»Warum hast du Angst?« fragte Claudia.
»Sie kommen hier entlang«, sagte Crystal.
»Es hieß, sie hätten die Stadt schon vor einer Woche verlassen!« rief ich.
»Anscheinend haben sie das nicht getan«, sagte Tupa.
»Eine Menschenmenge begleitet sie«, stellte Claudia aufgeregt fest. »Da sollten wir mitmachen und sehen, wohin die Jagd geht!«
»Nein!« rief ich. »Nein!«
Claudia musterte mich verwirrt. Wir befanden uns auf der Straße des Hermadius, die vom Platz der Tarns abgeht. Wir alle trugen geraffte, ärmellose weiße Tuniken.
»Was ist mit dir?« fragte Claudia.
»Nichts«, sagte ich und blickte die Straße entlang. Die Menschenmassen schienen sich wirklich in unsere Richtung zu bewegen. Sie waren vom Platz aus in unsere Straße eingebogen.
Ich schaute in die andere Richtung. Die Straße kam mir schmutzig vor. Dies war höchst ungewöhnlich in Ar. Meistens wurden die Straßen einmal die Woche gefegt und naß gespült, im allgemeinen die Aufgabe der Grundstücksbesitzer an der jeweiligen Straße, wobei die breiteren Prachtstraßen und Plätze von Staatssklaven gereinigt wurden. Ich entdeckte eine Sklavin in einer kurzen braunen Tunika, die vor einem kleinen Laden stand. Sie schien zu warten. Vielleicht gehörte sie dem Ladenbesitzer und war von dem Lärm auf die Straße gelockt worden.
»Herrin«, sagte ich zu ihr, um ihr zu schmeicheln. »Ich hätte eine Frage.«
»Ja?«
»Die Straße hätte schon vor zwei Tagen gesäubert werden müssen.«
»Nein«, antwortete das Mädchen, »wir erhielten aus dem Zentralzylinder die Anweisung, darauf zu verzichten. In dieser Woche sind nicht einmal die großen Plätze gereinigt worden.«
»Danke, Herrin!« sagte ich bekümmert.
Claudia, Crystal und Tupa schauten die Straße entlang. Die Horde war nur noch eine Querstraße entfernt. Vor der Menge bewegten sich zwei riesige graue Sleen, die Schnauzen am Boden. Sie hatten die Ohren flach zurückgelegt. Jedes Tier wurde von zwei Männern gebändigt, die gleichwohl Mühe mit den Ungeheuern hatten. Hinter den Sleen schritt Hassan der Sklavenjäger aus, riesig und bedrohlich wirkend, die Brust entblößt, eine zusammengerollte Peitsche in der rechten Hand. In seiner Begleitung waren Beamte Ars. In der Gruppe bemerkte ich auch eine Uniform aus Argentum. Hinter dieser Vorhut drängte sich aufgeregt eine bunte Menschenschar. Ich wandte mich ab und floh die Straße hinab. »Tiffany!« hörte ich Claudia hinter mir rufen. Doch ich lief.
Aus der Straße des Hermadius bog ich in die Silber-Straße ein und eilte von dort auf die Avenue des Zentralzylinders. Unter den Bäumen hastete ich am westlichen Rand der weiten Anlage entlang und lehnte mich schließlich keuchend gegen eine Mauer.
»Herumlungern verboten, Mädchen!« sagte ein Mann.
»Verzeih mir, Herr«, sagte ich, neigte den Kopf, machte kehrt und hastete weiter.
Gleich darauf erreichte ich einen Brunnen, einen von vielen an der Prachtstraße. Er verfügte über zwei Schalen, eine obere und eine untere; Sklavinnen durften sich natürlich nur aus der unteren bedienen. Schwitzend beugte ich mich nieder und trank. Dann wischte ich mir den Mund mit dem Handrücken ab und stand auf.
Ich sah die Sleen und ihr Gefolge auf die Avenue des Zentralzylinders einbiegen.
Bestürzt schrie ich auf und setzte meine Flucht fort.
Verzweifelt schaute ich mich um.
Von der Menschenmenge und den Tieren keine Spur.
Ich stand an der Nordwestecke des Teibanischen Sul-Markts an der Kreuzung der Teiban-Straße mit der Clive-Straße, die mich nach Westen von der Avenue des Zentralzylinders fortgeführt hatte.
Ich blickte die Clive-Straße entlang, sah nichts von den Verfolgern und begann aufzuatmen.
Sie müßten längst auf der Clive-Straße sein! Da ich sie nicht sah, hatten sie meine Fährte offenbar verloren.
