Spät in der Nacht erwachte ich. Ich hatte in goreanisch geträumt, in der Sprache, die in Corcyrus gesprochen wurde, wie überhaupt in vielen Ländern dieses Planeten.
Seit meiner Ankunft waren mehrere Wochen vergangen. In dieser Zeit war ich jeden Tag viele Stunden – oder Ahn – lang unterrichtet worden, um mich meiner neuen Umgebung anpassen zu können. In vielen Dingen fehlte es mir noch sehr an Kenntnissen, doch war mir und meinen vielen Lehrern klar, daß ich bereits große Fortschritte machte.
Nackt lag ich auf dem breiten Bett. Es war eine warme Nacht.
Vorgeblich war ich Sheila, Tatrix dieser Stadt, die Corcyrus hieß.
Noch wirkte der Wein, den ich zum Abendessen getrunken hatte. Ich nahm nicht an, daß es sich um einen gewöhnlichen Wein gehandelt hatte: Möglicherweise war er mit einem Betäubungsmittel versetzt gewesen.
Ich hatte einen seltsamen Traum erlebt, vermengt mit anderen Visionen. Es war schwer, diese Dinge in den Griff zu bekommen.
In den letzten Tagen war ich Schritt für Schritt in das öffentliche Leben Corcyrus’ eingeführt worden, zunächst mit Kleinigkeiten wie der Gewährung von Audienzen, gewöhnlich für Ausländer, und kurzen Auftritten vor Bürgern der Stadt. Dabei war mir Ligurious nicht von der Seite gewichen und hatte mir gutgelaunt und unauffällig geholfen. Oft hätte ich ohne seine Vorschläge nicht gewußt, was ich tun oder sagen sollte. Gestern hatte ich sogar Gericht gehalten, wenn die Fälle auch unbedeutend gewesen waren.
»Der Churl soll ausgezogen werden!« hatte ich herablassend verkündet. »Man hänge ihm ein Schild um, das ihn als Betrüger bloßstellt. Dann soll er von Wächtern durch das große Tor von Corcyrus gestoßen werden und die Stadt vor der Zweiten Passage-Hand nicht wieder betreten dürfen!«
Dies war der Fall, an den ich mich am deutlichsten erinnerte.
Der Übeltäter war ein kleiner, ungepflegter Mann mit entstelltem Körper. Er war reisender Händler und nannte sich Speusippus aus Turia. Ich hatte ihn widerlich gefunden. Ein corcyrischer Händler hatte ihn angezeigt: Er habe von Speusippus eine Schale erhalten, die angeblich aus Silber bestand und die das entsprechende Siegel Ars aufwies. Bei näherer Untersuchung hatte sich das Metall aber als lediglich versilbert herausgestellt. Da die Silberschmiede Ars versilberte Waren mit einem entsprechenden anderen Ar-Siegel versehen hätten, lag hier nicht nur ein falscher Verkauf vor, sondern auch noch eine Fälschung. Diese Feststellung hatte eine Beschlagnahme von Speusippus’ Lager und Unterlagen geführt, und dabei waren etliche andere Unregelmäßigkeiten ans Tageslicht gekommen. So verfügte er über zweierlei Gewichte: Ein Satz stimmte, ein anderer nicht. Außerdem hatte er Sklavinnenhaar als das Haar von freien Frauen verkauft.
Ich war froh, als der übelriechende Speusippus endlich aus dem Saal gezerrt wurde. Wie erfreulich war es außerdem, die eindrucksvolle Kraft von Männern meinem Kommando unterworfen zu sehen!
Nun lag ich auf meiner riesigen Couch in der heißen corcyrischen Nacht.
Es gab viele Dinge, die ich nicht verstand. Selbst Susan, die soviel mehr über Gor wußte als ich, schien nicht alles zu begreifen.
