»Nein!« wimmerte ich. »Nein!« Ich erwachte in verkrampfter Stellung. Ich lag auf der Seite in dem winzigen goldenen Käfig, in dem ich nach Argentum gebracht werden sollte. Meine Hände waren gefesselt. Ich hatte geträumt, wie ich in diesem Käfig durch die Straßen von Corcyrus getragen wurde. Wegen der geringen Größe des Käfigs stand er ziemlich hoch auf einem Podest, so daß ich vor Peitschenschlägen und spitzen Stöcken einigermaßen geschützt gewesen war. Soldaten hatten den Wagen begleitet und den Ansturm der Menge verhindert. Das Volk jubelte Miles aus Argentum und seinen Leuten zu. Und es schien aus dem Häuschen zu geraten vor Haß und Freude bei meinem Anblick, kreischend und spottend und tanzend. Man schien zu meinen, daß ich hier mein gerechtes Schicksal erlitt. Die Bewohner Corcyrus’ hatten die Kämpfer aus Argentum und ihre Verbündeten aus Ar als Befreier willkommen geheißen. Bänder mit den Farben Argentums und Ars hingen an den Häusern und schmückten den Weg des Triumphzuges. Die gleichen Farben wurden auch in der Menge getragen. Verwirrt und verängstigt hatte ich in dem Käfig gestanden. Ich konnte mir den Haß der Menschen nicht erklären. Ich hatte mich in den Käfig gestellt, um besser gesehen zu werden. Miles aus Argentum hatte es so befohlen.
Nun war ich in meinem engen Gefängnis erwacht. Wenigstens war ich jetzt allein, und es war still. Der Käfig bewegte sich knirschend im Wind. Ich richtete mich in eine kniende Stellung auf und teilte mit den Fingern das dichte Tuch, das über Nacht um den Käfig gewickelt worden war, ehe man ihn in die Höhe zog. Durch den winzigen Spalt schaute ich hinaus. Ich sah Feuerstellen des Lagers und mehrere Zelte. Aus der Ferne tönte Musik von den Zelten herüber. Dort mochten Mädchen vor ihren Herren tanzen. Wir waren eine Tagesreise von Corcyrus entfernt, unser Ziel war Argentum. Ich schaute zum Boden hinab, etwa vierzig Fuß unter mir. Der Käfig hing an einem Seil, das über den Ast eines großen Baums geworfen worden war.
Am liebsten wäre ich jetzt Sklavin gewesen, die ihren Herrn auf jedem denkbaren Wege zu überzeugen suchte, daß es sich lohnte, sie zu verschonen. Doch ich war eine freie Frau und konnte nichts anderes erwarten als die volle Strenge des Gesetzes.
Man brachte mich nach Argentum, wo ich aufgespießt werden sollte.
Ich konnte nicht mehr weinen.
Plötzlich spürte ich, wie der Käfig einen Zoll abgesenkt wurde, dann noch einen Zoll.
Hastig versuchte ich nach draußen zu schauen, so gut es ging. Doch ich konnte sehr wenig erkennen.
Zunächst hing der Käfig wieder still, dann fiel er wieder ein Stück. Langsam wurde er herabgelassen, bis er schließlich auf dem Boden stand.
Mein Herz klopfte heftig.
Die Heimlichkeit, die Behutsamkeit, mit der hier vorgegangen wurde, schienen mir nicht auf etwas hinzudeuten, das von Miles’ angeordnet worden war, und so kam ich gar nicht auf den Gedanken zu schreien. Wer würde mir helfen – und mit welchem Ziel? Wenn diese nächtlichen Besucher mich stehlen und möglicherweise versklaven wollten, würde ich ihnen willig folgen. Ein solches Schicksal hätte ich sogar genossen. Dann aber überfiel mich ein eisiger Schrecken. Wenn die Unbekannten mich umbringen wollten – was dann?
Ich wußte nicht, ob ich schreien sollte oder nicht.