»Suls, Turpah! Vangis!« pries eine Frau, die inmitten von Körben saß, ihre Waren an.
Ich hatte die Avenue des Zentralzylinders aufgesucht und mich an belebte Straßen gehalten, weil ich hoffte, daß die Sleen meine Witterung im Gewirr der Gerüche verlieren würden. Diese Rechnung schien aufgegangen zu sein.
Aber dann hörte ich plötzlich ganz in der Nähe den schrillen, aufgeregten Laut eines Sleen. Hastig blickte ich den Teiban-Boulevard entlang nach Süden. Die Sleen und ihre Begleiter waren auf der Venaticus-Straße nach Westen gewandert. So wie die Clive-Straße den Teibanischen Markt im Norden begrenzt, so bildet die Venaticus-Straße die Südgrenze. Zu meinem Entsetzen sah ich die Sleen und die Horde auf dem Teiban-Boulevard nach Norden abbiegen – auf mich zu. Ich verstand dies nicht. Warum waren sie nicht durch die Clive-Straße gekommen? Entsetzt ging mir plötzlich auf, daß ich vor zwei Tagen durch die Venaticus-Straße gegangen war. Dieser zwei Tage alten Spur mußten die Tiere folgen. Hastig eilte ich nach Westen, weiter auf der Clive-Straße. Gleich darauf erreichte ich die Kreuzung mit der Hermadius-Straße. Auf dieser Straße hatte ich die Sleen vor weniger als einer Ahn zum erstenmal gesehen. Ich folgte der Clive-Straße weiter nach Westen und bog schließlich auf der Smaragd-Straße nach Süden ab. Diese Straße führt wie die Hermadius-Straße zum Platz der Tarns. Aber nicht die Agentur war mein Ziel, vielmehr bog ich auf der Straße des Tarn-Tors nach rechts ab. Dies ist die Straße, die vom Platz der Tarns direkt zum Tarn-Tor, dem Westtor der Stadt, führt.
Als ich das West-Tor erreichte, kniete ich vor einem Bürger nieder. »Herr«, fragte ich, »darf ich dich durch das Tor begleiten?«
»Nein«, antwortete er.
Ich richtete mich auf und schaute mich um. Dann trat ich dichter an das Tor heran. Die Sicherheitsmaßnahmen schienen heute ungewöhnlich streng zu sein, was ich nicht verstand. Wagen wurden untersucht; dabei öffnete man sogar Kisten und schlitzte Säcke auf. Eine verhüllte Sklavin wurde angehalten, ihrer Kapuze beraubt und gründlich angeschaut.
Nonchalant ging ich auf das Tor zu.
Überkreuz gehaltene Speere versperrten mir den Weg. »Verzeih mir, Herr«, sagte ich, wich zurück und hastete davon.
Einige Meter vom Tor entfernt blieb ich stehen und schaute noch einmal zurück. Tränen sprangen mir in die Augen.
Dann hastete ich auf der Mauerstraße weiter nach Norden, ehe ich mich nach rechts wandte, nach Osten, um zur Smaragd-Straße zurückzukehren. Auf dieser Straße war von den Sleen und der Verfolgerhorde nichts zu erkennen. So war ich nun auf der eigenen Spur zurückgegangen und hoffte, daß sich die Sleen davon verwirren ließen. Ich folgte der Smaragdstraße in nördlicher Richtung. Nirgendwo waren die Straßen gesäubert worden. Offenbar hatte die Anordnung nicht nur für einen bestimmten Distrikt gegolten, sondern für die ganze Stadt.
Ich war verwirrt und betrübt. Ich wußte nicht, ob ich den Sleen schon entwischt war. Ich wußte nicht mehr, was ich tun sollte. Ich traute mich nicht in die Agentur zurück und hatte gleichzeitig Angst vor den Folgen, wenn ich es nicht tat. In der Nähe der Agentur mußten meine Spuren besonders intensiv und dicht sein. Auf jeden Fall hatte ich das Gebäude oft morgens verlassen und war abends zurückgekehrt. Wenn ich andererseits nicht dorthin zurückkehrte, wußte ich wirklich nicht mehr, was ich tun sollte. Ich konnte die Stadt nicht verlassen und lief Gefahr, gefangen zu werden, wenn ich blieb – und wenn die Sleen mich nicht erwischten, dann sicher freie Bürger. Einer Sklavin ist es nicht gestattet, nach Dunkelwerden allein durch die Straßen zu gehen, mit Ausnahme von Münz-Sklavinnen oder Lockmädchen für Schänken. Außerdem würde spätestens um Mitternacht mein Fehlen im Gehege auffallen, und dann würden ab morgen Wächter nach mir Ausschau halten. Wie sollte ich auch in der Stadt leben? Ich konnte betteln und Abfälle nach Eßbarem absuchen und mich damit eine Zeitlang über Wasser halten, doch über kurz oder lang würde mir der Sklavenkragen zum Verhängnis werden. Auf keinen Fall konnte ich hoffen, in eine der Banden von Herumtreiberinnen aufgenommen zu werden, die es in jeder Stadt gab, denn ich war nun mal Sklavin.
