himmel von mehr Blitzen zerrissen wurde, als jeder Sturm jemals hervorgebracht hatte, silberblaue Blitze, die innerhalb der Stadtmauern in die Tiefe zuckten. Sie tauchten den Tunnel in flackerndes Licht. Das war der Augenblick, in dem die ersten Schreie ertönten, gefolgt von donnernden Explosionen in der Stadt.

Einen Augenblick lang verfluchte Mat die Windsucherinnen dafür, früher zugeschlagen zu haben, als sie ihm versprochen hatten. Aber dann wurde ihm klar, dass die Würfel in seinem Kopf verstummt waren.

Warum? Es wollte ihn losfluchen lassen, aber nicht einmal dazu war Zeit. Im nächsten Augenblick drängte der Offizier Egeanin eilig dazu, wieder in den Sattel zu steigen und ihre Reise fortzusetzen, dann rief er den Männern, die aus der Wachstube stürmten, Befehle zu und schickte einen in die Stadt hinein, um zu ergründen, worum es bei dem Alarm ging, während er die übrigen Männer gegen Bedrohungen von innen oder außen aufstellte. Die pausbäckige Frau rannte los, um zusammen mit ihrer Domäne zwischen den Soldaten Aufstellung zu nehmen, gefolgt von einem weiteren mit einem A'dam verbundenen Paar, das aus der Wachstube gelaufen kam. Und Mat und die anderen galoppierten hinaus in den Sturm, unter ihnen drei Aes Sedai, von denen zwei entflohene Damane waren, sowie die entführte Erbin des Kristallthrons von Seanchan, während sich hinter ihnen ein viel schlimmerer Sturm über Ebou Dar entlud. Blitze so zahlreich wie Grashalme...

Mit einem Schauder riss sich Mat zurück in die Gegenwart. Egeanin sah ihn finster an und zog ihn übertrieben fest weiter. »Liebespärchen beeilen sich nicht«, murmelte er. »Sie ... flanieren.« Sie verzog höhnisch die Lippen. Domon musste blind vor Liebe sein. Entweder das, oder er hatte zu viele Schläge auf den Kopf kassiert.

Das Schlimmste war vorbei. Mat hoffte jedenfalls, dass die Flucht aus der Stadt das Schlimmste gewesen war. Seitdem hatte er die Würfel nicht mehr gehört. Sie waren immer ein unheilverkündendes Zeichen gewesen. Seine Spuren waren so verwischt, wie es ihm möglich gewesen war, und er war davon überzeugt, dass man mindestens einen Glückspilz wie ihn brauchen würde, um das Gold vom Stroh zu trennen. Die Sucher hatten Egeanins Witterung bereits vor jener Nacht aufgenommen, und sie würde jetzt auch noch wegen des Diebstahls von Damane gesucht werden, aber die Behörden würden erwarten, dass sie ritt, so schnell sie konnte und bereits meilenweit von Ebou Dar entfernt war, statt in Sichtweite der Stadt zu verweilen. Abgesehen von einer zufälligen Zeitübereinstimmung brachte sie nichts mit Tuon in Verbindung. Oder mit Mat, und das war wichtig. Tylin hatte sicherlich ihre eigenen Anklagen gegen ihn vorgebracht — keine Frau würde einem Mann vergeben, dass er sie gefesselt unters Bett geschoben hatte, selbst wenn es ihr Vorschlag gewesen war —, aber mit etwas Glück würde er über jeden Verdacht erhaben sein, was die anderen Vorfälle jener Nacht betraf. Mit etwas Glück würde niemand außer Tylin einen Gedanken an ihn verschwenden. Eine Königin zu verschnüren wie ein für den Markt bestimmtes Schwein hätte für gewöhnlich mehr als nur ausgereicht, einem Mann den Tod zu bringen, aber neben dem Verschwinden der Tochter der Neun Monde war das nebensächlich, und was konnte Tylins Spielzeug damit zu tun haben? Es ärgerte ihn noch immer, dass man ihn als ein Anhängsel betrachtet hatte — schlimmer noch, als Spielzeug! —, aber es hatte auch seine Vorteile.

