Nachmittägliches Sonnenlicht hätte durch die Fenster von Rands Schlafzimmer fallen sollen, aber draußen goss es in Strömen, und alle Lampen waren entzündet, um das Zwielicht zu vertreiben. Stetiger Donner ließ die kleinen Scheiben in den Fenstern erbeben. Es war ein wilder Sturm, der schneller als ein galoppierendes Pferd aus der Drachenmauer in die Tiefe gerollt war und eine schneidende Kälte mitgebracht hatte, die fast für Schnee ausreichte. Die Regentropfen, die gegen das Haus prasselten, waren zur Hälfte gefrorener Schneeregen, und trotz der hell lodernden Scheite im Kamin war es kühl im Raum.
Rand lag auf dem Bett, einen Stiefel auf den anderen gelegt, starrte den Betthimmel an und versuchte seine Gedanken zu ordnen. Den Sturm, der draußen wütete, konnte er vergessen, aber Min, die sich in seinen Arm schmiegte, war eine andere Sache. Sie wollte ihn nicht ablenken; sie tat es einfach so. Was sollte er mit ihr machen? Mit Elayne, mit Aviendha? Bei dieser Entfernung von Caemlyn waren diese beiden nur vage Eindrücke in seinem Bewusstsein. Er nahm jedenfalls an, dass sie sich noch immer in Caemlyn aufhielten. Wenn es um die beiden ging, waren Annahmen gefährlich. Im Augenblick spürte er von ihnen nur eine allgemeine Richtung und das Wissen, dass sie am Leben waren. Aber Mins Körper schmiegte sich eng an ihn, und der Bund machte sie in seinem Bewusstsein so lebendig, wie es ihr Fleisch war. War es zu spät, für Mins Sicherheit zu sorgen und auch für Elaynes und Aviendhas Sicherheit?
Wie kommst du darauf, du könntest für irgendjemandes Sicherheit sorgen? flüsterte Lews Therin in seinem Kopf. Der tote Wahnsinnige war jetzt ein alter Freund. Wir werden alle sterben. Du kannst nur hoffen, dass nicht du es bist, der sie ermordet. Kein willkommener Freund, bloß einer, den er nicht mehr loswurde. Er hatte jetzt keine Angst mehr, Min oder Elayne oder Aviendha zu töten, genauso wenig wie er sich nicht mehr davor fürchtete, den Verstand zu verlieren. Oder zumindest noch verrückter zu werden, als er schon war, mit einem Toten im Kopf und manchmal einem verschwommenen Gesicht, das er beinahe erkannte. Konnte er es wagen, Cadsuane nach ihnen zu fragen?
Vertraue niemandem, murmelte Lews Therin und lachte dann trocken. Einschließlich mir.
Ohne jede Vorwarnung stieß ihn Min hart genug in die Rippen, um ihn grunzen zu lassen. »Du wirst trübsinnig, Schafhirte«, knurrte sie. »Wenn du dir wieder Sorgen um mich machst, dann schwöre ich dir, dass ich...« Sie konnte auf so viele unterschiedliche Arten knurren, und jede passte zu den unterschiedlichsten Empfindungen, die durch den Bund übertragen wurden. Jetzt war da eine leichte Gereiztheit, der diesmal ein Hauch Sorge anhaftete, und manchmal war da auch ein scharfer Unterton, als müsste sie sich davon abhalten, ihm den Kopf abzureißen. Es gab ein Knurren, das ihn durch die Heiterkeit in seinem Kopf beinahe lachen ließ oder ihn zumindest in die Nähe eines Lachens brachte; es schien lange her zu sein, dass er das letzte Mal gelacht hatte. Und ein kehliges Knurren, das sein Blut auch ohne den Bund in Wallung gebracht hätte.
»Das kommt jetzt nicht in Frage«, warnte sie, bevor er die Hand bewegen konnte, die auf ihrem Rücken ruhte, rollte sich vom Bett und zog ihren Mantel mit einem vorwurfsvollen Blick zurecht. Seit sie mit ihm den Bund eingegangen war, war sie noch besser darin, seine Gedanken zu lesen, und sie war schon davor sehr gut darin gewesen.
»Was willst du wegen ihnen unternehmen, Rand? Was wird Cadsuane tun?« Blitze zuckten vor dem Fenster, beinahe hell genug, um die Lampen zu überstrahlen, Donner hallte gegen die Scheiben.
»Bis jetzt habe ich nie vorhersagen können, was sie tun wird, Min. Warum sollte es heute anders sein?«
Die dicke Federmatratze sackte unter ihm durch, als er die Beine über die Seite schwang und sich ihr gegenüber aufsetzte. Beinahe hätte er eine Hand gegen die alten Wunden an seiner Seite gedrückt, aber er bemerkte es rechtzeitig und veränderte die Bewegung, indem er den Mantel zuknöpfte. Zur Hälfte verheilt und doch niemals heilend schmerzten die beiden sich überschneidenden Wunden seit Shadar Logoth. Vielleicht war er sich auch nur stärker bewusst, wie sie pochten, wie ihre Hitze wie ein Schmiedeofen aus Fieber war, in einer Fläche gefangen kleiner als sein Handteller. Eine von ihnen würde jetzt, wo es Shadar Logoth nicht mehr gab, anfangen zu heilen — das hoffte er zumindest. Vielleicht war einfach noch nicht genug Zeit vergangen, um einen Unterschied zu fühlen. Es war nicht die Seite, gegen die ihn Min geboxt hatte — mit ihr ging sie immer sehr sanft um, wenn auch nicht immer mit dem Rest von ihm —, aber er glaubte, den Schmerz vor ihr verborgen zu haben. Es war sinnlos, ihr noch mehr zu geben, worüber sie sich sorgen konnte. Die Sorge in ihren Augen und ihrem Inneren musste von Cadsuane herrühren. Oder den anderen.
