26

Die Tänzerinnen hatten sich mit klirrenden Glocken entfernt. Die Musiker spielten nicht mehr. Zwischen den Tischen wurde eine Fläche freigeräumt. Die Bankettsklavinnen hatten sich hinter die Tische zurückgezogen. An diesen Tischen saßen Claudius, der Ubar von Argentum, und Angehörige des Hohen Rates. Zahlreiche andere Würdenträger waren ebenfalls zu Gast, aus Argentum wie auch aus anderen Städten. Miles aus Argentum war anwesend, ebenso Drusus Rencius und Ligurious. Interessanterweise war auch Aemilianus aus Ar gekommen, der zuvor mein Herr gewesen war, und Publius, der Aufseher im Haus des Sklavenhändlers Kliomenes in Corcyrus. Hassan der Sklavenjäger fehlte. Im Hintergrund saß an einem der rückwärtigen Tische ein verhüllter Gast, ein mittelgroßer Mann. Ich hatte keine Ahnung, wer sich hinter seiner Kapuze verbergen mochte. Hassan war es nicht; dafür war der Mann viel zu klein.

Ich hockte nackt hinter einem Perlenvorhang und wartete auf den Befehl meines Herrn Miles aus Argentum. Ich hatte keine Mühe, mich durch den Vorhang zu orientieren, während man mich von der anderen Seite nicht sehen konnte.

»Es ist Zeit«, sagte Claudius, der Ubar Argentums, »uns der Hauptfrage des Abends zuzuwenden. Der goldene Sack soll gebracht werden!«

Aus einem Seitenraum zerrten zwei Soldaten den goldenen Sack über den Boden und legten ihn vor dem Mitteltisch ab, an dem die höchsten Würdenträger saßen: Claudius, der Hohe Rat und andere wichtige Gäste wie Ligurious, Miles aus Argentum und Drusus Rencius.

»Der heutige Abend«, sagte Claudius, »ist eine Siegesfeier, ein Triumphgelage. Vor Monaten überfiel Corcyrus ohne jede Provokation unsere Silberbergwerke und wurde zurückgeworfen. Um unsere Sicherheit zu gewährleisten und eine Wiederholung solcher Aggressionen zu verhindern, kämpften wir uns bis vor und durch das Tor der Stadt Corcyrus. Dort, unterstützt durch die Bürger dieser Stadt, besiegten wir die Streitkräfte der Tatrix von Corcyrus und stürzten ihr tyrannisches Regime.«

An dieser Stelle gab es goreanischen Applaus: die Anwesenden schlugen sich mit der Handfläche gegen die linke Schulter. Mir fiel auf, daß sogar Ligurious in diesen Applaus einfiel.

»Die Bande zwischen Corcyrus und Cos sind inzwischen durchschnitten worden«, fuhr Claudius fort. »Wie Argentum ist diese Stadt nun eine Verbündete des Herrlichen Ar.«

Wieder gab es Beifall.

»Und was für ein Glück ist das für Corcyrus! Denn Ar steht zu ihren Verbündeten, das hat sie in unserem Fall bewiesen! Und die Verbündeten stehen zu Ar!«

Applaus.

Ar verfügte über große Landstreitkräfte. Zweifellos besaß dieser Stadtstaat die größte und am besten ausgebildete Infanterie im bekannten Gor. Die Land-Armee Cos’ dagegen war vermutlich nicht so groß wie die mancher Stadtstaaten mit viel geringerer Bevölkerung als das Insel-Ubarat. Dieses Ungleichgewicht verkehrte sich auf dramatische Weise ins Gegenteil, wenn man die Kampfkraft auf dem Meer betrachtete. Cos verfügte über eine der mächtigsten Flotten auf Gor. Die Seemacht Ars dagegen war nicht nennenswert. Sie bestand im wesentlichen aus Schiffen auf dem Vosk-Fluß, vorwiegend im Hafen von Ar-Station liegend.