So erschien ich zu meinen Audienzen und anderen öffentlichen Auftritten ohne die Schleier, die der freien Goreanerin normalerweise zustehen. Ich kannte die Schleier: Susan hatte mir beigebracht, was sie bedeuteten und wie sie arrangiert und befestigt werden mußten, doch trug ich sie nur selten, zumindest in der Öffentlichkeit. Dieser Umstand verwirrte mich, besonders im Licht der Dinge, die ich über den hohen Status einer Tatrix gelernt hatte, doch sah ich keinen Grund zum Protestieren, zumal das Wetter in Corcyrus sehr warm war. Ich fand Susans Erregung und Empörung darüber, daß ich meine Gemächer unverschleiert verließ, sogar ein wenig amüsant – immerhin kam sie aus Cincinnati, Ohio! Ich versuchte ihr die Sache zu erklären, so wie Ligurious sie mir klargemacht hatte, als ich ihn danach fragte. Der wichtige Unterschied zwischen mir und anderen hochstehenden Frauen war eben der, daß ich die Tatrix war und sie nicht. Eine Tatrix, so hatte Ligurious mir versichert, hatte keine Geheimnisse vor ihrem Volk. Es sei gut für das Volk einer Tatrix, ihre Herrscherin voller Liebe und Anbetung betrachten zu können. »Ja, Herrin«, hatte Susan mit gesenktem Kopf erwidert, und ich hatte mich gefragt, ob Ligurious die Wahrheit gesagt hatte. Zumindest bestand kein Zweifel mehr, daß die Gesichtszüge der Tatrix in Corcyrus inzwischen ziemlich bekannt waren. Noch heute früh war ich unverschleiert in einer großen offenen Sänfte von Sklaven durch die Straßen Corcyrus’ getragen worden, begleitet von Ligurious, flankiert von Wächtern, angekündigt von Trommeln und Trompeten: Die Menschenmassen hatten gejubelt. »Dein Volk liebt dich«, hatte Ligurious gesagt. Ich hatte grüßend die Hand gehoben, mich verneigt und gelächelt. Dabei hatte ich mich anmutig und würdevoll gegeben, wie es mir Ligurious beigebracht hatte. Es war ein aufregendes Erlebnis für mich gewesen: die Menschen, die Läden, die Straßen, die Gebäude. Zum erstenmal hatte ich das Palastgrundstück verlassen können. Die Straßen waren sauber und wunderschön. Blumenduft lag in der Luft. Verschleierte Mädchen hatten vor der Sänfte Blütenblätter gestreut.
»Wegen des Ärgers mit Argentum ist es gut, wenn du dich vor dem Volk zeigst«, hatte Ligurious gesagt.
»Was haben wir denn für Ärger mit Argentum?« hatte ich gefragt.
»Es ist dort zu Scharmützeln gekommen«, sagte er. »Schau – dort ist die Bibliothek des Anisthenes.«
»Wunderschön«, sagte ich und betrachtete den prächtigen Vorbau, die schmalen, langen Säulen, den hübsch geschwungenen Ziergiebel mit den Friesen.
»Was für Ärger gibt es mit Argentum?« wiederholte ich.
»Dies ist die Prachtstraße des Iphicrates«, sagte er.
Die Menschen links und rechts der Straße zeigten sich nicht überrascht, daß mein Gesicht nicht von Schleiern verdeckt wurde. Vielleicht entsprach es ja tatsächlich einer Tradition, wie Ligurious gesagt hatte, daß die Tatrix sich so vor ihrem Volk zeigte. Jedenfalls schien die Reaktion der Bürger ihn zu bestätigen, was mich doch etwas beruhigte. Allenfalls mochte ihre Reaktion eine Art Respektbezeigung vor meinem Mut sein, mich ohne Schleier zu zeigen.
Einmal kamen wir an fünf knienden Mädchen vorbei, ein andermal an einem Sklavenmarkt, und es machte mir Mühe, die Augen von den Mädchen loszureißen. Ich erbebte innerlich: Ich sah versklavte Frauen, die wie eine Ware zum Verkauf geboten wurden! Was für ein schreckliches Schicksal!
»Heil Sheila, Tatrix von Corcyrus!« riefen Stimmen.
»Das Volk liebt dich«, sagte Ligurious.