Er glaubte in Sicherheit zu sein — zumindest vor den Seanchanern —, aber eine Sache ließ ihm keine Ruhe, wie ein eingetretener Dorn. Nun, eigentlich waren es mehrere Dinge, die sich größtenteils aus Tuon ergaben, aber dieser Dorn hatte eine besonders lange Spitze. Tuons Verschwinden hätte so schockierend wie das Verschwinden der Sonne am Mittag sein sollen, aber es war kein Alarm gegeben worden! Nicht einer! Keine Belohnungen und keine Angebote für Lösegeld, keine heißblütigen Soldaten, die jeden Karren und jeden Wagen innerhalb von Meilen durchsuchten oder über das Land galoppierten, um jeden Verschlag und jedes Loch aufzuspüren, in dem man eine Frau hätte verstecken können. Die alten Erinnerungen verrieten ihm etwas über die Jagd nach entführten Adligen, aber abgesehen von den Galgen und den verbrannten Schiffen im Hafen erschien Ebou Dar nach außen hin genauso wie am Tag vor der Entführung. Egeanin behauptete, die Suche würde unter absoluter Geheimhaltung stattfinden, daher wüssten sogar viele Seanchaner noch nichts von Tuons Verschwinden. Ihre Erklärung hatte mit dem Entsetzen des Kaiserreichs und bösen Omen für die Wiederkehr und dem Verlust von Sei'taer zu tun, und sie hörte sich an, als sei sie fest davon überzeugt, aber Mat glaubte kein Wort davon. Die Seanchaner waren seltsame Leute, aber keiner konnte so seltsam sein. Die Stille in Ebou Dar ließ seine Haut jucken.

Er fühlte eine Falle in dieser Stille. Als sie die Große Nordstraße erreichten, war er dankbar, dass die Stadt hinter den Hügeln verborgen war.

Die Straße war eine große Überlandstraße, eine wichtige Handelsroute, breit genug, dass fünf oder sechs Wagen ungehindert nebeneinander herfahren konnten; Hunderte von Jahren der Benutzung hatten die Oberfläche aus Erde und Lehm so hart wie die uralten Pflastersteine gemacht, die gelegentlich am Rand oder einer Ecke ein paar Fingerbreit in die Höhe ragten. Mat und Egeanin eilten zwischen einem Handelszug, der auf die Stadt zurollte und von zehn Männern mit harten Augen in mit Eisenscheiben besetzten Lederwesten bewacht wurde, und einer Anzahl von Pferden, Maultieren oder Ochsen gezogenen Siedlerwagen, die vorn und hinten auf diese seltsame Weise spitz zuliefen, auf die andere Seite; Noal blieb ihnen dicht auf den Fersen. Zwischen den Wagen trieben barfüßige Jungen mit Stöcken vierhornige Ziegen mit langem, schwarzem Fell und große weiße Kühe mit langen Hautlappen. Hinter den Wagen führte ein Mann mit blauen Pluderhosen einen gewaltigen Bullen an einem dicken Seil an seinem Nasenring. Von der Kleidung einmal abgesehen, hätte er von den Zwei Flüssen stammen können. Er warf Mat und anderen, die in dieselbe Richtung gingen, einen Blick zu, als wollte er sie ansprechen, aber dann schüttelte er den Kopf und marschierte weiter, ohne noch einmal in ihre Richtung zu schauen. Wegen Mats Hinken gingen sie nicht besonders schnell, und die Siedler bewegten sich langsam, aber stetig.

Egeanin ging mit gekrümmten Schultern und hielt mit der freien Hand den Schal unter dem Kinn fest, dann seufzte sie und löste die Finger, die sich fast schon schmerzhaft in Mats Seite gegraben hatten. Einen Moment später richtete sie sich auf und starrte auf den Rücken des sich entfernenden Bauern, als wollte sie ihm hinterherstürmen und ihm und seinem Bullen eins auf die Ohren geben. Und als wäre das nicht schlimm genug, sobald der Bauer zwanzig Schritte entfernt war, richtete sie ihre finstere Miene auf eine Abteilung seanchanischer Soldaten, die in der Mitte der Straße in einem Tempo marschierte, das sie die Siedler bald überholen lassen würde, etwa zweihundert Mann in Viererreihe, denen von Maultieren gezogene Wagen mit festgezurrten Segeltuchplanen folgte. Die Straßenmitte war für Militärverkehr freigehalten. An der Spitze der Marschreihe ritten ein halbes Dutzend Offiziere mit Helmen, die lediglich ihre Augen freiließen, sie blickten weder nach rechts noch nach links, und ihre roten Umhänge waren ordentlich über die Kruppen ihrer Pferde ausgebreitet. Das Banner zeigte allem Anschein nach eine stilisierte silberne Pfeilspitze oder einen Anker, über dem sich ein langer Pfeil und ein gezackter Blitz in Gold kreuzten, darunter standen Zeichen und Ziffern, die Mat nicht lesen konnte, da Windböen das Banner in alle Richtungen flattern ließen. Die Männer auf den Proviantwagen trugen dunkelblaue Mäntel und rechteckige rotblaue Mützen, aber die Soldaten waren noch herausgeputzter als die meisten Seanchaner, die mit blauen Streifen versehene Segmentrüstung wies am unteren Ende einen silberweißen und roten, goldgelb abgesetzten Streifen auf, und die Helme waren mit allen vier Farben bemalt, sodass sie den Fratzen furcht einflößender Spinnen ähnelten. An der Vorderseite eines jeden Helms war ein großes Abzeichen mit dem Anker und dem gekreuzten Blitz und Pfeil befestigt — Mat hielt es jetzt für einen Anker —, und jeder Mann mit Ausnahme der Offiziere trug einen Bogen, einen gefüllten Köcher am Gürtel und auf der anderen Seite ein Kurzschwert.