»Halt, Sklavin!« rief eine Stimme. »Nicht zurückschauen. Hände an die Wand! Füße weiter zurück!« Entsetzt gehorchte ich. Gleich darauf stand ich hilflos an der Wand.
»Wer bist du?« fragte der Mann, ein Wächter.
»Tiffany«, sagte ich, »eine Bankettsklavin aus dem Unternehmen des Aemilianus am Platz der Tarns.«
Ich wagte ihn nicht anzulügen. Er konnte meinen Kragen überprüfen, der meine genaue Identifikation enthielt.
»Du bist weit entfernt vom Platz der Tarns«, sagte er.
»Ja, Herr.«
»Was machst du hier allein?« fragte er nicht unfreundlich.
»Spazierengehen.«
»Ich würde dir raten, die weniger bekannten Straßen dieser Gegend zu meiden«, fuhr er fort. »Für den Rückweg in den Süden solltest du auf der Smaragd-Straße bleiben. Dies ist keine Gegend für hübsche Sklavinnen.«
»Ja, Herr«, sagte ich. »Vielen Dank, Herr.«
Er machte kehrt und ließ mich stehen. Ich richtete mich wieder auf. In Anbetracht der Tatsache, daß ich eine Sklavin war, hatte er mich sehr nett behandelt. Sollte morgen aber eine Fahndung nach mir ausgerufen werden, würde er sich bestimmt erinnern, daß er eine Sklavin namens Tiffany mit kurzgeschorenem blonden Haar und blauen Augen in seinem Stadtviertel gesehen hatte.
Ich schaute in eine der Nebenstraßen. Wie so viele Straßen in goreanischen Städten hatten einige dieser Gassen nicht einmal durchgehende Namen. Man findet sich zurecht, indem man die Gegend kennt oder sich erkundigt. Manche Straßen werden nur beschrieben, beispielsweise als »die Straße, in der der Lederarbeiter Vaskon seinen Laden hat«, »die Straße, in der der Dichter Tesias dieses oder jenes Gedicht schrieb«, »die Straße, in der sich das Haus des Generals Hasdron befindet«, »die Straße des Tarsk-Brunnens« und so weiter. Unschönerweise ist dieselbe Straße zuweilen unter verschiedenen Namen bekannt. So gilt für manche Straße an einem Ende ein Name, den sie aber in ihrem Verlauf zwei- oder dreimal wechseln kann. Manchmal gehen Straßennamen auch auf Ereignisse zurück, zum Beispiel »Feuerstraße« oder »Flutstraße« oder »die Straße der sechs vergewaltigten Sklavinnen« und so weiter. Übrigens gibt es auf Gor keine Straßenschilder im üblichen Sinne. Wo es Namen gibt, sind sie oft an die Mauern von Eckgebäuden gemalt, die übrigens oft abgerundet gestaltet sind – um den Feuerwehrwagen ein schnelleres Durchkommen zu ermöglichen.
Von dem Wächter vorgewarnt, wandte ich mich nach links, um durch eine Nebenstraße zur Mauerstraße vorzudringen, auf der ich mich hoffentlich sicher fühlen konnte. Bestimmt konnte die Mauerstraße, die der Innenkrümmung der Stadtbefestigung folgte, nur wenige Querstraßen weiter westlich liegen. Doch auf direktem Wege vermochte ich sie nicht zu erreichen. So geriet ich in immer neue und immer engere Nebenstraßen, die mir ziemlich verlassen vorkamen. Es war heiß geworden, und ich fürchtete die Orientierung zu verlieren.
Plötzlich sah ich in der Ferne die Mauer über einigen Gebäuden aufragen und ging erleichtert darauf zu. Dabei war ich dermaßen in Gedanken, daß ich die Nähe der Sleen erst bemerkte, als ich ihr erregtes fauchendes Quieken hörte: Und da waren sie nur noch hundert Meter hinter mir! Es war ein Geräusch, wie ein Sleen es ausstößt, wenn er eine heiße Fährte verfolgt, aber zurückgehalten wird. Der Sleen möchte sich auf sein Opfer stürzen, darf es aber nicht.