Die Abdeckung des Käfigs wurde aufgeschnürt und zurückgeschoben. Zwei Männer standen vor mir. Sie waren schwarz gekleidet und trugen Masken. Einer hielt eine nichtbrennende Laterne in der Hand, der andere öffnete ein Lederetui mit Schlüsseln und Werkzeugen. Dann begann er sich dem oberen Käfigschloß zu widmen, indem er eine Vielzahl von Schlüsseln und Haken und kleinen Werkzeugen ausprobierte. Er schien eine Art Schlosser zu sein, denn er hantierte sehr geschickt. Nach fünfzehn Ehn waren beide Schlösser offen. Die Käfigtür klappte auf, dann wurde ich herausgezogen und gefesselt, wie ich war, ins Gras gedrückt. Man schloß den Käfig, brachte die Plane wieder an, und wenige Augenblicke später hing das Gebilde wieder hoch unter dem Baum. Wenn niemand die Aktion beobachtet hatte, würde man vermutlich erst morgen früh merken, daß ich verschwunden war.
Man zerrte mich hoch und reichte mir einen Mantel. Ich zog ihn mit gefesselten Händen um mich fest und hielt ihn vor dem Hals zusammen. Eine Hand berührte mich am Rücken und zeigte die Richtung an, in die ich gehen sollte. Kurze Zeit später kamen wir an zwei zusammengesunkenen Wächtern vorbei, neben denen eine umgestürzte Flasche lag.
Der Mann links von mir umfaßte meinen Oberarm mit festem Griff und führte mich zwischen die Zelte. Vorsichtig suchten wir uns einen Weg durch das Lager.
Die meisten Zelte waren dunkel. In einigen brannten noch kleine Feuer, und Schatten huschten über die Planen. Wir mußten zwei betrunkenen Wächtern ausweichen und erreichten schließlich eine Stelle zwischen zwei dunklen Zelten. Hier drückte man mich ins Gras und begann mir die Füße zusammenzubinden. Der Mann schob mir schließlich die Enden der Schnur in die Hand und löste meine Handfesseln.
»Wartet!« flüsterte ich. »Nein!« Dann begriff ich, was man mit mir vorhatte.
Der kleinere der beiden Männer, der sich auf den Umgang mit Schlössern verstand, legte mir seine Finger über den Mund.
»Nein!« flüsterte ich. »Laßt mich nicht allein! Wer seid ihr? Warum habt ihr mich befreit?«
Er verstärkte den Druck auf meine Lippen. »Wir haben dich hierhergebracht«, flüsterte er, so daß ich die Stimme nicht erkennen konnte. »Wir sind hier eine halbe Pasang vom Käfig entfernt.«
Bekümmert nickte ich.
»Laßt mich nicht allein!« flehte ich.
»Das Lager wird in drei Ahn erwachen«, sagte er.
»Wer seid ihr?« fragte ich.
»Du hast mir einmal einen Gefallen getan«, sagte er. »Das habe ich nicht vergessen.«
»Was für einen Gefallen?«
»Die Schuld ist nun ausgeglichen«, sagte er. »Es ist geschehen. Die Angelegenheit ist bereinigt.«
Der größere der beiden Männer zog mir den Mantel vom Rücken. So saß ich dann nackt im Schmutz, mit gefesselten Füßen, die Enden der Schnur in der Hand.
Die beiden Männer standen auf und machten Anstalten, sich zu entfernen.
»Verlaßt mich nicht, ich flehe euch an!« flüsterte ich.
»Dir ist schon hundertmal mehr gutgemacht worden, als du verdienst«, sagte der kleinere der beiden Männer.
»Seid ihr nicht meine Freunde?« fragte ich.
»Nein, deine Feinde, Lady Sheila, böser Geist und Tyrannin von Corcyrus!«
»Wartet!« flüsterte ich.
Aber schon waren sie verschwunden, und zwar in verschiedene Richtungen. Es war sinnlos, ihnen nachzurufen, damit hätte ich die Aufmerksamkeit nur auf mich selbst gelenkt.
»Das Lager wird in drei Ahn erwachen«, hatte der Mann gesagt. Mit hektischen Bewegungen begann ich meine Fußfessel aufzuknoten. Dazu brauchte ich gut eine Ehn.
Ich sah eine Laterne näherkommen: eine Wächterpatrouille. Ich warf die Schnur fort und kroch zur Seite, um mich in die Schatten hinter ein Zelt zu flüchten. Mit der Schulter berührte ich eine Zeltleine. Drinnen bewegte sich jemand im Schlaf. Die Laterne entfernte sich wieder.
Hilflos erhob ich mich und eilte zwischen die Zelte.