»Die Übeltäterin in diesem Fall, die Schuldige, die Ursache für die Feindseligkeiten war Sheila, die grausame, böse Tatrix von Corcyrus.«

»Ja, ja!« riefen mehrere Männer.

»Sie wurde in Corcyrus gefangengenommen, konnte aber auf dem Weg nach Argentum entkommen. Eine umfassende Suche wurde organisiert und durchgeführt. Eine attraktive Belohnung wurde ausgesetzt. Trotzdem konnte sie sich monatelang vor uns verbergen. Dann erklärte sich Hassan aus Kasra, Hassan der Sklavenjäger, bereit, ihre Spur zu verfolgen. Da waren ihre Tage in Freiheit gezählt. Vor kaum zwei Wochen fiel sie in Ar in seine Ketten.«

Wieder wurde Beifall geklopft.

»Er hielt es für angebracht, sie sodann wie eine Sklavin zu uns zu bringen, in einem Sklavensack. Diesmal entwischte sie nicht!«

Es wurde gelacht. Ich sah Ligurious lächeln.

»Nun ist es an der Zeit«, sagte Claudius, »Sheila, die ehemalige Tatrix von Corcyrus, den Siegern zu präsentieren. Ligurious?«

Ligurious stand auf, ging um den Tisch herum und blieb neben dem Sack stehen.

»Viele von euch«, begann er, »kennen mich vermutlich nur dem Namen nach, als ehemaligen ersten Minister von Corcyrus. Was viele von euch vielleicht nicht wissen, ist die Tatsache, daß ich der heimliche Anführer des Widerstands in Corcyrus gegen die Herrschaft der Tatrix Sheila war. Monatelang bemühte ich mich aus meinem Amt heraus, sie von Feindseligkeiten gegenüber dem großen Staat Argentum abzuhalten. Ich machte meinen ganzen Einfluß geltend, um Frieden und Harmonie walten zu lassen. Leider fruchteten meine Bemühungen nichts, meine Ratschläge wurden in den Wind geschlagen. Allenfalls konnte ich hoffen, den siegreichen Streitkräften Argentums den Weg zu bereiten, was mir auch gelang. Ihr erinnert euch sicher, wie mühelos die Stadt an euch fiel, nachdem das Tor aufgebrochen war.«

Drusus Rencius lächelte.

»In dieser Zeit stand ich natürlich oft in engem Kontakt mit der Tatrix. Bei meinen Bemühungen, sie von der Sinnlosigkeit und dem Wahnsinn ihrer Politik zu überzeugen, hatte ich täglich mit ihr zu tun. Man kann sicher behaupten, daß es auf Gor niemanden gibt, der besser geeignet wäre als ich, sie zu erkennen, sie für euch zu identifizieren.«

»Vielen Dank, edler Ligurious«, sagte Claudius. »Also, würde Sheilas Häscher, der würdige Hassan aus Kasra, die Güte haben, sie uns vorzustellen?« Es blieb still. Männer schauten sich um. »Wo ist Hassan?« fragte der Ubar.

»Er ist nicht hier«, antwortete ein Mann.

Ligurious senkte lächelnd den Blick.

Claudius zuckte die Achseln. »Vielleicht ist er verhindert«, sagte er. »Der Sack soll geöffnet werden!«

Ligurious schaute sich erfreut um. Er machte sich nicht die Mühe, das öffnen des Sacks zu verfolgen, aus dem die hilflose, geknebelte nackte Sklavin hervorgezogen wurde. Man ließ sie vor Claudius und dem Rat niederknien.

Ligurious ließ den Blick in die Runde schweifen. »Ja«, sagte er. »Ich kenne sie gut. Daran besteht kein Zweifel.« Er deutete dramatisch auf die kniende Gestalt, ohne sie allerdings genau anzuschauen; vielmehr galt seine Aufmerksamkeit dem Publikum. »Ja«, sagte er. »Das ist sie! Das ist die berüchtigte Tatrix von Corcyrus!«

Das Mädchen gab verzweifelte Schreie von sich, die natürlich durch den Knebel gedämpft wurden, und schüttelte heftig den Kopf.