Das Herrenhaus und die Wirtschaftsgebäude waren jetzt bis unters Dach bevölkert. Es war unausweichlich erschienen, dass früher oder später jemand versuchen würde, sich die in Cairhien zurückgelassenen Behüter zunutze zu machen; ihre Aes Sedai hatten nicht lautstark verkündet, dass sie den Wiedergeborenen Drachen suchen wollten, aber sie waren nicht besonders verstohlen vorgegangen. Trotzdem hätte er nie mit denen gerechnet, die sie begleiteten. Davram Bashere mit hundert Mann seiner leichten saldaeanischen Infanterie, die im böigen, strömenden Regen abstiegen und sich über ruinierte Sättel beklagten. Über ein halbes Dutzend Asha'man in schwarzen Mänteln, die sich aus irgendeinem Grund nicht vor dem Wolkenbruch abgeschirmt hatten. Sie ritten mit Bashere, aber es war, als wären zwei Gruppen eingetroffen, die immer etwas Abstand voneinander hielten; das roch stark nach vorsichtigem Misstrauen. Und einer der Asha'man war Logain Ablar. Logain! Als Asha'man, der Schwert und Drachen am Kragen trug! Bashere und Logain wollten beide mit ihm sprechen, aber nicht vor anderen, und vor allem nicht in Gesellschaft des anderen. Unerwartet oder nicht, sie waren kaum die überraschendsten Besucher. Er hatte die acht Aes Sedai für weitere Freundinnen Cadsuanes gehalten, aber er hätte geschworen, dass sie genauso verblüfft waren wie er, sie zu sehen. Und was noch seltsamer war, bis auf eine schienen sie zu den Asha'man zu gehören! Keine Gefangenen, und sicherlich auch keine Wächterinnen, aber Logain hatte gezögert, es in Basheres Anwesenheit zu erklären, und Bashere hatte gezögert, Logain die erste Gelegenheit zu überlassen, allein mit Rand zu sprechen. Jetzt trockneten sie alle ihre Kleider und bezogen ihre Quartiere, sodass er seine Gedanken ordnen konnte. Soweit das möglich war, mit Min in der Nähe. Was würde Cadsuane tun? Nun, er hatte versucht, sie um Rat zu fragen. Aber die Ereignisse hatten sie beide überholt. Die Entscheidung war gefallen, ganz egal, was Cadsuane dachte. Wieder flackerten Blitze über die Scheiben. Blitze schienen zu Cadsuane zu passen. Man konnte nie sicher sein, wo sie einschlugen.
Alivia würde sie erledigen, murmelte Lews Therin. Sie wird uns beim Sterben helfen; sie würde Cadsuane für uns erledigen, wenn du es ihr befiehlst.
Ich will sie nicht töten, dachte Rand an den Toten gerichtet. Ich kann es mir nicht leisten, dass sie stirbt. Lews Therin wusste das genauso gut wie er, aber er murmelte weiter vor sich hin. Seit Shadar Logoth schien er manchmal eine Spur weniger verrückt zu sein. Vielleicht war auch Rand nur eine Spur verrückter. Schließlich sprach er täglich mit einem Toten, der sich in seinem Kopf eingenistet hatte, und das war wohl kaum normal.
»Du musst etwas tun«, murmelte Min und verschränkte die Arme unter der Brust. »Logains Aura kündet noch immer von Ruhm, stärker als je zuvor. Vielleicht hält er sich noch immer für den Wiedergeborenen Drachen. Und in den Bildern, die ich um Lord Davram sah, ist etwas... Dunkles. Wenn er sich gegen dich stellt oder stirbt... Ich habe einen der Soldaten sagen hören, dass Lord Dobraine womöglich sterben könnte. Selbst nur einen von ihnen zu verlieren würde ein harter Schlag sein. Verliere alle drei, und du könntest ein Jahr brauchen, um dich davon wieder zu erholen.«
»Wenn du es gesehen hast, dann wird es passieren. Ich muss tun, was ich kann, Min, und mich nicht wegen dem sorgen, was ich nicht kann.« Sie warf ihm einen jener Blikke zu, von denen Frauen so viele auf Lager hatten, so als hätte er versucht, einen Streit anzufangen.
Ein Kratzen an der Tür ließ ihn den Kopf drehen und Min den Stand verlagern. Er vermutete, dass sie ein Wurfmesser aus dem Ärmel geholt hatte und es hinter dem Handgelenk verbarg. Die Frau trug mehr versteckte Messer als Thom Merrilin. Oder Mat. Farben wirbelten durch sein Bewusstsein, verschmolzen beinahe zu... was? Ein Mann auf einem Kutschbock? Es war aber nicht das Gesicht, das manchmal in seinen Gedanken erschien, und die Szene war sofort wieder verschwunden, aber ohne die Benommenheit, die stets das Gesicht begleitete.
»Herein«, rief er.
Elza hob die Röcke für einen anmutigen Knicks, als sie eintrat; ihr leuchtender Blick heftete sich auf sein Gesicht.
Sie war eine Frau mit angenehmen Manieren und der kühlen Zufriedenheit einer Katze, und sie schien Min kaum wahrzunehmen. Von all den Schwestern, die ihm die Treue geschworen hatten, war Elza die eifrigste. Eigentlich sogar die Einzige, die eifrig war. Die anderen hatten ihre Gründe für den Treueid, ihre Erklärungen, und natürlich hatten Verin und die Schwestern, die ihn bei den Quellen von Dumai gefunden hatten, keine richtige Entscheidungsfreiheit mehr gehabt, da sie einem Ta'veren gegenüberstanden, aber trotz aller äußerlicher Kühle schien in Elzas Innerem das leidenschaftliche Verlangen zu brennen, dafür zu sorgen, dass er bis Tarmon Gai'don überlebte. »Ihr habt mir aufgetragen, Euch wissen lassen, wenn der Ogier kommt«, sagte sie und nahm nie den Blick von seinem Gesicht.
»Loial!«, rief Min begeistert und schob das Messer zurück in den Ärmel, als sie an Elza vorbeieilte, die bei dem Anblick der Klinge blinzelte. »Ich hätte Rand umbringen können, dass er dich auf dein Zimmer gehen ließ, bevor ich dich gesehen habe!« Der Bund verriet, dass sie es nicht so meinte. Jedenfalls nicht genauso.
»Danke«, sagte Rand zu Elza und lauschte den fröhlichen Lauten, die aus dem Wohnzimmer kamen, Mins helles Lachen und Loials grollendes Ogierlachen, so als würde die Erde selbst lachen. Donner grollte über den Himmel.
Vielleicht erstreckte sich die Leidenschaft der Aes Sedai darauf, wissen zu wollen, was er mit Loial besprach, denn ihre Lippen wurden schmal, und sie zögerte, bevor sie noch einen Knicks machte und aus dem Schlafgemach rauschte. Eine kurze Pause in den fröhlichen Lauten kündete von ihrer Passage durch das Wohnzimmer, und die Fortsetzung vom Verlassen des Zimmers. Erst dann griff er nach der Macht. Er versuchte, nie jemanden sehen zu lassen, wie er das tat.