»Schiffsbogenschützen«, murmelte Egeanin und starrte die Soldaten finster an. Ihre freie Hand ließ den Schal los, war aber noch immer zur Faust geballt. »Tavernenschläger. Die machen immer Ärger, wenn sie zu lange an Land sind.«

Auf Mat machten sie einen gut ausgebildeten Eindruck. Davon abgesehen hatte er noch nie von Soldaten gehört, die nicht in Raufereien verwickelt wurden, vor allem, wenn sie betrunken oder gelangweilt waren, und gelangweilte Soldaten neigten nun einmal dazu, sich zu betrinken. Er fragte sich, wie weit diese Bogen wohl trugen, aber es war ein flüchtiger Gedanke. Er wollte nichts mit irgendwelchen seanchanischen Soldaten zu haben. Wenn es nach ihm ging, würde er nie wieder etwas mit irgendwelchen Soldaten zu tun haben. Aber anscheinend reichte sein Glück dafür nicht aus. Schicksal und Glück waren zwei verschiedene Dinge. Höchstens zweihundert Schritte, entschied er. Eine gute Armbrust würde sie übertreffen. Oder jeder Bogen von den Zwei Flüssen.

»Wir sind aber nicht in der Taverne«, sagte er zwischen zusammengebissenen Zähnen, »und im Augenblick prügeln sie sich nicht. Und wollen auch keine Prügelei anfangen, nur weil Ihr Angst hattet, ein Bauer könnte Euch ansprechen.« Sie schob ihr Kinn vor und warf ihm einen Blick zu, der hart genug war, um ihm den Schädel zu spalten. Aber es war die Wahrheit. Sie hatte Angst, den Mund in der Nähe eines Fremden aufzumachen, der ihren Akzent erkennen konnte. Seiner Meinung nach war das eine kluge Vorsichtsmaßnahme, aber sie schien alles zu ärgern. »Wenn Ihr sie weiter so finster anstarrt, haben wir gleich einen Bannerträger hier, der Fragen stellt. Die Frauen im Umkreis von Ebou Dar sind berühmt für ihre Zurückhaltung«, log er. Was konnte sie schon von den hiesigen Bräuchen wissen?

Sie musterte ihn kurz von der Seite — vielleicht versuchte sie zu ergründen, was Zurückhaltung bedeutete —, aber sie hörte auf, die Bogenschützen anzustarren. Sie sah bereit aus, zu beißen statt zu schlagen.

»Der Bursche ist so dunkel wie ein Atha'an Miere«, murmelte Noal gedankenverloren und starrte die vorbeimarschierenden Soldaten an. »Dunkel wie ein Sharan. Aber ich könnte schwören, er hat blaue Augen. Ich habe solche Männer schon zuvor gesehen, aber wo?« Er wollte sich die Schläfe reiben und schlug sich mit der Bambusangel beinahe auf den Kopf, dann beschleunigte er seinen Schritt, als wollte er den Mann nach seinem Geburtsort fragen.

Mit einem Sprung erwischte Mat den alten Mann am Ärmel. »Wir gehen zurück zum Zirkus, Noal. Jetzt. Wir hätten ihn nie verlassen sollen.«

»Das habe ich Euch gleich gesagt«, meinte Egeanin mit einem energischen Nicken.

Mat stöhnte, aber er konnte bloß weitergehen. Oh, der Zeitpunkt, an dem sie hätten weg sein sollen, war vergangen. Er hoffte bloß, dass er nicht zu spät aufgebrochen war.

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