Auf dieser Welt, so sagte ich mir, konnte ein Mädchen der Besitz eines Mannes sein, ähnlich wie ein Gegenstand. Ich bekämpfte die Gefühle, die bei diesem Gedanken in mir aufwallten. Vergeblich versuchte ich die Erinnerung an die knienden Sklavinnen zu vertreiben: Ich kam nicht darum herum, daß mich ihr Schicksal erregte. Von Zeit zu Zeit drängte das Volk näher an die Sänfte heran. Wächter, die zu beiden Seiten aufpaßten, schoben sie mit Speerschäften zurück. Inmitten dieser Wächter schritt Drusus Rencius. Er war mir vor einigen Wochen als Leibwächter zugeteilt worden. Soldaten folgten der Sänfte. Einige trugen Leinensäcke über den Schultern und warfen ab und zu Münzen oder Teile von Münzen auf die Straße. Ich hielt das für eine nette Geste. Das Volk balgte sich um die Stücke. Anscheinend hielten sie sie für sehr wertvoll. Ich lächelte und winkte der Menge zu. Ab und zu warf ich auch Drusus Rencius einen Blick zu, der sich jedoch nur für die Menschenmassen interessierte. Äußerlich mochte ich gutgelaunt und charmant wirken; drinnen aber tobten beinahe nicht zu bändigende Gefühle. Auf was für einer Welt befand ich mich hier! Ich hatte es nicht für möglich gehalten, daß eine Frau dermaßen erregt sein konnte. Wieder betrachtete ich Drusus Rencius und die anderen Wächter von Corcyrus und fragte mich, wie es wohl wäre, wenn ich im Besitz eines solchen Mannes stünde. Der Gedanke raubte mir beinahe das Bewußtsein. Zweifellos verstanden sie sich darauf, einer Frau ihre Sklaverei bewußt zu machen.
»Stimmt etwas nicht, meine Tatrix?« fragte Ligurious.
»Nein, nein!« rief ich, mühte mir ein Lächeln ab und winkte wieder. Ich konnte nur hoffen, daß der praktische, strenge Ligurious, erster Minister von Corcyrus, nicht ahnte, wie es um mich bestellt war.
Nach einiger Zeit näherte sich die Prozession wieder dem Palast. Dabei ereignete sich noch ein Zwischenfall, den ich schildern sollte. Plötzlich löste sich ein Mann zornig aus der Menge und lief seitlich auf die Sänfte zu. Drusus Rencius packte ihn und schleuderte ihn zurück. Erschrocken schrie ich auf. Im nächsten Augenblick hatte der Zug angehalten, und der Mann wurde am Boden festgehalten und mit Schwertern bedroht.
»Er ist unbewaffnet«, sagte Drusus Rencius.
»Nieder mit Sheila, die nicht Tatrix von Corcyrus ist, sondern ihre Tyrannin!« brüllte der Mann und schaute zornig zu mir empor.
»Schweig!« rief Ligurious.
»Du wirst für deine Verbrechen, für deine Grausamkeit bezahlen!« rief der Mann. »Nicht ewig werden die Bürger Corcyrus’ die Grausamkeiten des Palasts ertragen!«
»Verrat!« brüllte Ligurious.
Der Mann wurde von einem Speerschaft an der Schläfe getroffen. Ich schrie bekümmert auf.
»Der Mann ist ein Wahnsinniger, der nicht weiß, was er sagt«, wandte sich Ligurious an mich. »Beachte ihn nicht, meine Tatrix.«
Dem Bürger wurden die Hände auf dem Rücken gefesselt.
»Wer bist du?« fragte ich.
»Ein Mann, der sich erhebt gegen die Verbrechen, gegen die Ungerechtigkeit Sheilas, der Tyrannin von Corcyrus!« antwortete er kühn.
»Das ist Menicius aus der Kaste der Metallarbeiter«, sagte ein Soldat.
»Bist du Menicius?« fragte ich.
»Ja.«
»Bist du in Corcyrus geboren?«
»Ja – und früher war ich stolz darauf!«
»Was willst du?«
»Offenkundig war es seine Absicht, der Tatrix zu schaden«, warf Ligurious ein. »Das ging aus seinem Angriff auf die Sänfte hervor.«
»Er war unbewaffnet«, sagte Drusus Rencius.