Feuer heißer als die Sonne flutete in ihn hinein, Kälte, die den schlimmsten Wintersturm wie Frühling erscheinen ließ, drohte ihn hinwegzureißen, wenn er auch nur einen Augenblick lang nicht Acht gab. Saidin zu ergreifen war ein Krieg ums Überleben. Aber das Grün der Deckenverzierungen war plötzlich grüner, das Schwarz seines Mantels schwärzer, das Gold der Stickereien goldener. Er konnte die Maserung der wie Schlingpflanzen gestalteten Bettpfosten sehen, die feinen Unebenheiten, die das Schmirgeln des Handwerkers vor all den Jahren hinterlassen hatte. Saidin ließ ihn sich fühlen, als wäre er ohne es halb blind und halb taub. Das war ein Teil dessen, was er fühlte.
Sauber, flüsterte Lews Therin. Wieder sauber und rein.
Das stimmte. Die Fäulnis, die die männliche Hälfte der Macht seit der Zerstörung der Welt gezeichnet hatte, war verschwunden. Aber das verhinderte nicht, dass in Rand Übelkeit aufstieg, der unbezähmbare Drang, sich zu krümmen und seinen Mageninhalt auf den Boden zu spucken. Einen Augenblick lang schien sich der Raum um ihn zu drehen, und er musste nach dem Bettpfosten greifen, um sich zu stützen. Er wusste nicht, warum ihn noch immer diese Übelkeit überfiel, gab es die Fäulnis doch nicht mehr. Lews Therin wusste es auch nicht oder wollte es nicht verraten. Aber die Übelkeit war der Grund, warum er niemanden Zeuge werden lassen konnte, wie er Saidin ergriff, wenn es sich vermeiden ließ. Elza mochte darauf brennen, ihn bis zur Letzten Schlacht durchhalten zu sehen, aber es gab zu viele andere, die ihn stürzen sehen wollten, und es waren nicht nur Schattenfreunde.
In diesem Augenblick der Schwäche griff der Tote nach Saidin. Rand konnte fühlen, wie er gierig danach krallte. War es schwerer als früher, ihn zurückzustoßen? In mancherlei Hinsicht schien Lews Therin seit Shadar Logoth ein soliderer Teil von ihm zu sein. Es spielte keine Rolle. Er hatte nur noch ein kleines Stück zu gehen, bevor er sterben konnte. Er musste es nur bis dahin schaffen. Tief Luft holend ignorierte er die lauernden Spuren der Übelkeit in seinem Magen und marschierte ins Wohnzimmer, angekündigt von einem Donnerschlag.
Min stand in der Zimmermitte, hielt mit beiden Händen eine von Loials Pranken und strahlte ihn an. Sie brauchte beide, um eine von seinen riesigen Händen umfassen zu können, und sie schafften es nicht einmal annähernd. Sein Scheitel verfehlte die Stuckdecke um kaum mehr als einen Fuß. Er hatte einen sauberen Mantel aus dunkelblauer Wolle angezogen, der untere Teil bauschte sich über die voluminösen Hosen bis zu den Schäften seiner kniehohen Stiefel, aber ausnahmsweise beulten sich seine Taschen nicht mit den rechteckigen Umrissen von Büchern aus. Augen in der Größe von Teetassen leuchteten beim Anblick Rands auf, und das Grinsen seines breiten Mundes spaltete sein Gesicht buchstäblich in zwei Hälften. Die Pinselohren, die sich durch sein zotteliges Haar schoben, zitterten vor Freude.
»Lord Algarin hat Ogier-Gästezimmer, Rand«, verkündete er mit einer Stimme, die wie eine tiefe Trommel klang. »Kannst du dir das vorstellen? Sechs Stück! Natürlich sind sie schon seit einiger Zeit nicht mehr benutzt worden, aber sie werden jede Woche gelüftet, also gibt es da keine abgestandene Luft, und die Bettlaken sind aus feinstem Leinen. Ich dachte schon, ich müsste mich wieder in einem menschengroßen Bett zusammenkrümmen. Ah, wir werden nicht lange hier bleiben, oder?« Seine langen Ohren sackten ein Stück nach unten und begannen unbehaglich zu zucken. »Ich glaube nicht, dass wir es tun sollten. Ich meine, ich könnte mich an ein richtiges Bett gewöhnen, und das wäre nicht gut, wenn ich bei dir bleibe. Ich meine... Nun, du weißt, was ich meine.«
»Ich weiß«, sagte Rand leise. Er hätte über die Verwirrung lachen können. Er hätte lachen sollen. In letzter Zeit schien es ihm unmöglich zu sein, zu lachen. Er spannte ein Netz gegen Lauscher um den Raum und verknotete es, sodass er Saidin loslassen konnte. Die letzten Reste der Übelkeit verschwanden sofort. Für gewöhnlich konnte er sie mit einer Anstrengung kontrollieren, aber warum sollte er es tun, wenn es nicht notwendig war? »Sind deine Bücher nass geworden?« Loials Hauptsorge bei seiner Ankunft war es gewesen, seine Bücher zu überprüfen.
Plötzlich wurde ihm bewusst, dass er das, was er eben getan hatte, in seinen Gedanken als das Spinnen eines Netzes betrachtet hatte. So würde Lews Therin es nennen. So etwas geschah viel zu oft, die Redewendungen des anderen Mannes schlichen sich in seinen Kopf, die Erinnerungen des anderen vermengten sich mit den seinen. Er war Rand al'Thor, nicht Lews Therin Telamon. Er hatte einen Schutzschild gewebt und das Gewebe abgebunden und kein Netz gesponnen und es verknotet. Aber das eine fiel ihm so unbewusst ein wie das andere.
