»Zieh ihr die vornehmste Staatstracht an!« befahl Ligurious.
»Ja, Herr«, sagte Susan und zupfte an meiner Kleidung herum.
Ich stand in meinem Schlafraum vor einem großen Spiegel und beobachtete, wie das prächtige Staatsgewand um meine Schultern gelegt wurde.
Kurze Zeit vorher hatte ich angstvoll hinter, der Tür gestanden und gelauscht.
»Sie sind schon in der Stadt!« ertönte ein Schrei.
»Unmöglich!« hatte ein Wächter geantwortet.
»Wie ist das passiert?« fragte ein anderer Mann ganz erstaunt.
»Wie ich hörte, floh ein Sa-Tarna-Wagen vor dem näherrückenden Feind und versuchte noch die Stadt zu erreichen«, berichtete ein Mann. »Zum Glück schien der Vorsprung groß genug zu sein, und wie du selbst weißt, brauchen wir dringend jedes Getreidekorn. Das Tor wurde geöffnet, um den Wagen durchzulassen. Man schätzte den Abstand groß genug, das Tor wieder schließen zu können, ehe die Verfolger heran waren. Der Sa-Tarna-Wagen wurde von zwei Sklavengruppen gezogen, zwanzig an jedem Seil. Die Männer aber waren gar keine Sklaven. Kaum befand sich der Wagen im Portal, warfen sie das Seil fort, zogen Schwerter unter dem Korn hervor und verhinderten die Schließung des Tors. Gleich darauf war die Vorhut des Feindes heran.«
Ich war an das vergitterte Fenster geeilt. Rauch stand über der Stadt.
Kurze Zeit später hatten Ligurious und Susan mein Quartier betreten.
Ligurious trug eine Uniform, die mir allerdings fremd war. Ich kannte die Insignien nicht.
»Legt ihr den offiziellen Schleier an«, befahl der hohe Offizier, und Susan machte sich hastig an die Arbeit. Sie brachte den langen, hübschen, kunstvoll bestickten Schleier, sie rückte die Roben zurecht, die mein Haar verbargen, dann steckte sie den Schleier fest, der nur noch meine Augen erkennbar machte.
»Komm mit«, sagte Ligurious schließlich, faßte meinen Arm und zog mich förmlich aus dem Raum. Wir eilten durch die Korridore. Fünf oder sechs Männer, nicht meine üblichen Wächter, folgten uns; sie waren ähnlich gekleidet wie Ligurious.
Die Korridore und Säle waren seltsam leer. Nur selten begegnete uns jemand. Susan war zurückgeblieben.
Ich wurde in einen Vorraum des großen Staatsaals geschoben. Hier warteten vier oder fünf Männer und eine Frau. Die Frau trug eine weite Robe und wandte mir den Rücken zu. Sie war etwa so groß wie ich. Interessanterweise war sie barfuß, und ihr Gewand reichte bis knapp unter die Knie. Sie hatte hübsche Waden und Fußgelenke. Ein Mann, ähnlich uniformiert wie Ligurious und die anderen, hüllte soeben ein Tuch um sie. Sie griff nach diesem Tuch, wickelte es sich um den Kopf und raffte es wie einen Schleier vor dem Gesicht zusammen. Dann drehte sie sich zu mir um, wandte aber sofort wieder den Kopf ab. Mir fiel auf, daß ihre Augenfarbe der meinen nicht unähnlich war.
Ligurious drehte mich zur Tür des großen Saals herum, in dem auf der Plattform der Thron Corcyrus’ wartete.
»Ist alles bereit?« fragte er.
»Ja«, antwortete ein Mann.
»Die Tarns?«
»Ja, alles wartet.«
Ich drehte mich um. Das Tuch bedeckte den Kopf der anderen Frau nun völlig. Ich hatte fast den Eindruck, als wäre sie unter der Umhüllung nackt. Ich hielt den Atem an. Etwas wurde ihr um den Hals gelegt, über dem Stoff. Ein Sklavenkragen mit Führungskette!
Ligurious führte mich in den großen Saal.
Ich wußte nicht, wer die andere war. Vermutlich die Frau, die Ligurious nach eigenem Bekennen anbetete, die Frau, der ich zu ähneln schien. Es erschien mir unvorstellbar, daß ein Mann wie er, der fünfzig Sklavinnen besitzen mußte, nach einer solchen Frau verrückt war. Wußte er denn nicht, daß sie letztlich auch nichts anderes war als eine hilflose Frau, daß sie im Grunde wie jede einen Herrn und Meister brauchte?
Der große Saal war leer. Die große Flügeltür am anderen Ende war von innen verschlossen, Balken lagen in den Krampen, Sperren, die nur von jeweils zehn Wächtern bewegt werden konnten.
»Ist von den Männern aus Cos denn noch nichts zu sehen?« hörte ich einen Mann hinter mir fragen.
»Die sind nicht dumm«, antwortete ein anderer. »Die werden sich den Soldaten aus Ar nicht im Landkampf stellen.«
»Leistet das Volk dem Feind Widerstand?« fragte eine Stimme.
»Nein«, antwortete jemand. »Es hilft ihm.«
Geführt von Ligurious, erstieg ich die Thronstufen. Auf seinen Befehl setzte ich mich.
»Die Tür des Vorraums wird hinter uns geschlossen«, sagte Ligurious. »Du wirst sie nicht öffnen können.«
»Was geht hier vor?« fragte ich.
»Du wirst bald deinen Zweck erfüllen«, sagte Ligurious.
»Welchen Zweck?«
»Den Zweck, mit dem wir leider rechnen mußten, der Hauptzweck, weshalb du nach Gor gebracht wurdest.«
»Das verstehe ich nicht«, sagte ich und mußte daran denken, daß man mir wiederholt versichert hatte, daß alles vorgeplant sei, daß alle Möglichkeiten abgedeckt seien.
»Du brauchst mich also noch?« fragte ich. »Ich spiele in deinen Plänen noch immer eine Rolle?«
»Selbstverständlich«, sagte er.
Dies zu hören erleichterte mich.
»Hör mal!« sagte er. »Hörst du es?«
»Ja«, sagte ich. Es war ein dumpfer, dröhnender Ton, der aus großer Entfernung zu kommen schien. Er wiederholte sich mit einer gewissen Regelmäßigkeit.
»Eine Ramme«, sagte er, »zweifellos an einem Gestell aufgehängt, von Seilen bewegt – und zwar, das möchte ich wetten, durch Bürger dieser Stadt.«
»Sie scheint noch weit zu sein«, sagte ich.
»Am Außentor.«
»Die Bürger von Corcyrus lieben mich«, sagte ich.
»Das bezweifle ich nicht«, erwiderte er. »Ich muß nun gehen. Ich fürchte, die Zeit wird knapp.«
»Aber was wird aus mir?« rief ich. »Ich habe Angst! Kommst du mich holen?«
»Sei unbesorgt, Lady Sheila!« erwiderte er. »Man wird dich holen kommen.«
»Bald?« fragte ich.
»Ja«, sagte er. Dann ging er rückwärts die Treppe hinab und verneigte sich tief. »Leb wohl, Lady Sheila, Tatrix von Corcyrus«, sagte er.
Dann empfahl er sich.
Aus der Ferne war ein splitterndes Geräusch zu hören, gleich darauf neues Dröhnen, bestimmt am Innentor.
Hinter Ligurious schloß sich die Tür zum Vorraum, dann wurden Riegel und Sperrbalken vorgelegt. Ich war eingeschlossen.
Ich saß auf dem Thron, und meine Finger umklammerten die Armlehnen. In dem riesigen Saal war ich ganz allein.