»Versuche es nicht zu leugnen, Sheila«, sagte er. »Du bist einwandfrei identifiziert.«

Sie gab den Widerstand aber nicht auf. Immer wieder schüttelte sie den Kopf. Tränen strömten ihr über das Gesicht.

Jetzt schien Ligurious sie überhaupt zum erstenmal näher anzuschauen. Ich glaube nicht, daß er sie sofort erkannte, wohl wegen unserer großen Ähnlichkeit und weil er es für unmöglich hielt, daß nicht ich aus dem Sack gezogen und vor Claudius und den Rat gebracht worden war. Plötzlich aber erbleichte er. »Wartet!« rief er. Er hockte sich nieder und nahm den Kopf der Frau in beide Hände. Sie blickte ihn beschwörend an. »Nein!« rief er plötzlich. »Nein! Das ist sie gar nicht!«

»Ich dachte, du hättest sie einwandfrei als Sheila identifiziert«, sagte Claudius.

»Nein, nein!« rief Ligurious zitternd. Seine Stirn war schweißfeucht. »Ich habe mich geirrt. Dies ist sie nicht!«

»Wo ist sie dann?« fragte Claudius zornig.

»Ich weiß es nicht!« rief Ligurious und sah sich verzweifelt um.

»Hassan aus Kasra!« rief der Bankettmeister von der Tür und gab damit die Ankunft des Sklavenjägers bekannt.

»Tut mir leid, daß ich zu spät komme«, sagte Hassan. »Ich wurde vorübergehend aufgehalten. Zwei Männer griffen mich an. Sie liegen jetzt gefesselt vor meiner Unterkunft, mit gebrochenen Armen und Beinen.«

»Sorgt dafür, daß die Übeltäter in Gewahrsam genommen werden«, sagte Claudius.

»Ja, Ubar«, antworteten zwei Soldaten und verließen mit schnellen Schritten den Saal.

Beim Erscheinen Hassans hatte Sheila sofort den Kopf gesenkt.

»Ist dies die Frau, die du in Ar gefangennahmst?« fragte Claudius und deutete auf Sheila.

Hassan ging zu ihr, griff ihr ins Haar, zog ihr Gesicht herum und untersuchte sie kurz.

»Ja, das ist sie«, sagte er.

»Hältst du sie für die Tatrix von Corcyrus?« fragte Claudius weiter.

»Ja, ich glaube, sie war Tatrix von Corcyrus«, antwortete Hassan.

»Er hat sie nie gesehen!« rief Ligurious.

»Sie wurde von Sleen identifiziert«, antwortete Hassan.

»Aber nach der falschen Kleidung!« rief Ligurious. »Dieses Mädchen ist nicht die echte Tatrix von Corcyrus! Die echte Tatrix muß hier irgendwo sein! Ich bin dessen sicher!«

»Woher willst du das wissen?« fragte Claudius. Verwirrt senkte Ligurious den Kopf. Er konnte der Versammlung nicht gut von dem Austausch erzählen, den er vorhin im Thronsaal hatte vornehmen wollen. »Ich habe sie hier im Palast gesehen«, erwiderte er hastig. »Ich glaubte, sie würde aus dem Sack geholt werden.«

»Mein Ubar«, sagte Miles aus Argentum und stand auf. »So ungern ich dem ehemaligen ersten Minister von Corcyrus widerspreche, der zweifellos einer der besten Lügner auf Gor ist, muß ich es doch als nicht unmöglich bezeichnen, daß er Sheila tatsächlich im Palast gesehen hat, vielleicht auf Händen und Knien beim Wischen eines Korridors, Aufgaben, die ich ihr letzthin mit großer Freude übertragen habe.«

Männer blickten sich erstaunt an.