»Dort ist sie!« hörte ich jemanden rufen.
Hastig sah ich mich um und erblickte die beiden Sleen, von jeweils zwei Mann gehalten, dahinter Hassan und seine Leute und die neugierige Menge, die aus zweihundert Bürgern Ars bestehen mochte.
Ich lief los.
»Laßt die Sleen frei!« rief jemand.
Wenn die Tiere von den Ketten gelassen wurden, mußten sie mich innerhalb weniger Ihn erreichen können. So schnell ich konnte lief ich die Straße entlang. Verzweifelt schaute ich mich um. Die Sleen waren nicht frei, wenigstens noch nicht. Wären sie freigelassen worden, hätte ich mich hingekniet und das Gesicht mit den Händen bedeckt. Ich hätte nicht sehen wollen, wie sie sich mit blitzenden Augen und entblößten Reißzähnen auf mich stürzten. So hastete ich denn weiter die Straße entlang, vor den Tieren, vor den Jägern, vor der aufgeregten Menge. Weiter vorn wichen Männer an die Hauswände zurück. Sie wollten nicht in meiner Nähe sein. Ich floh weiter. Die Sleen und die Jäger mußten mir geduldig seit Stunden gefolgt sein, und es war ihnen offenbar gelungen, meine frischeste Fährte wieder aufzunehmen.
Ich hörte das aufgeregte Rufen in der Menge. Viele Mitläufer mußten schon sehr lange dabei sein. Nun schienen sie den Abschluß der Jagd zu erwarten.
Schluchzend setzte ich einen Fuß vor den anderen. Niemand machte Anstalten, mich bei meiner Flucht zu behindern.
Ich hörte die Sleen hinter mir quieken.
Ich begann zu keuchen, mein Schritt wurde unsicher. Ich stürzte, sprang auf und lief weiter.
Blindlings stürzte ich dahin, entsetzt japsend. Es wollte mir scheinen, als hätte ich den Tag fliehend verbracht, von Entsetzen gepeinigt.
»Nein!« rief ich plötzlich. »Nein!«
Vor mir erstreckte sich eine Mauer mit einem hohen Holztor. Sie schien den Hof eines Privathauses abzugrenzen. Links und rechts bedrängten mich Gebäude. Es gab keinen Ausweg, keine Öffnung bot sich zur Mauerstraße, die wohl nur vierzig oder fünfzig Meter entfernt hinter dem Gebäude verlief.
Hastig fuhr ich herum.
Der Fluchtweg war mir bereits abgeschnitten worden.
Schluchzend sank ich neben dem Tor in die Knie. Ich legte die Hände vor die Augen. Ich wollte die Sleen nicht sehen.
Ich hörte das aufgeregte Hecheln der Raubtiere, das Gebrüll der Menge, das Klirren der Ketten, mit denen die Monstren gehalten wurden, das Kratzen ihrer Klauen auf dem Pflaster, das Geschrei der Männer. Körper umwirbelten mich. Ich schrie auf, als mich die Schnauze eines Raubtiers schnüffelnd berührte und sich wieder abwandte.
»Was machst du denn hier, Tiffany?« fragte Claudia. Crystal und Tupa waren bei ihr. »Ich dachte, du wolltest der Jagd nicht folgen!«
»Du hättest nicht fortlaufen sollen«, sagte Crystal. »Einige Leute in der Menge dachten schon, du wärst die Gesuchte!«
»Das war wirklich dumm von dir, Tiffany«, sagte Tupa. »Stell dir einmal vor, der Sleen wäre erregt gewesen und hätte dich mit einem Tatzenhieb niedergestreckt!«
Verwirrt, ratlos, erstaunt blickte ich mich um. Männer waren im Begriff, das Holztor einzuschlagen. Holz splitterte. Die Ungeheuer und die Jäger und alle anderen drangen in den weiten Hof ein.
»Komm!« rief Claudia. »Beeil dich!«
Zitternd richtete ich mich auf und konnte kaum auf den Beinen bleiben. Mit unsicheren Schritten folgte ich Claudia, Crystal und Tupa in den Hof.
»Zurück!« rief Hassan der Menge zu. »Zurückbleiben!«
Die Horde, etwa zweihundert Bürger, drängte sich an der Innenseite der Hofmauer.
Fünf Leute Hassans schlugen die Tür des Hauses ein und verschwanden mit gezogenen Klingen im Inneren.
