Durch die verwinkelte, enge Straße kehrten Drusus Rencius und ich zum Palast zurück. Er hielt eine Fackel in der Hand. Die Nebenstraßen goreanischer Städte sind nachts oft unbeleuchtet; Fußgänger müssen ihr eigenes Licht mitbringen.
»Es wäre mir lieber«, sagte Drusus Rencius, »wenn wir uns an die Hauptstraßen gehalten hätten.«
»Ich wollte mit Bürgern in weniger bekannten Distrikten sprechen«, sagte ich.
»Ist Lady Sheila nun zufrieden?«
»Ja«, sagte ich. »Alles in allem schon, obwohl die Leute mir oft sehr wortkarg und verängstigt vorkamen.«
»Es sind unruhige Zeiten«, sagte Drusus Rencius.
Vor allem in den breiteren Straßen hatte ich zahlreiche Passanten angehalten und Fragen gestellt. Ich hatte sogar in einigen angesehenen Tavernen vorbeigeschaut, die auch für freie Frauen zugänglich waren. Alles in allem schienen die Corcyrer die Herrschaft ihrer Tatrix begeistert zu befürworten und die Versorgungsprobleme als unwichtig abzutun. Gerüchte über Unzufriedenheit oder Unruhe in Corcyrus wurden als unbegründet heruntergespielt. So schienen die Dinge in Corcyrus denn so zu stehen, wie Ligurious sie mir beschrieben hatte. Das Volk stand hinter der Politik des Palasts und war dem Staat und seiner geliebten Tatrix ergeben.
»Viele Läden sind zugenagelt«, sagte ich.
»So mancher Kaufmann hat die Stadt verlassen und seine Waren mitgenommen«, antwortete Drusus Rencius.
»Warum?«
»Weil er Angst hat«, sagte er. »Die Münzstraße ist beinahe völlig geschlossen.« Damit meinte er ein Geflecht von Straßen, einen Distrikt, in dem vorwiegend Geld- und Bankgeschäfte getätigt wurden. »Im übrigen haben sich auch viele einzelne Bürger ihre Habe auf den Rücken geschnallt und die Stadt verlassen.«
»Feige Nichtsnutze!« sagte ich. »Warum können sie nicht mutig sein wie die anderen?«
»Warte!« sagte Drusus Rencius und blieb stehen. Er hob die Fackel, die er in der linken Hand hielt. »Ich habe da etwas gehört.«
Ich trat zurück. Drusus Rencius’ Schwert glitt aus der Scheide.
Plötzlich sah ich drei Gestalten aus der Dunkelheit näherkommen. »Tal, Soldat«, sagte ein Mann.
»Tal«, antwortete Drusus Rencius und stellte sich mit dem Rücken zu einer Wand.
»Wir haben uns verirrt«, sagte einer der Männer höflich und zog ein Stück Papier aus seiner Tunika. »Ich habe hier die Wegbeschreibung auf einem Stück Pergament. Du hast eine Fackel.«
»Nicht näherkommen!« sagte Drusus Rencius. Der Bursche lächelte, knüllte langsam das Papier zusammen und ließ es auf die Straße fallen. Im nächsten Moment wurden drei Schwerter blank gezogen.
»Gib uns die Frau!« sagte der Mann.
»Nein.«
Plötzlich wurde ich von der Seite gepackt. Ich schrie auf. In der nächsten Sekunde schleuderte Drusus Rencius die Fackel fort und stürzte sich auf den Mann, der das Gespräch bisher geführt hatte. Einer der drei drückte mich gegen die Wand und stopfte mir den Schleier als Knebel in den Mund. Kampfgeräusche waren zu hören. »Flieh!« hörte ich einen Mann schreien. Ich wurde zu Boden gestoßen und hörte hastige Schritte, die sich entfernten.
»Sie sind fort«, sagte Drusus Rencius. Ich lag wimmernd am Boden. Gleich darauf berührte mich eine Hand an der Schulter. »Da bist du ja«, sagte Drusus Rencius.
Hinter mir wurde ein Schwert auf das Pflaster gelegt.
»Alles in Ordnung?« fragte er.
»Ja. Was waren das für Männer?«
»Vermutlich Sklavenhändler«, antwortete er. »Ich weiß es nicht. Sie sind fort.«
Ich kniete am Boden vor ihm. Einem Impuls folgend, umklammerte ich seine Beine und legte das Gesicht gegen seine muskulösen Oberschenkel. Ich zitterte vor Angst, so sehr hatte mich der Überfall erschreckt.