»Mit deiner Erlaubnis, Ubar«, fuhr Miles fort und rief: »Sheila!«

Angstvoll huschte ich hinter dem Perlenvorhang hervor und kniete vor dem Mitteltisch nieder.

»Heb den Kopf!« befahl Miles.

Rufe des Erstaunens wurden laut.

»Dort!« rief Ligurious triumphierend, »haben wir die echte Sheila, die echte Tatrix von Corcyrus!«

»Glaubst du nicht, du müßtest sie ein wenig gründlicher untersuchen?« fragte Drusus Rencius.

Ligurious warf ihm einen haßerfüllten Blick zu und trat vor mich hin. Er tat, als betrachte er mich gründlich, ehe er sagte: »Ja, das ist die echte Sheila.«

»Eine bemerkenswerte Ähnlichkeit«, sagte Claudius staunend.

»Es könnten Zwillinge sein«, stellte ein Mann fest.

»Eine hat kürzeres Haar. Und es gibt auch andere kleine Unterschiede«, sagte ein anderer.

»Wenn man sie nicht zusammen sieht«, meinte ein dritter, »wäre es äußerst schwierig, sie auseinanderzuhalten.«

»Ja, ja!« riefen Stimmen.

»Ich behaupte, mein Ubar«, sagte Miles aus Argentum, »daß die Frau zu deiner Linken, die Frau mit dem kürzeren Haar, die Tatrix ist, vor der ich in Corcyrus erschien, als ich deinen Auftrag erfüllte und die Protestschreiben Argentums ablieferte.«

»Bist du sicher?«

»Ja«, sagte Ligurious, »er hat recht. Sie ist Sheila, die ehemalige Tatrix von Corcyrus.«

»Das ist aber nicht die Frau, die die Sleen gewittert haben«, wandte Hassan ein.

»Ich habe Zeugen, die sie identifizieren werden«, sagte Miles. »Ich bin der erste dieser Zeugen. Sie ist Sheila, Tatrix von Corcyrus!«

»Woher willst du das wissen?« fragte Drusus Rencius und erhob sich.

Ich war erstaunt. Woher nahm er den Mut zu sprechen?

»Der Hauptmann aus Ar hat nicht das Wort«, sagte Claudius.

»Bitte, laß ihn sprechen, edler Claudius«, sagte Miles.

»Hast du die Absicht, dich für die kurzgeschorene Sklavin zu verwenden?« fragte der Ubar.

»Ja«, sagte Drusus Rencius.

Erstaunte Ausrufe hallten durch den Bankettsaal. Sogar die Bankettsklavinnen, die im Hintergrund standen, Mädchen wie Claudia, Crystal, Tupa und Emily, schauten sich erstaunt an. Ich erschauderte.

»Bitte sehr«, sagte Claudius.

»Sei bedankt, Ubar«, sagte Drusus Rencius.

»Hast du die Absicht, unsere Freundschaft aufs Spiel zu setzen, mein Waffengefährte?« fragte Miles aus Argentum.

»Geliebter Miles, eine Freundschaft, die durch die Wahrheit in Gefahr gebracht werden kann, ist keine Freundschaft«, gab Drusus Rencius zurück.

»Das ist die Frau, die ich in Corcyrus sah, als ich die Protestschreiben Argentums dort ablieferte!« wiederholte Miles und deutete auf mich. »Das ist die Frau, die auf dem Thron saß. Das ist die Frau, die ich nach der Eroberung der Stadt gefangennahm. Das ist die Frau, die ich in den goldenen Käfig sperren ließ.«

»Das bestreite ich auch nicht«, sagte Drusus Rencius.

»Damit gibst du mir recht!« lachte Miles.