Zurückgehalten von den Ketten, duckten sich die Sleen mit peitschenden Schwänzen auf das Hofpflaster.
Die Haustür hing schief in den Angeln. Drinnen waren zwei Sperriegelhalterungen aus der Wand gebrochen worden.
Im Hof erstreckten sich hier und dort gemusterte Grasflächen und Bewuchs. Außerdem erblickte ich einen Tisch mit zwei Bänken.
Wir starrten auf die leere Schwelle des Hauses.
Hassan hatte seine zusammengerollte Peitsche am Gürtel festgemacht. Sein Blick ruhte auf mir. Ich glaubte nicht, daß er mich erkannte. Ich war nichts anderes als Tiffany, eine nackte Sklavin, die ihm eines Abends zu Gefallen gewesen war. Dabei hatte er mich überwältigt, hatte mich total besiegt, hatte mich mehr zur Sklavin gemacht, als ich es vor diesem Augenblick für möglich gehalten hatte. Er hatte mich verändert, hatte mich die wahre Fraulichkeit gelehrt. Für die Freiheit war ich nicht mehr zu gebrauchen.
Er wandte den Kopf ab.
Er hatte viel für mich getan.
Er erinnerte sich nicht an mich.
Plötzlich hörten wir das Klirren von Stahl aus dem Haus. Gleich darauf brach Glas. Und wieder war alles still.
Unsere Blicke ruhten auf der leeren Schwelle.
Kurze Zeit später erschien die Gestalt einer Frau in Robe und Schleier in der Türöffnung; sie wurde von hinten gestoßen.
Fauchend und hechelnd stürmten die Sleen vor. Die Frau hob die Hände vor das Gesicht und versuchte sich umzudrehen und wieder im Haus zu verschwinden. Die Menge brüllte. Die Tierhalter mußten sich mit voller Kraft bemühen, die Ketten festzuhalten.
Die Frau durfte das Gebäude nicht wieder betreten. Vielmehr wurde sie die Treppe hinab in den Hof gestoßen. Hinter ihr standen Hassans Männer.
Halb zusammengeduckt verharrte sie vor der untersten Stufe. Die Ketten der Sleen waren gespannt.
Hastig trat Hassan zwischen die Tiere, packte die Frau am Arm und schleuderte sie gegen die Hauswand. Sie mußte sich vornübergebeugt mit den Händen dagegenstützen, eine Stellung, die ich vorhin auch bei dem Stadtwächter einnehmen mußte. Mit schnellen Bewegungen schnitt ihr Hassan mit scharfem Messer die Kleidung vom Leib, bis sie nackt wie eine Sklavin vor uns stand.
Er trat einen Moment zurück, um sie zu betrachten. Dann schob er ihr das Haar nach vorn. Ich bemerkte, daß sie eine ähnliche Haarfarbe hatte wie ich. Allerdings besaß sie langes, wunderschönes Haar. Sie war nicht geschoren worden.
Dann nahm Hassan einem seiner Männer einen Eisenkragen ab. Es war kein verzierter oder teurer Sklavenkragen, sondern ein ganz gewöhnliches Stahlband, wie es jede Sklavin tragen konnte.
Sie stand abgewandt von ihm und wußte vermutlich nicht, was er vorhatte. Vielleicht rechnete sie damit, ausgepeitscht zu werden. Doch plötzlich trug sie einen Sklavenkragen.
Sie ließ sich abrupt gegen die Wand fallen und kam torkelnd wieder hoch.
»Nein!« schrie sie. »Nein!«
Sie fuhr herum und starrte Hassan an, der einige Schritte zurückgetreten war.
»Nein!« schrie sie. »Nein! Nein!« Ruckhaft zerrte sie an dem Kragen. Unvernünftigerweise versuchte sie sich das Metall sogar über den Kopf zu streifen. Aber das ging natürlich nicht, dazu war der Reif viel zu eng.
Sie lief auf Hassan zu und schlug hysterisch schluchzend mit kleinen Fäusten auf ihn ein. Er ließ sie einen Augenblick lang gewähren, bis sie selbst erkannte, wie absurd und sinnlos ihr Verhalten war; dann faßte er sie an den Oberarmen, drehte sie um und schleuderte sie gegen die Mauer zurück. Sie prallte gegen das Gestein und glitt zu Boden. Dort drehte sie sich auf allen vieren herum und schaute Hassan an. Er löste die Peitsche von seinem Gürtel.