»Männerhände brauchen sich nur kurz um den Hals einer Frau zu legen«, sagte Ligurious kühl, »um ihr schlimmes Werk zu tun.«
Unwillkürlich legte ich die Fingerspitzen an den Hals. Ligurious hatte bestimmt recht. Es war leicht, einen Mord zu begehen.
»Warum solltest du mir schaden wollen?« fragte ich den Mann.
»Ich wollte dir nichts tun, meine Dame«, sagte er mürrisch, »außer daß du bekommen solltest, was du verdienst, einen Sklaven im schlimmsten Sklavenloch auf Gor!«
»Das ist Verrat!« sagte Ligurious. »Seine Schuld steht fest!«
»Warum hast du dich dann dieser Sänfte genähert?« wollte ich wissen.
»Damit in Corcyrus auch einmal die Wahrheit gesagt wird!« antwortete er. »Damit das Elend und die Wut des Volkes ans Tageslicht kommen!«
»Bereitet ihn zur Hinrichtung vor!« sagte Ligurious. Ein Soldat packte den Mann am Haar und neigte seinen Kopf nach vorn, ein anderer zog sein Schwert.
»Nein!« rief ich. »Gebt ihn frei! Laßt ihn laufen!«
»Tatrix!« protestierte Ligurious.
»Laß ihn frei!« beharrte ich.
Die Fesseln des Mannes wurden geöffnet. Erstaunt richtete er sich auf. Die Zuschauer schienen ebenfalls nicht zu wissen, was sie davon halten sollten. Ligurious zeigte keine Regung. Ich spürte, daß er große Macht ausübte, sich aber auch unglaublich gut beherrschen konnte.
»Laß ihm eine Münze geben!« befahl ich.
Einer der Soldaten griff in seinen Leinensack und drückte dem Mann ein Kupferstück in die Hand.
Der Mann betrachtete es verwirrt. Dann spuckte er es zornig an und schleuderte es zu Boden. Er wandte sich um und marschierte fort.
Ein anderer hob die Münze vom Boden auf.
Ein längeres Schweigen trat ein, das schließlich von Ligurious beendet wurde. »Seht die Pracht und die Gnade der Tatrix!« rief er. »Was für einen besseren Beweis gibt es denn noch, daß die Anschuldigungen des Verrückten nicht stimmen?«
»Heil Sheila, Heil Tatrix von Corcyrus!«
Und schon setzte sich die Prozession wieder in Bewegung.
»Ist etwas an dem, was der Bursche sagte?« fragte ich Ligurious. »Gibt es Unruhe in Corcyrus? Sind die Bürger unzufrieden?«
»Du hast die Meldungen unserer Offiziere gehört«, sagte Ligurious.
»Ja«, sagte ich.
»Es sind die offiziellen und objektiven Berichte – auf die solltest du hören. Nicht auf das Gerede von Verrückten. Die darf man nicht ernstnehmen. Man findet immer Frustrierte, die die Schuld für das eigene Versagen nicht bei sich selbst suchen, sondern vor dem Tor ihrer Stadt.«
»Dann brauche ich mich um seine Vorwürfe nicht zu kümmern?« fragte ich.
»Nein, vergiß sie. Schlag sie dir aus dem Kopf.«
Ich schaute ihn an.
»Wenn du eine Bestätigung brauchst, solltest du auf die Zurufe deines Volkes achten.«
»Heil Sheila!« tönten Stimmen. »Heil Sheila, Tatrix von Corcyrus!«
Und mein Herz füllte sich mit Wonne und Zuneigung zu diesen Menschen. »Ja«, sagte ich, »ich werde geliebt.«
»Du hast da eben einen Fehler gemacht«, sagte Ligurious. Er lächelte und winkte in die Menge, doch seine Worte galten mir.
»Inwiefern?« fragte ich.
»Du hättest uns gestatten sollen, Menicius hinzurichten«, sagte er. »Du hast es verhindert. Das war ein Fehler.«
»Mag sein«, sagte ich. »Aber ich bin Tatrix von Corcyrus.«
»Natürlich«, sagte Ligurious.
Ich ließ mich auf den Bauch rollen. Das seidige Bettlaken schmiegte sich auf das angenehmste an meine Haut.