»Nein«, sagte Drusus Rencius. »Ich bestreite nicht, daß du sie in Corcyrus gesehen, sie später gefangen und in einen goldenen Käfig gesteckt hast, und so weiter. Was ich bestreite, ist die Tatsache, daß sie die Tatrix von Corcyrus war.«

»Der Hauptmann von Ar«, sagte Miles, »hat anscheinend den Verstand verloren. Er redet Unsinn. Will er uns einreden, die echte Tatrix wäre irgendwo anders gewesen und hätte sich vielleicht die Fingernägel bemalt, während jemand für sie die Staatsgeschäfte erledigte?«

Es wurde gelacht. Drusus Rencius ballte die Fäuste. Er war ein goreanischer Krieger. Es gefiel ihm nicht, auf diese Weise verspottet zu werden.

»Mein zweiter Zeuge«, sagte Miles aus Argentum, »ist die Frau, die dieser Frau in ihrem eigenen Quartier diente, die sie badete und ankleidete, die ihr das Haar kämmte, die ihr praktisch als Leibsklavin diente, jetzt meine eigene Sklavin, Susan.«

Susan wurde gerufen. Wie hübsch und exquisit sah sie in der engen kleinen Tunika aus, die die Uniform der Mädchen von Miles aus Argentum war! Wir trugen nun den gleichen Kragen. Er war unser beider Besitzer.

Sie kniete vor ihm nieder.

»Ist das die Frau, der du in Corcyrus dientest?« fragte Miles und deutete auf mich.

Susan kam zu mir. »Verzeih mir, Herrin«, sagte sie.

»Nenn mich nicht Herrin, Susan«, antwortete ich. »Ich bin jetzt genauso Sklavin wie du.«

»Ja, Herrin«, sagte sie.

»Ist das die Frau, der du gedient hast?« wiederholte Miles seine Frage.

»Ja. Herr.«

Die Mitglieder des Hohen Rates und andere schauten sich nickend an.

»Susan!« rief Drusus Rencius. »Glaubst du, daß diese Frau böse ist? Daß sie der schlimmen Verbrechen schuldig sein kann, die der Tatrix von Corcyrus zur Last gelegt werden?«

»Nein, Herr!« sagte das Mädchen lächelnd.

»Herrinnen haben manchmal eine andere Beziehung zu ihren Sklavinnen oder Freundinnen als zu anderen Menschen«, sagte Ligurious hastig. »Es ist allgemein bekannt, daß Individuen, die im Privatleben nett und liebevoll handeln, zu den schlimmsten Verbrechen fähig sind.«

»Susan«, ließ sich Drusus Rencius nicht beirren, »du weißt, daß dies die Frau ist, der du gedient hast, denn du kennst sie und erkennst sie mühelos. Ich unterstelle, daß du eigentlich gar nicht genau wissen kannst, daß sie die echte Tatrix von Corcyrus war. Du nimmst es an, weil man es dir gesagt hatte, und aus bestimmten anderen Gründen, zum Beispiel weil andere sie auch für die Tatrix hielten und du sie gewisse Dinge tun sahst, von denen du annahmst, daß nur die Tatrix sie tun konnte, beispielsweise Audienzen mit ausländischen Würdenträgern abhalten, und so weiter.«

»Ja, Herr.«

»Aber ist es nicht möglich«, fuhr Drusus Rencius fort, »daß sie als Tatrix galt und diese Dinge tat, ohne wirklich die echte Tatrix zu sein?«

»Ja, Herr«, sagte Susan eifrig.

»Hältst du es für sehr wahrscheinlich, Susan«, warf Miles aus Argentum ein, »daß diese Frau die Tatrix von Corcyrus war?«

»Ja, Herr«, flüsterte sie.

»Genau gefragt: Zweifelst du daran?« hakte Miles nach.

»Nein, Herr«, schluchzte Susan und ließ den Kopf hängen.

»Ich rufe nun meinen nächsten Zeugen auf«, fuhr Miles fort und schickte Susan mit einer Handbewegung in eine Ecke. »Meine Männer fanden ihn in Venna und brachten ihn her, Speusippus aus Turia.«

Zu meinem Erstaunen wurde Speusippus vor die Menge geführt. Die Gegenwart so hoher Herrschaften schien ihn sehr zu hemmen, und er hatte unterwürfig den Kopf eingezogen. Er kam mir längst nicht mehr so abscheulich vor wie zu Anfang. Immerhin war ich jetzt eine Sklavin und stand tausend Stufen unter ihm.