Ich traute meinen Augen nicht. Es war beinahe, als säße ich dort auf Händen und Knien vor der Mauer. Es gab viele offenkundige Unterschiede zwischen uns, doch war die Ähnlichkeit – Haar- und Augenfarbe, Teint, Figur, Größe und Gewicht – erschreckend groß. Man hätte uns ohne weiteres für Geschwister, vielleicht sogar für Zwillinge halten können.
»Nein!« schrie sie, als die Peitschenschnüre sie trafen. Ein ungläubiger Ausdruck trat in ihre Augen.
»Hast du etwas dagegen?« fragte er. »Gewiß hast du oft den Befehl gegeben, andere auszupeitschen!«
Keuchend und bebend lag sie vor uns auf den Steinen. Hassan steckte seine Peitsche ein, zerrte sie hoch und fesselte der Frau die Hände auf dem Rücken.
»Wer bist du?« fragte sie angstvoll.
»Ich bin Hassan aus Kasra«, sagte er, »und werde von manchen Hassan der Sklavenjäger genannt!«
»Nein!« schluchzte sie. »Ich bin in der Gewalt des Sklavenjägers Hassan!«
»Ja.«
Ich fürchtete, sie würde das Bewußtsein verlieren.
»Was hast du mit mir vor?« fragte sie.
»Ich werde dich in meine Unterkunft in Ar bringen«, antwortete er. »Aber vorher machen wir noch einen kurzen Besuch. Dann wirst du in einem goldenen Sack nach Argentum gebracht.«
Dann hielt er sie sanft in den Armen und ließ sie zu Boden sinken, denn sie war wirklich ohnmächtig geworden. Er bückte sich und hob sie schwungvoll auf seine Schulter. Vermutlich würde sie bald wieder zu sich kommen, eine Sklavin auf dem Rücken ihres Herrn.
Die Menge begann sich schnell zu verlaufen, ebenso die meisten Offiziere Ars.
Noch vor Tagen hatte ich hilflos in den Armen des Sklavenjägers Hassan gelegen. »Wie wirst du sie erkennen?« hatte ich gefragt. »Die Sleen werden sie finden«, hatte er geantwortet. Er hatte Kleidung der Tatrix mitgebracht, aus Corcyrus, vermutlich aus ihren Gemächern. Mit dieser Kleidung waren die Sleen auf die Fährte gesetzt worden. Diese Kleidung, das wußte ich jetzt, konnte nicht mir gehört haben. Der Sleen hatte von mir abgelassen. Er hatte eine andere Frau gesucht. Plötzlich wurden mir Dutzende von Kleinigkeiten klar. Man hatte mir versichert, ich sei Sheila, die Tatrix von Corcyrus, auf Gor wäre dies meine Identität. Vielleicht war ich auf eine Weise Sheila gewesen, doch wurde nun deutlich, daß es eine andere Sheila gegeben haben mußte, gewissermaßen die echte Sheila. Was ich zunächst für einen Traum gehalten hatte, war wohl doch Wirklichkeit gewesen: Ligurious und Sheila hatten mich kurz nach meiner Ankunft auf Gor inspiziert. Zweifellos war sie neugierig auf mich gewesen. Ein andermal hatte sich Susan erstaunt gezeigt, mich in meinem Zimmer zu sehen. Wahrscheinlich hatte sie trotz aller Vorsicht in einem anderen Teil des Palasts die echte Sheila gesehen. Natürlich hatte sie sie für mich gehalten. Aus ihrer Sicht war es also überraschend gewesen, mich nach so kurzer Zeit in meinen Gemächern vorzufinden. Ebenso erklärte sich nun mein manchmal sehr gemischter Tagesablauf, die Zeiten, die ich in meinen Zimmern zubringen mußte: immer wenn die echte Sheila im Palast unterwegs war und sich der Herrschaft über Corcyrus widmete. Ich wußte nun auch den Grund, warum ich davon abgehalten worden war, wichtige Staatsgeschäfte zu erledigen und bedeutsame Entscheidungen zu fällen. Nicht daß ich für solche Dinge noch nicht bereit war, doch wäre es ja absurd gewesen, mich mit solchen Dingen zu befassen, wo es die echte Tatrix gab. Bisher hatte ich nicht verstehen können, warum die Tatrix dermaßen gefürchtet und verhaßt war. Soweit ich es beurteilen konnte, hatte ich wenig getan, um solche Gefühle auszulösen. Diese Gefühle, soviel erschien mir nun klar, waren zweifellos das Ergebnis von Handlungen und Anordnungen der echten Sheila, der echten Tatrix. Ohne es zu wissen, hatte ich sie in dem kleinen Vorraum des großen Saals gesehen, an dem Tag, als die Streitkräfte Ars und Argentums