»Lady Sheila, meine Herrscherin, dürfte ich dir Drusus Rencius vorstellen, den ersten Schwertkämpfer in deiner Wache?« hatte Ligurious vor einigen Tagen gefragt.
»Der Name scheint mir nicht aus Corcyrus zu stammen«, sagte ich.
»In unseren Diensten stehen die verschiedensten Söldner«, erwiderte Ligurious. »Wir haben Soldaten, die sogar aus Anango und Skjern kommen.«
»Und aus welcher Stadt kommt Drusus Rencius?«
»Aus Ar.«
»Ich dachte, unser Bündnispartner wäre Cos«, wandte ich ein.
»Drusus Rencius ist in seiner Heimat ein Ausgestoßener, meine Dame«, sagte Ligurious. »Sei unbesorgt. Er dient nur sich selbst und dem Silber.«
Ich neigte den Kopf vor Drusus Rencius. Er war dunkelhaarig, groß, geschmeidig, hager und gleichwohl muskulös. Sein Gesicht wies ausgeprägte, regelmäßige Züge aus, die Hände waren groß. Hinter der Stirn erahnte ich große Intelligenz.
»Meine Dame«, sagte er und verneigte sich vor mir.
Er schien wortkarg und ergeben zu sein, doch besaß er zweifellos die Charakterzüge, die einen Goreaner ausmachten. Er wußte bestimmt mit einer Frau umzugehen.
»Er soll dein persönlicher Leibwächter sein«, sagte Ligurious.
»Leibwächter?«
»Ja, meine Dame.«
Ich betrachtete den großen hageren Mann. In der linken Armbeuge trug er seinen Helm, der sehr poliert aussah, zweifellos aber schon manchen Kampf mitgemacht hatte. Ebenso war der Griff seines Schwerts merklich abgegriffen. Seine Uniform war sauber, aber schlicht gehalten. Sie wies die Symbole Corcyrus’ und seines Rangs bei den Wächtern auf. Er stand im dritten Rang, im ersten, dem Befehlsgewalt übertragen werden kann. Sollte er schon ein Kommando bekleiden, würde er es jetzt sicher abgeben, um sich ganz seiner Herrscherin widmen zu können. Wahrscheinlich hatte seine Geschicklichkeit mit dem Schwert Ligurious aufmerksam gemacht; gleichwohl genügte es als Bewacher einer Tatrix nicht, nur mit dem Schwert fix zur Hand zu sein. Protokollfragen mußten geklärt werden, Äußerlichkeiten waren ebenfalls wichtig. Ich würde den Burschen schon in seine Schranken weisen.
»Der Wächter einer Tatrix«, sagte ich zu Ligurious, »muß aber prächtiger aussehen.«
»Sorg dafür!« sagte er zu Drusus Rencius.
Daraufhin war Ligurious gegangen.
Drusus Rencius schaute auf mich herab. Er schien sehr groß und kräftig zu sein, und ich kam mir sehr klein und schwach vor.
»Was ist los?« fragte ich zornig.
»Nichts.«
»Nun sprich schon!«
»Nach den Dingen, die man mir erzählt hat, rechnete ich eigentlich mit einer etwas anderen Lady Sheila.«
»Ach?«
»Ich hatte erwartet, daß die Lady Sheila doch mehr eine Tatrix wäre«, fuhr er fort, »während du etwas ganz anderes zu sein scheinst.«
»Was?«
»Verzeih mir, meine Dame«, sagte er lächelnd, »wenn ich dir wahrheitsgemäß antworten würde, müßte ich fürchten, auf den Pflöcken zu enden.«
»Sprich dich ruhig aus. Wie komme ich dir vor?«
»Wie eine Sklavin«, sagte er.
»Oh!« rief ich zornig.
»Mischt sich Lady Sheila oft unverschleiert unter das Volk?« fragte er.
»Ja«, sagte ich. »Eine Tatrix hat keine Geheimnisse vor ihrem Volk. Es ist gut, wenn ihr Volk ihre Herrscherin offen sehen kann!«
»Wie Lady Sheila möchte«, sagte er und verbeugte sich. »Darf ich mich jetzt zurückziehen?«
»Ja«, sagte ich. Er hatte mich ohne Schleier gesehen. Ich kam mir beinahe unbekleidet vor, fast als wäre ich wirklich eine Sklavin.