»Meine Essays von Willim von Maneches sind feucht geworden«, sagte Loial angewidert und rieb sich mit einem Finger von der Größe einer Wurst über die Oberlippe. Hatte er sich nachlässig rasiert, oder war das da unter der großen Nase der Anfang eines Schnurrbarts? »Die Seiten könnten fleckig werden. Ich hätte nicht so nachlässig sein dürfen, nicht mit einem Buch. Und mein Notizbuch hat auch Feuchtigkeit abbekommen. Aber die Tinte ist nicht verlaufen. Alles ist noch lesbar, aber ich muss mir wirklich einen Kasten machen, um sie zu schützen...« Langsam stahl sich ein besorgter Ausdruck auf sein Gesicht, was die langen Enden seiner Augenbrauen auf seine Wangen baumeln ließ. »Du siehst müde aus, Rand. Er sieht müde aus, Min.«
»Er hat zu viel gearbeitet, aber jetzt ruht er sich aus«, sagte Min entschuldigend, und Rand musste lächeln. Ein wenig. Min würde ihn immer verteidigen, selbst seinen Freunden gegenüber. »Du ruhst dich aus, Schafhirte«, fügte sie hinzu, ließ Loials riesige Hand los und stemmte die Fäuste in die Hüften. »Setz dich und ruh dich aus. Ach, Loial, setz dich doch bitte auch. Wenn ich weiter zu dir hochstarren muss, kriege ich noch einen Krampf im Nakken.«
Loial kicherte, das Brüllen eines Bullen, das gedämpft in seinem Hals aufstieg, als er einen der hochlehnigen Stühle misstrauisch untersuchte. Verglichen mit ihm schien der Stuhl für ein Kind gemacht zu sein. »Schafhirte. Du weißt gar nicht, wie schön es klingt, wenn du ihn einen Schafhirten nennst, Min.« Er setzte sich vorsichtig. Der mit Schnitzwerk verzierte Stuhl ächzte unter seinem Gewicht, seine Knie ragten vor ihm in die Höhe. »Es tut mir Leid, Rand, aber es ist witzig, und ich hatte in den letzten Monaten nicht viel zu lachen.« Der Stuhl hielt. Mit einem schnellen Blick zur Korridortür fügte er etwas zu laut hinzu: »Karldin hat nicht viel Sinn für Humor.«
»Du kannst frei sprechen«, sagte Rand. »Wir sind sicher hinter einem... Schutzgewebe.« Um ein Haar hätte er Schild gesagt, was nicht dasselbe war. Bloß dass er wusste, dass es das doch war.
Er war zu müde, um sich zu setzen, so wie er in den meisten Nächten zu müde war, um leicht Schlaf zu finden — seine Knochen schmerzten vor Müdigkeit —, also blieb er vor dem Kamin stehen. Winde heulten über den Schornstein, ließen die Flammen auf den Scheiten tanzen und sandten manchmal kleine Rauchwolken in den Raum, und er konnte den Regen gegen die Scheiben prasseln hören, aber Blitz und Donner schienen weitergezogen zu sein. Vielleicht hörte der Sturm auf. Er verschränkte die Hände hinter dem Rücken und wandte sich vom Feuer ab. »Was haben die Älteren gesagt, Loial?«
Anstelle einer direkten Antwort sah Loial Min an, als suchte er nach Unterstützung. Sie hockte mit untergeschlagenen Beinen auf der Kante eines blauen Lehnstuhls, lächelte den Ogier an und nickte. Er seufzte tief, ein Windstoß, der durch tiefe Höhlen fuhr.
»Karldin und ich haben jedes Stedding besucht, Rand. Das heißt, alle bis auf das Stedding Shangtai natürlich. Dort konnte ich nicht hingehen, aber ich habe überall eine Nachricht hinterlassen, und Daiting ist nicht weit von Shangtai entfernt. Jemand wird sie überbringen. Der Große Stumpf trifft sich in Shangtai, und das wird die Massen anziehen. Das ist seit tausend Jahren das erste Mal, dass ein Großer Stumpf einberufen wurde, es ist nicht mehr vorgekommen, seit ihr Menschen den Hundertjährigen Krieg geführt habt, und Shangtai war an der Reihe. Sie müssen etwas für sehr wichtig halten, aber niemand wollte mir verraten, warum man ihn einberufen hat. Sie erzählen einem nichts über einen Stumpf, bevor man einen Bart hat«, murmelte er und fingerte an den paar Stoppeln an seinem breiten Kinn herum. Offensichtlich hatte er vor, diesen Mangel zu beheben, aber Rand bezweifelte, dass er es schaffen würde. Loial war jetzt über neunzig Jahre alt, aber für einen Ogier war er noch immer ein Junge.
»Die Älteren?«, fragte Rand geduldig. Mit Loial musste man geduldig sein, so wie mit jedem Ogier. Sie nahmen Zeit nicht auf die gleiche Weise wie Menschen wahr — welcher Mensch würde schon daran denken, dass nach tausend Jahren ein anderer an der Reihe war? —, und Loial neigte dazu, langatmig zu sein, wenn man ihn ließ.
Loials Ohren zuckten, er warf Min noch einen Blick zu und erhielt im Gegenzug ein weiteres aufmunterndes Lächeln. »Nun, wie ich bereits sagte, ich habe außer Shangtai alle Stedding besucht. Karldin wollte sie nicht betreten. Er schlief lieber jede Nacht unter einem Busch, als auch nur eine Minute von der Quelle abgeschnitten zu sein.« Rand sagte kein Wort, aber Loial hob die Hände von den Knien und streckte die Handflächen aus. »Ich komme zu dir, Rand, ich bin an deiner Seite. Ich habe getan, was ich konnte, aber ich weiß nicht, ob es ausgereicht hat. Das Stedding in den Grenzländern hat mir befohlen, nach Hause zu gehen und die Sache älteren und klügeren Köpfen zu überlassen. Das haben auch Shadoon und Mardoon in den Bergen an der Schattenküste. Die anderen Stedding haben eingewilligt, die Wegetore zu bewachen. Ich glaube nicht, dass sie wirklich davon überzeugt sind, dass eine Gefahr droht, aber sie haben zugestimmt, also werden sie sie genau im Auge behalten. Und ich bin davon überzeugt, dass jemand Shangtai informieren wird. Den Älteren in Shangtai hat es nie gefallen, ein Wegetor direkt außerhalb ihres Stedding zu haben. Ich muss den Älteren Haman mindestens hundertmal sagen gehört haben, dass es gefährlich ist. Ich weiß, dass sie einwilligen werden, es zu bewachen.«
Rand nickte bedächtig. Ogier logen nie, und die wenigen, die den Versuch unternahmen, waren darin so schlecht, dass sie es nur selten ein zweites Mal versuchten. Das Wort eines Ogiers wurde so ernst genommen wie der Eidschwur eines jeden anderen. Die Wegetore würden schwer bewacht werden. Bis auf die in den Grenzländern und in den Bergen südlich von Amadicia und Tarabon. Mit den Toren konnte man vom Rückgrat der Welt zum Aryth-Meer reisen, und von den Grenzländern zum Meer der Stürme, und das alles in einer seltsamen Welt außerhalb der Gesetze der Zeit, vielleicht auch nebenher. Zwei Tage auf den Kurzen Wegen konnten einen hundert Meilen weit bringen oder auch fünfhundert, es kam auf die Pfade an, die man wählte. Und solange man bereit war, die Gefahren nicht zu scheuen. Auf den Kurzen Wegen konnte man sehr schnell sterben oder Schlimmeres. Die Wege waren schon vor langer Zeit entartet. Aber Trollocs war das egal, jedenfalls solange sie von Myrddraal angetrieben wurden. Und neun Wegetore würden unbewacht bleiben, was die Gefahr barg, dass sich jedes von ihnen öffnen und Zehntausende Trollocs ausspeien konnte. Ohne die Zusammenarbeit mit einem Stedding würde es vermutlich unmöglich sein, auch nur irgendeine Art von Wachtposten zu schaffen. Viele Menschen glaubten nicht an die Existenz der Ogier, und von denen, die es taten, wollten sich nur wenige einmischen. Womöglich die Asha'man, wenn Rand genug gehabt hätte, denen er vertrauen konnte.