in die Stadt eindrangen. Ich hatte gewußt, daß es irgendwo eine Frau gab, die mir ähnlich sah. Ligurious hatte es mir einmal angedeutet. Dieser anderen Frau schien er romantisch verbunden zu sein. Zweifellos war dies die Frau, die ich in dem kleinen Zimmer gesehen hatte, wie sie als Sklavin verkleidet wurde. Nach außen hin in der Gewalt von Soldaten aus Ar, sollte sie in Sicherheit gebracht werden. Was mir bisher nicht aufgegangen war; sie war zugleich auch die echte Tatrix von Corcyrus gewesen. Ligurious hatte mir gesagt, daß ich bald meinen eigentlichen Zweck erfüllen würde. »Welchen Zweck?« hatte ich gefragt. »Den Zweck, mit dem wir leider rechnen mußten«, hatte er geantwortet, »der Hauptzweck, weshalb du nach Gor gebracht wurdest.« Erst hier und jetzt, in einem Haushof in Ar, erkannte ich, wie sehr man mich getäuscht hatte. Ich war nach Gor gebracht worden, um im Notfall als Opferlamm zu dienen. Sollten die Pläne Ligurious’ und der Tatrix fehlschlagen, sollte der vorgesehene Krieg um die Bergwerke von Argentum, die ja wohl wirklich Argentum gehörten, schiefgehen, so konnten die beiden fliehen und eine hübsche kleine Stellvertreterin zurücklassen, eine naive Marionette, an der das zornige Volk und der siegreiche Gegner sich austoben konnten. Wie raffiniert das alles geplant gewesen war! Man hatte mich dazu gebracht zu glauben, daß ich wirklich Sheila, Tatrix von Corcyrus war, daß dies auf Gor meine Identität war. Auf jeden Fall hatte Susan daran geglaubt, ebenso Drusus Rencius und viele andere. Was für ein vorzüglicher Plan! Absichtlich hatte man dem Volk mein Gesicht vorgeführt. Tausende von Corcyrern konnten mich als Tatrix identifizieren. Aber schließlich war der Plan doch schiefgegangen. Der Zweck, der Hauptzweck, weshalb ich nach Gor gebracht worden war, war nicht erfüllt worden. Ich war im Lager Miles’ aus Argentum aus dem goldenen Käfig befreit worden und hatte fliehen können. So war der Fall der Tatrix von Corcyrus nicht mit einer Aufspießung in Argentum zu den Akten gelegt worden, woraufhin sich Ligurious und die echte Sheila, zweifellos mit neuen Namen und mit beiseitegeschafften Reichtümern frei auf Gor bewegen konnten: nein, statt dessen war eine gewaltige Suche in Gang gekommen. Ligurious und Sheila hatten erwartet, daß ich als Tatrix identifiziert und nach Argentum gebracht und dort aufgespießt wurde; sie hatten nicht mit meiner Flucht gerechnet, sie hatten ihre Rechnung ohne die Sleen gemacht. Wie negativ war doch alles verlaufen, zumindest für die echte Sheila, die nun hilflos in Hassans Fesseln hing. Beim Gedanken an die Aufspießung tat sie mir plötzlich auch ein wenig leid, egal, was sie getan hatte, egal, welches Schicksal mir zugedacht gewesen war.
Im Nacken spürte ich plötzlich eine harte Hand.
»Dreh dich um, Sklavin«, sagte eine Stimme.
Die Hand ließ mich los, und ich drehte mich um.
»Kenne ich dich nicht?« fragte Miles aus Argentum. Offensichtlich war er der uniformierte Mann aus Argentum, den ich zuvor in Hassans Gefolge bemerkt hatte.
»Ich glaube nicht, Herr«, sagte ich.
»Du kommst mir aber sehr bekannt vor«, sagte er und rief: »Drusus!«
Einer der Ar-Offiziere kam auf uns zu.
Unwillkürlich schnappte ich nach Luft.
»Kennst du ihn?« fragte Miles aus Argentum.
»Ich glaube es nicht, Herr«, sagte ich.
»Warum hast du dann so heftig reagiert?«
»Er ist eben ein starker und gutaussehender Offizier«, sagte ich, »und ich nur eine Sklavin.«
»Schau mal, Drusus«, sagte Miles aus Argentum, »was wir hier haben.«
»Eine Sklavin«, sagte Drusus Rencius achselzuckend. In seinen Augen glimmte nicht das geringste Wiedererkennen. Es war, als hätte er mich nie zuvor gesehen. Ich versuchte mir nichts anmerken zu lassen, doch war ich beinahe überwältigt vor Erleichterung und Dankbarkeit, ehe mir aufging, daß er mich womöglich wirklich nicht wiedererkannte.