»Du wurdest vor mehreren Monaten in Corcyrus gewisser Unregelmäßigkeiten in deinem Geschäft angeklagt und für eine gewisse Zeit aus der Stadt verbannt?« fragte Miles.

»Ja«, sagte Speusippus.

»Den Berichten zufolge führte man dich aus der Stadt.«

»Ja.«

»Wer fand dich schuldig? Wer sprach das Urteil über dich?«

»Sheila, Tatrix von Corcyrus«, antwortete Speusippus.

»Ist die Frau, die Tatrix von Corcyrus war, in diesem Raum?« fragte Miles aus Argentum.

»Ja«, erwiderte Speusippus.

»Würdest du sie uns zeigen?«

Ohne zu zögern kam Speusippus zu mir und deutete auf mich. »Das ist sie«, sagte er.

»Auch er könnte sich in dieser Angelegenheit irren!« rief Drusus Rencius.

Seine Äußerung wurde mit Gelächter quittiert.

»Ich rufe nun den vierten Zeugen«, sagte Miles aus Argentum, »Ligurious, den ehemaligen ersten Minister von Corcyrus. Er müßte die echte Tatrix von Corcyrus wie kein zweiter kennen. Ich möchte ihn bitten, eine offizielle Identifizierung vorzunehmen.«

Ligurious deutete auf mich. »Ich kenne sie gut«, sagte er. »Das ist Sheila, die ehemalige echte Tatrix von Corcyrus.«

»Hast du weitere Zeugen, General?« wandte sich Claudius an Miles.

»Ja, edler Claudius«, sagte Miles, »noch einen.«

»Dann ruf ihn auf.«

»Drusus Rencius!«

»Ich?« rief Drusus.

Einige Anwesende sahen sich erstaunt an.

»Ja«, sagte Miles. »Du bist Drusus Rencius, ein Hauptmann aus Ar, nicht wahr?«

»Ja«, antwortete Drusus Rencius ärgerlich.

»Du warst zum Dienst nach Argentum abgestellt und führtest einen Spionageauftrag in den Mauern von Corcyrus durch?«

»Ja.«

»Soweit ich weiß, gehörte es in Corcyrus zu deinen Pflichten, als Leibwächter Sheilas zu dienen, der Tatrix von Corcyrus.«

»Man übertrug mir die Aufgabe, eine Frau zu bewachen, die ich damals für Sheila, Tatrix von Corcyrus, hielt«, antwortete Drusus Rencius. »Ich glaube heute nicht mehr, daß sie die echte Tatrix war. Ich bin sicher, daß ich und viele andere – darunter auch du – von Ligurious in die Irre geführt wurden. Dieses Mädchen diente als Ablenkung von der echten Tatrix. Sie wurde in die Rolle und Identität der Tatrix eingeführt, eine Rolle, die sie zumindest zum Teil ausfüllte. Der Erfolg des brillanten Plans zeigte sich nach dem Fall der Stadt. Dieses Mädchen fiel uns in die Hände und wurde als angebliche Tatrix entkleidet und in einen Käfig gesteckt. Die echte Tatrix entkam uns unterdessen, und zwar in der Begleitung Ligurious’ und anderer.«

»Ligurious?« fragte Claudius.

»Ich weise das entschieden zurück!« sagte Ligurious.

»Ist die Frau, die du für die Tatrix von Corcyrus hieltest und die du in Corcyrus als Tatrix bezeichnetest, hier in diesem Raum?«

Drusus Rencius schwieg. »Ja, sie ist hier«, sagte er nach langem Zögern.

»Würdest du sie uns bitte zeigen?« fragte Miles.

Drusus Rencius deutete auf mich. »Das ist sie«, sagte er.