Plötzlich wurde ihm bewusst, dass er hier nicht als Einziger müde war. Loial sah erschöpft und blass aus. Sein Mantel war zerknittert und hing an seinem Körper. Für einen Ogier war es gefährlich, zu lange von einem Stedding fernzubleiben, und Loial hatte sein Zuhause vor fast fünf Jahren verlassen. Vielleicht hatten die kurzen Besuche im Laufe der vergangenen Monate nicht ausgereicht. »Vielleicht solltest du jetzt nach Hause gehen, Loial. Stedding Shangtai ist nur wenige Tage von hier entfernt.«
Loials Stuhl knirschte alarmierend, als er sich kerzengerade aufsetzte. Auch seine Ohren schossen alarmiert in die Höhe. »Rand, dort ist meine Mutter. Sie ist eine berühmte Sprecherin. Sie würde niemals einen Großen Stumpf versäumen.«
»Sie kann unmöglich schon den ganzen Weg von den Zwei Flüssen gekommen sein«, sagte Rand. Angeblich war Loials Mutter auch eine berühmte Wanderin, aber selbst für Ogier gab es Grenzen.
»Du kennst meine Mutter nicht«, murmelte Loial, eine Trommel, die düster dröhnte. »Und sie wird noch immer Erith im Schlepptau haben. Bestimmt sogar.«
Min beugte sich dem Ogier zu, ein gefährliches Funkeln in den Augen. »So wie du über Erith sprichst, weiß ich, dass du sie heiraten willst, warum also läufst du weiter vor ihr weg?«
Rand musterte sie vom Kamin aus. Heirat. Aviendha nahm an, dass er sie heiraten würde, und nach Aiel-Sitte Elayne und Min auch. Elayne schien das ebenfalls zu glauben, so seltsam das auch erschien. Er war jedenfalls dieser Ansicht. Was dachte Min? Sie hatte es nie ausgesprochen. Er hätte niemals zulassen dürfen, dass sie mit ihm den Bund einging. Der Bund würde sie alle in Trauer ersticken lassen, wenn er starb.
Loials Ohren zitterten jetzt vor Vorsicht. Diese Ohren waren einer der Gründe, warum Ogier so schlechte Lügner abgaben. Er machte beschwichtigende Gesten, als wäre Min die größere von ihnen. »Nun, ich möchte es ja, Min. Natürlich möchte ich. Erith ist sehr schön und scharfsinnig. Habe ich dir je erzählt, wie aufmerksam sie mir zugehört hat, als ich ihr erklärt habe, wie...? Natürlich habe ich das. Ich erzähle das jedem. Ich will sie heiraten. Aber noch nicht. Das ist nicht so wie bei euch Menschen, Min. Du tust alles, was Rand sagt. Erith wird von mir erwarten, dass ich mich niederlasse und zu Hause bleibe. Ehefrauen lassen ihre Männer niemals irgendwo hingehen, wenn es bedeutet, dass sie das Stedding für länger als ein paar Tage verlassen müssen. Ich muss mein Buch beenden, und wie kann ich das, wenn ich nicht alles miterlebe, was Rand tut? Ich bin sicher, er hat alle möglichen Dinge getan, seit ich Cairhien verlassen habe, und ich weiß, dass ich niemals alles richtig niederschreiben werde. Erith würde das nicht verstehen. Min? Min, bist du böse auf mich?«
»Wie kommst du auf die Idee, ich könnte dir böse sein?«, fragte sie kühl.
Loial seufzte schwer und offensichtlich so erleichtert, dass Rand ihn beinahe angestarrt hätte. Beim Licht, der Ogier glaubte tatsächlich, sie sei nicht wütend! Rand wusste, dass er sich im Dunkeln seinen Weg ertastete, wenn es um Frauen ging, selbst um Min — vielleicht vor allem, wenn es um Min ging —, aber Loial sollte besser noch viel lernen, bevor er seine Erith heiratete. Sonst würde sie ihm wie einer kranken Ziege die Haut vom Leib ziehen. Besser, ihn aus dem Zimmer zu schaffen, bevor Min Eriths Arbeit tat. Rand räusperte sich.
»Schlaf eine Nacht drüber, Loial«, sagte er. »Vielleicht denkst du morgen früh anders darüber.« Insgeheim hoffte er, dass Loial es tat. Der Ogier war zu lange von zu Hause weg gewesen. Aber ein anderer Teil von ihm... Er konnte Loial gebrauchen, wenn das, was Alivia ihm über die Seanchaner erzählt hatte, die Wahrheit war. Manchmal ekelte er sich vor sich selbst. »Aber ich muss jetzt mit Bashere sprechen. Und Logain.« Sein Mund spannte sich, als er den Namen aussprach. Wieso trug Logain das Schwarz der Asha'man?
Loial stand nicht auf. Stattdessen wurde seine Miene noch sorgenvoller. »Rand, da gibt es etwas, das ich dir sagen muss — über die Aes Sedai, die uns begleitet haben.« Draußen zuckten neue Blitze, als er fortfuhr, und der Donner krachte lauter als je zuvor. Bei einigen Stürmen bedeutete eine Atempause nur, dass das Schlimmste noch kam.
Ich habe dir gesagt, du sollst sie alle umbringen, als du noch die Chance dazu hattest, lachte Lews Therin. Ich habe es dir gesagt.
»Seid Ihr sicher, dass man ihnen den Bund aufgezwungen hat, Samitsu?«, fragte Cadsuane streng. Und laut genug, um trotz des Donners gehört zu werden, der sich über dem Dach des Herrenhauses entlud. Donner und Blitz passten zu ihrer Stimmung. Sie hätte gern geknurrt. Es kostete sie einiges ihrer Ausbildung und Erfahrung, ganz ruhig dazusitzen und an dem heißen Ingwertee zu nippen. Sie hatte schon seit langer Zeit nicht mehr zugelassen, dass ihre Gefühle die Oberhand gewannen, aber sie wollte etwas beißen. Oder jemanden.