»Dann schau noch einmal genauer hin«, sagte Miles.
»Ja?« fragte Drusus.
»Stell dir vor, daß diese Frau in den letzten drei oder vier Monaten geschoren wurde.«
»Ja?« fragte Drusus.
»Du bemerkst bestimmt die auffällige Ähnlichkeit.«
»Mit wem?«
»Na, mit Sheila, der Tatrix von Corcyrus!«
»Ja«, sagte Drusus, »eine Ähnlichkeit besteht durchaus.«
Nun war ich sicher, daß Drusus Rencius mich erkannt hatte. Als ich ihn entdeckte, war neben der Überraschung eine unglaubliche Freude durch meinen Körper geflutet, wieder in seiner Nähe zu sein. Ich hatte den Impuls unterdrücken müssen, mich vor ihn hinzuwerfen.
»Ist dies Sheila, die Tatrix von Corcyrus?« fragte Miles.
Beiläufig hob Drusus Rencius ein Stück meiner Tunika an und betrachtete das Brandzeichen. »Nein«, antwortete er, »dies ist nur eine Sklavin.«
»Verstehe«, sagte Miles aus Argentum und legte mir eine Hand unter das Kinn. »Heb den Kopf, Mädchen«, befahl er, und ich gehorchte. Er schaute mich grinsend an. »Ich könnte mir vorstellen, daß dies Sheila ist.«
»Sheila, Tatrix von Corcyrus«, sagte Drusus Rencius, »ist soeben gefangen worden.«
»Ach, wirklich?«
Drusus Rencius schwieg.
»Komm her, Mädchen«, sagte Miles. Ich kam der Aufforderung nach, und er studierte meinen Eisenkragen, der mich genau identifizierte. Ich konnte die Stadt nicht verlassen. Ich konnte nicht fliehen.
»Du kannst gehen«, sagte Miles zu mir.
»Danke, Herr«, sagte ich und hastete durch das Tor.
Draußen warteten Claudia, Crystal und Tupa.
»Was wollten die Soldaten?« fragte Claudia.
»Einer war sogar General«, sagte Crystal.
»Nichts«, antwortete ich.
»Was war der andere für ein Mann?« fragte Tupa.
»Er kommt aus Ar«, antwortete Crystal. »Er war Hauptmann.«
»Und der andere?« wollte Tupa wissen.
»Aus Argentum«, antwortete ich.
»Wo liegt denn das?«
»Im Südwesten.«
»Was wollten sie?«
»Nichts«, antwortete ich.
»Wir sollten schnellstens zur Agentur zurückkehren«, sagte Claudia. »Wir wollen nicht zu spät kommen.«
»Nein«, sagte Crystal.
Der Pförtner war ein netter Bursche, dem es nichts ausmachte, wenn wir ein wenig zu spät kamen. Trotzdem durfte man den Bogen nicht überspannen.
Die anderen Mädchen kannten den Heimweg genau, und so dauerte es nicht lange, bis wir den Platz der Tarns erreicht hatten und die Agentur betraten.
»Ihr kommt gerade noch rechtzeitig«, sagte der Pförtner und hängte unsere Scheiben um, die anzeigten, daß wir wieder im Haus waren.
»Beeilt euch, damit ihr noch etwas essen und trinken könnt«, sagte er.
»Ja, Herr«, sagten wir. »Danke, Herr.«
Vor der nächsten Korridorbiegung schaute ich noch einmal zurück. Der Pförtner schloß soeben die schwere Außentür und verriegelte sie von innen. Und ich überlegte, wer ich war.
Ich war Tiffany, Bankettsklavin in der Firma des Aemilianus am Platz der Tarns. Dies wußte ich. Viele Leute wußten es. Jeder, der meinen Kragen gelesen hatte, wußte darüber Bescheid. So auch Miles aus Argentum. Ich dachte an Miles aus Argentum. Er hatte mich gehen lassen. Damit hatte er nichts riskiert. Er wußte genau, wo er mich finden konnte, sollte es ihm darum gehen. Ich war eine hilflose, gefangene Sklavin, dem Willen der Herren hilflos ausgesetzt.
Aber zweifellos interessierte er sich nicht für mich.
Dann ging ich den Korridor entlang zur Küche, um mir etwas zu essen zu besorgen.