»Steh auf!« sagte er zornig. »Dein Verhalten ist zu fraulich.«
»Aber ich bin eine Frau«, sagte ich.
»Nein«, widersprach er. »Du bist eine Tatrix.«
Ich schluchzte.
»Steh auf!« forderte er.
»Man hätte mich eben in die Sklaverei verschleppen können«, sagte ich angstvoll und ließ ihn nicht los.
»Du peinigende Hexe!« fauchte er plötzlich los. »Ich bin in Versuchung, dir selbst die Ketten anzulegen.«
»Fühlst du dich so sehr angezogen, Drusus?« fragte ich erstaunt. »Findest du mich so attraktiv, daß du mit nichts Geringerem zufrieden wärst, als mich total zu besitzen?«
»Quälerisches Biest!« stöhnte er. »Steh auf!«
»Du sehnst dich nach mir!« sagte ich. »Du spürst das stärkste Begehren nach mir, das ein Mann empfinden kann, nämlich sie als seine Sklavin neben sich zu wissen!«
»Ich hasse dich! Ich verachte dich!«
»Und begehrst mich!«
»Wir wollen in den Palast zurückkehren«, sagte er, »ehe ich dich hier in der Dunkelheit zurücklasse, als Opfer jener, die mehr als ich bereit wären, dir zu geben, was du verdienst.«
»Zieh mich hoch!« sagte ich.
Er reichte mir die Hand, und ich strich meine Robe glatt. »Es ist eine sehr interessante Erfahrung für mich zu wissen, daß du mich begehrst«, sagte ich.
Er schwieg.
»Und wenigstens weiß ich jetzt, was die Bürger der Stadt denken, wie es um Corcyrus wirklich bestellt ist.«
»Ach?« fragte er.
»Du hast es doch selbst gehört. Gewisse Versorgungsprobleme nehmen die Leute nicht so ernst. Sie sind loyal. Sie sind ihrer Tatrix treu ergeben.«
»Das sind nun mal die Antworten, die man in Corcyrus auf solche Fragen gibt.«
»Ich verstehe nicht, was du damit meinst.«
»Die Menschen haben Angst. Du führst ein Terrorregime. Deine Spione sind überall. Die Leute, mit denen du sprachst, haben dich ironischerweise für eine deiner eigenen Spioninnen gehalten.«
»Ich habe keine Spione«, sagte ich.
»Ich könnte dir sieben nennen«, antwortete Drusus Rencius. »Wie viele du wirklich hast, weiß ich natürlich nicht.«
Ich erschauderte. Wenn es wirklich solche Spione gab, dann erstatteten sie ihre Berichte nicht an mich; vielleicht schickte Ligurious sie in die Stadt.
»Zünden wir für den Rückweg die Fackel wieder an?« fragte ich.
»Ich glaube, es ist besser, wenn wir uns durch die Dunkelheit schleichen«, antwortete Drusus Rencius.
»Vielleicht hast du recht. Aber sollten nicht Wächter durch diese Straßen patrouillieren?«
»Die meisten Wächter«, sagte Drusus Rencius, »sind nach Westen an die Front geschickt worden.«
Ich schwieg.
»Es wird schwer sein, die Streitkräfte Ars zurückzuhalten«, fuhr er fort.
»Ar?«
»Ja«, sagte Drusus Rencius. »Nachdem die Bergwerke erobert waren, traten Ar-Streitkräfte in den Krieg ein. Wie du weißt, ist Argentum ein Verbündeter Ars.«
Obwohl dies eine Grundtatsache sein mochte, war sie mir neu. Viele Dinge schienen mir vorenthalten worden zu sein. Mir war bekannt, daß wir angeblich gute Verbindungen zum Insel-Ubarat Cos unterhielten. Susan, das wußte ich, war in Cos gekauft worden. Von Ar wußte ich so gut wie nichts. Nur daß Drusus Rencius früher dieser Stadt angehört hatte. Und daß es eine der mächtigsten, wenn nicht gar die mächtigste Stadt auf Gor war. Im erforschten Gor kam ihr die Stadt Turia, in der südlichen Hemisphäre gelegen, vielleicht am nächsten.
»Unsere Streitkräfte werden siegen«, versicherte ich Drusus Rencius.
»Der Feind steht bereits zwanzig Pasang vor der Stadt«, antwortete er.
»Bring mich schnell in den Palast zurück!«
»Ja, Lady Sheila.«
Dann wandte er sich um und schritt durch die Dunkelheit. Ich eilte wie eine Sklavin hinter ihm her.
Mir war elend zumute, und ich hatte große Angst.
Der Palast böte mir Sicherheit.