Auch Samitsu hielt eine Porzellantasse, aber sie hatte noch keinen Tropfen getrunken und auch den angebotenen Stuhl ignoriert. Die schlanke Schwester wandte sich von dem linken Kamin ab, in dessen Flammen sie geschaut hatte, und die Glöckchen in ihrem Haar bimmelten, als sie den Kopf schüttelte. Sie hatte sich nicht die Mühe gemacht, ihr Haar richtig zu trocknen, und es hing ihr feucht und schwer auf den Rücken hinunter. Ihre haselnussbraunen Augen blicken unbehaglich. »Das ist kaum eine Frage, die ich einer Schwester stellen konnte, oder, Cadsuane? Und sie haben es mir bestimmt nicht erzählt. Wer würde das auch tun? Zuerst nahm ich an, sie hätten es wie Merise und Corele gemacht. Und die arme Daigian.« Ein kurzer Ausdruck von Mitleid flackerte über ihr Gesicht. Sie kannte den Schmerz genau, den Daigian wegen ihres Verlusts durchlitt. Den kannte jede Schwester, die über ihren ersten Behüter hinaus war, nur allzu gut. »Aber es ist offensichtlich, dass Toveine und Gabrelle beide zu Logain gehören. Ich glaube, Gabrelle geht mit ihm ins Bett. Wenn ein Bund geschlossen wurde, dann waren es die Männer, die ihn gemacht haben.«
»Dann haben sie den Spieß umgedreht«, murmelte Cadsuane in ihren Tee. Manche waren der Ansicht, dass so etwas nur fair war, aber sie hatte nie viel davon gehalten, fair zu kämpfen. Entweder man kämpfte oder man es ließ es sein, und es war nie ein Spiel. Fairness war etwas für Leute, die an der sicheren Seite standen und redeten, während die anderen bluteten. Unglücklicherweise konnte sie nur wenig tun, außer zu versuchen, eine Möglichkeit zu finden, die Ereignisse auszugleichen. Ausgleich war nicht das Gleiche wie Fairness. »Ich bin froh, dass Ihr mich wenigstens gewarnt habt, bevor ich Toveine und die anderen sehe, aber ich will, dass Ihr morgen nach Cairhien zurückkehrt.«
»Ich konnte nichts tun, Cadsuane«, sagte Samitsu verbittert. »Die Hälfte der Leute, denen ich einen Befehl gab, hat angefangen, ihn sich bei Sashalle bestätigen zu lassen, um zu sehen, ob er auch richtig war, und die andere Hälfte hat mir ins Gesicht gesagt, dass sie bereits etwas anderes befohlen hat. Lord Bashere hat sie überredet, die Behüter abreisen zu lassen — ich habe nicht die geringste Ahnung, wie er überhaupt von ihnen erfahren hat —, und sie hat Sorilea dazu überredet, und ich konnte nichts dagegen tun. Sorilea hat sich benommen, als wäre ich gerade von meinem Posten zurückgetreten! Sie begreift es nicht, und sie hat deutlich gemacht, dass sie mich für eine Närrin hält. Es ist völlig sinnlos, wenn ich zurückgehe, es sei denn, Ihr erwartet von mir, dass ich Sashalle die Handschuhe trage.«
»Samitsu, ich erwarte, dass Ihr sie im Auge behaltet, nichts weiter. Ich will wissen, was die Drachenverschworenen Schwestern tun, wenn weder ich noch die Weisen Frauen ihnen über die Schultern sehen und eine Rute halten. Ihr wart immer sehr aufmerksam.« Geduld war nicht immer ihre stärkste Seite, aber bei Samitsu brauchte man sie manchmal. Die Gelbe war aufmerksam und intelligent und meistens auch von einem starken Willen geprägt, ganz zu schweigen davon, dass sie am lebendigsten war, wenn es ums Heilen ging — zumindest bis Damer Flinn auf der Bildfläche erschienen war —, aber ihr Selbstvertrauen konnte auf erstaunliche Weise zusammenbrechen. Der Stock funktionierte bei Samitsu nie, aber ein Schulterklopfen schon, und es war albern, das, was funktionierte, nicht zu benutzen. Als Cadsuane sie daran erinnerte, wie klug sie war und wie geschickt im Heilen — das war bei Samitsu immer nötig; sie hätte in tiefe Depressionen verfallen können, weil es ihr nicht gelungen war, einen Toten zu heilen —, lebte die Schwester aus Arafel auf und gewann an Selbstbewusstsein.
»Ihr könnt sicher sein, dass Sashalle nicht ihre Strümpfe wechselt, ohne dass ich es weiß«, sagte sie energisch. In Wahrheit erwartete Cadsuane auch nicht weniger. »Aber wenn Ihr nichts gegen die Frage habt...« — mit neu erwachtem Selbstbewusstsein ließ Samitsu das gerade noch eben höflich klingen; sie war nicht schüchtern, es sei denn, ihr Selbstbewusstsein hatte einen Schlag erlitten — »... warum seid Ihr hier, im tiefsten Tear? Was hat der junge al'Thor vor? Oder sollte ich lieber sagen, was wollt Ihr, dass er tun soll?«
»Er hat etwas sehr Gefährliches vor«, erwiderte Cadsuane. Draußen vor den Fenstern zuckten Blitze auf, scharf umrissene silberne Zacken an einem Himmel, der fast so finster wie die Nacht war. Sie wusste genau, was er vorhatte. Sie wusste nur nicht, ob sie es verhindern sollte.
»Das muss aufhören!«, donnerte Rand, was vom Krachen am Himmel untermalt wurde. Er hatte vor dem Gespräch den Mantel ausgezogen und die Ärmel aufgerollt, um die Drachen zu entblößen, die sich scharlachrot und golden um seine Unterarme schlängelten und deren goldmähnige Köpfe auf seinen Handrücken ruhten. Er wollte den Mann vor ihm mit jedem Blick daran erinnern, dass er dem Wiedergeborenen Drachen gegenüberstand. Aber seine Hände waren zu Fäusten geballt, um ihn davon abzuhalten, Lews Therins Drängen nachzugeben und den verfluchten Logain Ablar zu erwürgen. »Ich brauche keinen Krieg mit der verfluchten Weißen Burg, und ihr verfluchten Asha'man werdet mir auf keinen Fall einen Krieg mit der Weißen Burg einbrocken! Habe ich mich verständlich ausgedrückt?«
Logain, dessen Hände locker auf dem langen Griff seines Schwerts ruhten, zuckte nicht zusammen. Er war ein großer Mann, wenn auch kleiner als Rand, mit einem ruhigen Blick, der nicht verriet, dass er zurechtgestutzt oder zur Rechenschaft gezogen worden war. Das silberne Schwert und der rotgoldene Drachen am hohen Kragen seines schwarzen Mantels glitzerte hell im Lampenlicht, und der Mantel selbst sah frisch aufgebügelt aus. »Befehlt Ihr, dass wir sie freigeben?«, fragte er ruhig. »Werden die Aes Sedai die unsrigen freigeben, die sie sich genommen haben?«
»Nein!«, sagte Rand kurz angebunden. Und mürrisch.