»Du brauchst mich nur zu rufen, ich stehe dir zur Verfügung«, sagte er und verließ den Raum.
Ich warf mich auf dem Bett herum und schaute zur Decke empor.
Der Wein, den ich zum Abendessen getrunken hatte, wirkte noch immer nach. Möglicherweise hatte er ein Schlafmittel enthalten.
Es war nicht einfach, mir über die Situation klarzuwerden. Ich hatte einen seltsamen Traum gehabt, vermengt mit anderen Visionen.
»Ich bin die Tatrix von Corcyrus«, hatte ich auf der Sänfte zu Ligurious gesagt. »Natürlich«, hatte er geantwortet.
Wie kann ich aber die Tatrix von Corcyrus sein? fragte ich mich nun selbst. Ergibt dies alles einen Sinn? Ich konnte verstehen, daß Frauen auf diese Welt geschafft wurden, um wie Susan versklavt zu werden. Das ging mir ein. Warum sollte aber jemand auf diese Welt geholt werden, um über eine Stadt zu herrschen? Eine dermaßen privilegierte und mächtige Stellung würden die Goreaner doch eher sich selbst vorbehalten! Ich hätte eher damit rechnen müssen, zu Füßen eines Sklavenherrn zu enden. Immer wieder fragte ich mich, ob ich wirklich die Tatrix von Corcyrus war. Bisher hatte ich noch keine direkten und wirklich weitreichenden Machtbefugnisse ausgeübt. Und zuweilen kam mir mein Zeitplan ein wenig seltsam vor. Zu gewissen Ahn mußte ich mich in den öffentlich zugängigen Räumen des Palasts aufhalten, und zu anderen wurde von mir erwartet, daß ich mich auf meine Gemächer beschränkte – aus Gründen, die mir unerfindlich blieben. »Der Tagesablauf der Tatrix ist seit jeher von gewissen Traditionen bestimmt«, hatte mich Ligurious informiert. Ab und zu war ich zu einem Zeitpunkt in meine Gemächer zurückgeleitet worden, da meiner Auffassung nach wichtige Ratssitzungen auf dem Programm standen, Sitzungen, an denen die Tatrix unbedingt hätte teilnehmen müssen. Ligurious informierte mich allerdings, daß die Tagesordnung dieser Sitzungen in Wahrheit so unwichtig und trivial gewesen wären, daß sie der Aufmerksamkeit der Tatrix nicht wert waren. So brauchte ich an den Veranstaltungen nicht teilzunehmen. Zu anderen Zeiten teilte man mir mit, daß Sitzungen verschoben oder abgesagt wären. Überlieferungen und Gebräuche scheinen den Goreanern sehr wichtig zu sein. Was ich als unerklärliche Schrullen oder Kapriolen in meinem Tagesplan empfand, wurde in der Regel damit erklärt. Es gehöre sich einfach, so hatte Ligurious mir erklärt, daß die Tatrix sich an die Besonderheiten Corcyrus’ halte, auch wenn sie ihr etwas willkürlich vorkämen.
In der heißen corcyrischen Nacht schaute ich zur Decke meines Zimmers empor.
War ich die Tatrix von Corcyrus?
Susan, soviel stand fest, war davon überzeugt. Ebenso mein Leibwächter Drusus Rencius, ehemals aus Ar.
Auch hatte es anläßlich meiner öffentlichen Auftritte niemals Zweifel gegeben. Von allen wurde ich als Tatrix von Corcyrus akzeptiert. Ligurious, erster Minister der Stadt, hatte mir mehrfach versichert, daß alles seine Ordnung habe. Und hätte ich noch eine letzte Bestätigung gebraucht, so war sie mir vorhin während des Umzugs durch die Bürger Corcyrus’ gegeben worden: »Heil Sheila, Tatrix von Corcyrus!« hatten sie gerufen.