»Was getan wurde, kann nicht ungeschehen gemacht werden.« Merise war so schockiert gewesen, als er vorgeschlagen hatte, Narishma freizulassen, dass man hätte denken können, er hätte sie gebeten, einen jungen Welpen am Straßenrand auszusetzen. Und er vermutete, dass sich Flinn genauso verbissen dagegen wehren würde, von Corele getrennt zu werden, wie sie auch; er war sich ziemlich sicher, dass zwischen ihnen mehr als nur der Bund war. Nun, wenn es einer Aes Sedai möglich war, sich mit einem Mann zu verbinden, der die Macht lenken konnte, wieso sollte sich eine hübsche Frau da nicht mit einem alten Mann abgeben? »Ihr begreift nicht, welchen Schlamassel ihr da angerichtet habt, oder? Im Augenblick will Elaida nur einen Mann am Leben sehen, der die Macht lenken kann, und das bin ich, und das auch nur, bis die Letzte Schlacht vorbei ist. Sobald sie davon erfährt, wird sie noch begieriger darauf sein, euch alle tot zu sehen, auf welche Weise auch immer sie es schafft. Ich weiß nicht, wie der Rest des Haufens reagieren wird, aber Egwene ist stets eine harte Verhandlungspartnerin gewesen. Möglicherweise muss ich Asha'man für Aes Sedai abgeben, mit denen sie sich verbinden können, bis sie so viele von euch haben wie ihr von ihnen. Und das auch nur, solange sie nicht einfach die Entscheidung treffen, euch alle zu töten, sobald sie das arrangieren können. Was geschehen ist, ist geschehen, aber damit kann es nicht weitergehen!«
Logain versteifte sich bei jedem Wort etwas mehr, aber sein Blick ließ Rand nicht los. Es war offensichtlich, dass er alle anderen im Zimmer ignorierte. Min hatte mit diesem Treffen nichts zu tun haben wollen und sich zum Lesen zurückgezogen; Rand fand Herid Fels Bücher unverständlich, aber sie fand sie faszinierend. Aber er hatte darauf bestanden, dass Loial blieb, und der Ogier gab vor, die Flammen im Kamin zu studieren. Wenn er nicht mit zuckenden Ohren zu Boden blickte, so als würde er sich fragen, ob er im Schutz des Sturms unbemerkt verschwinden konnte. Davram Bashere erschien neben dem Ogier kleiner, als er wirklich war, ein Mann mit ergrauenden Haaren, dunklen Augen, einer Hakennase und einem dicken Schnurrbart, der seinen Mund umrahmte. Auch er trug sein Schwert, dessen Klinge kürzer als Logains war. Bashere verbrachte mehr Zeit damit, in seinen Wein zu schauen als sonst wohin, aber jedes Mal, wenn sein Blick auf Logain fiel, fuhr er unbewusst mit dem Daumen über den Schwertgriff. Rand hielt es zumindest für unbewusst.
»Taim gab den Befehl«, sagte Logain, dem es nicht behagte, sich vor Publikum rechtfertigen zu müssen. Ein plötzlicher Blitz in der Nähe des Hauses tauchte sein Gesicht einen Augenblick lang in einen bleichen Schatten, eine düstere Maske der Dunkelheit. »Ich nahm an, er käme von Euch.« Sein Blick glitt ein Stück in Basheres Richtung, sein Mund spannte sich. »Taim tut viele Dinge, von denen die Leute glauben, dass es auf Eure Anweisung hin geschieht«, fuhr er zögerlich fort, »aber er hat seine eigenen Pläne. Flinn, Narishma und Manfor stehen auf der Deserteursliste, so wie jeder Asha'man, den Ihr bei Euch behalten habt. Und er hat eine Gruppe aus zwanzig oder dreißig Mann, die er in seiner Nähe hält und unter der Hand ausbildet. Jeder Mann, der den Drachen trägt, gehört dazu, außer mir, und er hätte mir den Drachen vorenthalten, wenn er es gewagt hätte. Ganz egal, was Ihr gemacht habt, es ist Zeit, Euren Blick auf die Schwarze Burg zu richten, bevor Taim sie schlimmer spaltet, als es die Weiße Burg ist. Wenn er das tut, werdet Ihr merken, dass der größte Teil loyal zu ihm steht, nicht zu Euch. Ihn kennen sie. Euch haben die meisten nie gesehen.«
Gereizt zog Rand die Ärmel nach unten und ließ sich auf einen Stuhl fallen. Was er getan hatte, spielte für Logain keine Rolle. Der Mann wusste, dass Saidin sauber war, aber er konnte nicht glauben, dass Rand oder ein anderer diese Säuberung tatsächlich zustande gebracht hatte. Glaubte er ernsthaft, dass der Schöpfer nach dreitausend Jahren des Leids sich dazu entschieden hatte, eine gnädige Hand auszustrecken? Der Schöpfer hatte die Welt erschaffen und es dann der Menschheit überlassen, damit zu machen, was sie wollte, einen Himmel oder die Grube des Verderbens. Der Schöpfer hatte viele Welten erschaffen und zugesehen, wie sie erblühten oder vergingen, und damit weitergemacht, eine endlose Zahl von Welten zu erschaffen. Ein Gärtner weinte nicht um jede Blüte, die zu Boden fiel.
Einen Augenblick lang glaubte er, dass das Lews Therins Gedanken gewesen waren. Er hatte auf diese Weise nie über den Schöpfer oder alles andere nachgedacht; nicht soweit er sich erinnern konnte. Aber er fühlte, wie Lews Therin anerkennend nickte, ein Mann, der einem anderen zuhörte. Dennoch, es war nicht die Art Sache, über die er vor Lews Therin nachgedacht hätte. Wie viel Abstand blieb zwischen ihnen?
»Taim wird warten müssen«, sagte er müde. Wie lange konnte Taim warten? Es überraschte ihn, Lews Therin nicht wüten zu hören, er solle den Mann töten. Er wünschte sich, das hätte ihn erleichtert. »Seid Ihr nur gekommen, um dafür zu sorgen, dass Logain mich sicher erreicht, Bashere, oder um mir zu erzählen, dass jemand Dobraine niedergestochen hat? Oder habt Ihr auch eine dringende Aufgabe für mich?«
Rands Tonfall ließ Bashere eine Braue heben, und ein Blick auf Logain ließ seinen Kiefer sich anspannen, aber nach einem Moment schnaubte er so laut, dass sein dicker Schnurrbart eigentlich hätte wackeln müssen. »Zwei Männer haben mein Zelt durchwühlt«, sagte er und stellte seinen Pokal auf einem blauen Tisch an der Wand ab. »Einer legte ein Schreiben vor, von dem ich geschworen hätte, es selbst geschrieben zu haben, wenn ich es nicht besser wüsste. Den Befehl, ›gewisse Gegenstände‹ wegzuschaffen. Loial hat mir erzählt, dass der Bursche, der Dobraine niederstach, das gleiche Schreiben hatte, anscheinend in Dobraines Handschrift. Mit ein bisschen Nachdenken hätte ein Blinder sehen können, worauf sie aus waren. Dobraine und ich sind die offensichtlichsten Kandidaten, um für Euch die Siegel zu hüten. Ihr habt drei, und Ihr sagt, dass drei gebrochen sind. Vielleicht weiß der Schatten, wo das letzte ist.«
Loial hatte sich vom Kamin abgewandt, als der Saldaeaner sprach, und jetzt brach es aus ihm heraus: »Das ist ernst, Rand. Wenn jemand alle Siegel am Gefängnis des Dunklen Königs bricht oder vielleicht auch nur eins oder zwei mehr, könnte sich der Dunkle König möglicherweise befreien. Nicht einmal du kannst dem Dunklen König gegenübertreten. Ich meine, ich weiß, dass du es laut den Prophezeiungen tun wirst, aber das kann nur symbolisch gemeint sein.« Sogar Logain sah besorgt aus; er musterte Rand, als würde er ihn gegen den Dunklen König aufrechnen.
Rand lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und achtete sorgfältig darauf, seine Müdigkeit nicht zu zeigen. Auf der einen Hand die Siegel auf dem Gefängnis des Dunklen Königs, auf der anderen Taim, der die Asha'man spaltete. War das siebte Siegel bereits gebrochen? Machte der Schatten die Eröffnungszüge der Letzten Schlacht? »Ihr habt mir mal eines gesagt, Bashere. Bietet dir dein Feind zwei Ziele an...«
»Schlage bei einem dritten zu«, beendete Bashere den Satz prompt, und Rand nickte. Er hatte sich sowieso längst entschieden. Donner ließ die Fenster erzittern, bis die Scheiben klirrten. Der Sturm nahm an Stärke zu.
»Ich kann nicht gleichzeitig gegen den Schatten und die Seanchaner kämpfen. Ich schicke euch drei los, einen Waffenstillstand mit den Seanchanern zu schließen.«
Bashere und Logain schien es die Sprache verschlagen zu haben. Bis sie anfingen zu protestieren, einer lauter als der andere. Loial hingegen sah aus, als wäre er einer Ohnmacht nahe.
Elza zappelte unruhig hin und her und hörte sich Fearils Bericht über die Ereignisse an, die sich zugetragen hatten, seit sie Cairhien verlassen hatte. Es war nicht die raue Stimme des Mannes, die sie nervös machte. Sie hasste Blitze und wünschte sich, sie könnte das grelle Licht, das in ihrem Fenster flackerte, genauso mit einem Gewebe fern halten, wie sie ihr Zimmer vor Lauschern gesichert hatte. Niemand würde ihren Wunsch nach Privatsphäre seltsam finden, da sie zwanzig Jahre damit verbracht hatte, die Welt davon zu überzeugen, dass sie mit dem blonden Mann verheiratet war. Trotz seiner Stimme sah Fearil wie die Sorte Mann aus, die eine Frau heiraten würde, groß und schlank und recht ansehnlich. Der harte Schwung seines Mundes war vorteilhaft für sein Gesicht. Natürlich konnten — wenn man einmal darüber nachdachte — es einige für merkwürdig halten, dass sie nie mehr als einen Behüter hatte. Es war schwer, einen Mann mit der nötigen Befähigung zu finden, aber vielleicht sollte sie anfangen, danach Ausschau zu halten. Wieder tauchte ein Blitz das Fenster in sein Licht.
»Ja, ja, es reicht«, unterbrach sie ihn schließlich. »Du hast das Richtige getan, Fearil. Es hätte merkwürdig ausgesehen, hättest du dich als Einziger geweigert, deine Aes Sedai zu finden.« Erleichterung strömte durch den Bund. Sie war streng, was ihre Befehle anging, und obwohl er wusste, dass sie ihn nicht töten konnte — oder es zumindest nicht tun würde —, erforderte eine Bestrafung nur, dass sie den Bund maskierte, um nicht an seinen Schmerzen teilzuhaben. Das und ein Gewebe, um seine Schreie zu ersticken. Sie konnte Schreie fast genauso wenig ausstehen wie Blitze.
»Es ist schon gut, dass du jetzt bei mir bist«, fuhr sie fort. Schade, dass die Aiel-Wilden Fera noch immer festhielten, allerdings würde sie die Weiße fragen müssen, warum sie den Eid abgelegt hatte, bevor sie ihr vertrauen konnte. Bis zu der Reise nach Cairhien hatte sie nicht gewusst, dass sie etwas mit Fera teilte. Es war sehr bedauerlich, dass kein Mitglied ihres Herzens bei ihr war, aber nur sie war nach Cairhien geschickt worden, und sie stellte ihre Befehle genauso wenig in Frage wie Fearil die seinen. »Ich glaube, bald müssen ein paar Leute sterben.« Sobald sie entschieden hatte, welche es sein sollten. Fearil neigte den Kopf, eine Welle der Begeisterung schoss durch den Bund. Er tötete gern. »In der Zwischenzeit wirst du jeden töten, der den Wiedergeborenen Drachen bedroht.« Schließlich war ihr das in der Gefangenschaft der Wilden völlig klar geworden. Der Wiedergeborene Drache musste Tarmon Gai'don erreichen, denn wie sollte der Große Herr ihn sonst dort besiegen können?