»Ich bin die Tatrix von Corcyrus«, hatte ich zu Ligurious gesagt. »Natürlich«, hatte er entgegnet.
So unerklärlich mir diese Tatsache auch erscheinen mochte, ich kam um die Schlußfolgerung nicht herum, daß ich in der Tat über Corcyrus herrschte.
Ich schloß die Augen und öffnete sie wieder. Langsam schüttelte ich den Kopf. Der Wein wirkte noch nach. Weshalb er aber vielleicht mit einem Mittel versetzt worden war, wußte ich nicht.
Ich hatte einen seltsamen Traum erlebt. Darin hatte ich auf Händen und Knien auf einem kühlen Fliesenboden gehockt. Ich war in eine Art Tuch gehüllt. Von meinem Hals hatte eine Kette zu einem Ring am Boden geführt. Drusus Rencius stand hinter mir und hielt eine goreanische Sklavenpeitsche in der Hand. Ligurious stand seitlich und hielt mir eine Lampe neben das Gesicht. Ich schluchzte.
»Siehst du es?« fragte er. »Ist es nicht bemerkenswert?«
»Ja«, antwortete eine Frauenstimme. Ich schnappte nach Luft. Es war, als schaute ich mich selbst an. Sie trug die Robe einer Tatrix, wie ich sie schon am gleichen Tag angehabt hatte. Wie ich hatte sie keinen Schleier angelegt. In der Verrücktheit des Traums schien ich mir selbst gegenüberzustehen und mich zu betrachten. Wie seltsam doch Träume sein können!
»Ich glaube, sie wird gut passen«, sagte Ligurious.
»Das würde ich auch sagen«, meinte die Frau.
Ligurious hob die Hand an das Tuch, das unter meinen Armen hindurchführte. »Möchtest du sie ganz sehen?« fragte er. Ich wimmerte bei dem Gedanken, daß er mir das schützende Tuch nehmen, mich völlig entkleiden konnte.
»Du bist nicht so schlau, wie du selbst glaubst, Ligurious«, erwiderte die Frau. »Glaubst du, ich wüßte nicht, daß du, wenn du sie ausziehst, du mich selbst vor deinen Augen entkleidest?«
»Verzeih mir!« sagte Ligurious, der erste Minister von Corcyrus, lächelnd. »Du kennst meine Gefühle für dich.«
»Sie werden unerwidert bleiben«, sagte sie. »Halte dich an deine Sklavinnen.«
Ich hatte Angst vor der Frau, die sich über mich beugte. Sie mochte mir zwar äußerlich ähneln, doch unterschied sie sich in Wirklichkeit sehr von mir. Sie schien hochintelligent zu sein, zweifellos intelligenter als ich, und streng und entschlußfreudig. Darüber hinaus skrupellos und grausam, arrogant, ungeduldig anspruchsvoll, hochmütig und befehlsgewohnt. Eine solche Frau mochte eine echte Tatrix sein, was ich nicht war. Jedenfalls kam mir eine solche Frau mehr als ich geeignet vor, eine Stadt wie Corcyrus zu befehligen.
Schließlich hatte ich mich auf dem Bett hin und her geworfen und war in einen traumlosen Schlaf gesunken. Nun hörte ich Bewegungen vor meiner Tür. Der Wächter wurde abgelöst.
Ich lag im Dunkeln und fragte mich, ob tief in mir eine Tatrix schlummerte. Ich glaubte es eigentlich nicht. In mir ruhte etwas anderes, etwas, das mir erst auf dieser barbarischen Welt bewußt geworden war, eine Welt, die mich dazu zwang, mich meiner Weiblichkeit zu stellen.
Und plötzlich begriff ich den seltsamen Traum, den ich erlebt hatte. Seine Bilder hatten mir den Unterschied deutlich gemacht zwischen dem, was ich wirklich war, und dem, was zweifellos von einer Tatrix erwartet wurde. Der Gegensatz war klar hervorgetreten: Ich hatte unter Ligurious’ Griff hilflos geschluchzt, während sie hochmütig vor mir stand.
Ich verließ das Bett, stellte mich vor den Spiegel und betrachtete das Mädchen, das sich darin abzeichnete. Wer war ich? Was war ich?
»Ich bin die Tatrix von Corcyrus!« rief ich. Ich war die Tatrix dieser Stadt! Zornig legte ich meine gelbe Robe an und band den Gürtel fest. Dann lief ich zur Tür, umfaßte den Griff und bewegte ihn heftig. Schon hundertmal hatte ich die Tür geöffnet. Überrascht schrie ich auf. Die Tür gab nicht nach! Noch zweimal zog ich daran. Die Tür wurde von der anderen Seite festgehalten. Draußen schien etwas gegen ein Hindernis oder eine Barriere zu stoßen.
Ich hämmerte dagegen. »Laßt mich raus!« rief ich.
Es ertönte ein doppeltes Scharren. Draußen an der Tür, zur Mitte hin, hatte ich breite Metallösen entdeckt, paarweise gegenüber angeordnet, die bisher nicht benutzt worden waren. Schob man in diese Krampen einen Balken, ließ sich die Tür nicht mehr nach innen öffnen.
Jetzt ging die Tür auf. Fünf Wächter standen vor mir. Zwei lehnten breite Balken an die Wand; offensichtlich war damit die Tür versperrt gewesen.
»Die Tür war zu!« sagte ich.
»Ja, meine Dame«, antwortete der Anführer der Wächter. Wie Drusus Rencius stand er im dritten Rang. Er machte einen überraschten Eindruck. Offensichtlich hatte er nicht damit gerechnet, mich zu so später Stunde oder so früh am Morgen zu sehen.
»Warum war sie verschlossen?« fragte ich.
»Das ist sie doch immer in der Nacht.«
»Warum?«
»Auf Befehl?«
»Wer hat diesen Befehl gegeben?«
»Ligurious.«
»Warum sollte er so etwas anordnen?«
»Das ist so üblich – vermutlich zum Schutz der Tatrix. Es ginge doch nicht, daß die bei Nacht im Palast herumwandert.«
»Gibt es Gefahren im Palast?« fragte ich zornig.
Der Wächter zuckte die Achseln. »Vielleicht hat sich ein Mörder Zutritt verschafft.«
»In Begleitung meiner Wächter könnte mir nichts passieren«, sagte ich.
»Um diese Ahn ist es üblich, daß sich die Tatrix in ihren Gemächern aufhält.«
»Ich verlasse sie aber«, widersprach ich und machte Anstalten, mich an ihm vorbeizudrängen. Doch sein Arm, hart wie Eisen, versperrte mir den Weg. »Verzeih mir, hohe Dame«, sagte er, »aber du darfst nicht durch.«
Erstaunt trat ich einen Schritt zurück. »Ich bin die Tatrix!« sagte ich.
»Ja, meine Dame.«
»Aus dem Weg!«
»Es tut mir leid, du darfst hier nicht durch.«
»Ruf Ligurious!« rief ich, entschlossen, der Angelegenheit auf den Grund zu gehen.
»Ich kann den ersten Minister um diese Ahn nicht stören.«
»Warum nicht?«
»Er ist bei seinen Frauen.«
»Seinen Frauen!« rief ich.
»Wenn du willst, kann ich Drusus Rencius rufen.«
»Nein«, sagte ich. »Nein.« Ich kehrte in mein Zimmer zurück. Ich sah, wie sich die Tür hinter mir schloß. Gleich darauf war zu hören, wie die beiden Balken wieder angebracht wurden.
»Ich bin die Tatrix!« schrie ich zornig.
Dann warf ich mein Gewand ab und schleuderte es zu Boden. Ich konnte nicht ausgehen. Wozu auch?
Dann begann ich zu zittern und sank neben meinem Bett in die Knie. Ich hatte durch den Palast wandern wollen.
Man hatte es mir verwehrt, Männer hatten es mir verboten. Ich war zornig! Doch wußte ich, daß da andere Gefühle in mir lauerten, tief drinnen, fremdartige, beunruhigende Regungen, unkontrollierbare Gefühle, die einen Ausweg suchten. Mein Wille war ausgeschaltet worden. Ich hatte gehorchen müssen. »Ich bin eine Tatrix!« rief ich zornig.