»Vielen Dank«, antwortete Miles. »Die Angelegenheit ist abgeschlossen.«

»Indem ich diese Identifizierung vornehme«, fuhr Drusus Rencius fort, »tue ich nichts anderes als zuzugeben, daß ich mich von Ligurious täuschen ließ! Begreift ihr das nicht? Er hält uns alle zum Narren!«

Ligurious senkte den Blick, als bekümmere ihn ein solch unvernünftiger und absurder Ausbruch.

»Bei der Liebe, die ich für dich empfinde und du für mich, hör mich an!« wandte sich Drusus an Miles. »Diese Frau ist nicht die Tatrix! Sie saß auf dem Thron! Sie hielt Gericht als Tatrix! Sie erledigte Staatsgeschäfte als Tatrix! Sie war bekannt als Tatrix! Aber sie war nicht die Tatrix!«

»Wir dürfen die Beweise nicht vergessen«, sagte Miles aus Argentum, »Beweise, die von einigen hier vorgetragen wurden und die klar darauf hindeuten, daß sie die Tatrix war. Was für Beweise willst du noch sehen? Woher sollen wir beispielsweise wissen, daß du wirklich Drusus Rencius bist, Hauptmann aus Ar? Oder daß ich Miles bin, ein General aus Argentum? Oder er Ligurious, bisher erster Minister in Corcyrus? Woher wissen wir, daß die Leute hier im Raum sind, was wir annehmen. Vielleicht sind wir alle Opfer einer komplizierten, unvorstellbaren Täuschung! Hier geht es aber um vernunftgemäße Gewißheiten, nicht um vage Begriffe. Und so gesehen steht über jeden Zweifel fest, daß sie die Tatrix von Corcyrus war!«

Applaus brandete auf.

»Ich rufe eine alte Zeugin noch einmal auf«, fuhr Miles fort, »meine Sklavin Susan.«

»Herr?« fragte sie schüchtern.

»Ich frage dich jetzt nach deiner Meinung, Susan. War die Sklavin mit dem kurzgeschnittenen Haar, die deine Herrin war, der Ansicht, sie sei Sheila, Tatrix von Corcyrus?«

»Ja, Herr«, flüsterte Susan mit gesenktem Blick.

Auch ich ließ den Kopf hängen. Ich hatte mich wirklich für Sheila gehalten. Noch jetzt war ich noch im Zwiespalt. Auf einer Weise war ich Sheila, die in Corcyrus Tatrix gewesen war. In Wirklichkeit war ich wohl eine von zwei Sheilas gewesen, die, jede auf ihre Weise, dort als Tatrix gewirkt hatten. Natürlich war mir bekannt, daß ich nicht die echte Sheila, oder zumindest die wichtige Sheila war, die Sheila, für die sich diese Männer besonders interessierten. Auf meine Weise war auch ich von Ligurious zum Narren gehalten worden.

»Sie selbst«, sagte Miles aus Argentum, »sah sich als Tatrix von Corcyrus an. Sie akzeptierte sich selbst in dieser Rolle! Sie leugnete es nicht. Warum nicht? Weil sie genau das war!«

»Nein!« rief Drusus Rencius.

»Warum glaubst du, daß sie nicht die Tatrix von Corcyrus war?« fragte Miles.

»Ich weiß es nicht!« rief Drusus Rencius. »Ich weiß es nicht!«

»Ich bitte dich, Hauptmann!« sagte Miles herablassend.

»Ich kenne sie«, sagte Drusus Rencius zornig. »Ich kenne sie seit Corcyrus. Sie ist hübsch, sie gehört in einen Sklavenkragen, doch sie ist nicht der Typ Frau, die Untaten begehen konnte, wie sie die Tatrix von Corcyrus angeordnet hat. Das steckt einfach nicht in ihr!«

»Hat sich der gute Hauptmann aus Ar vielleicht von den Blicken einer Frau weichkriegen lassen?« fragte Miles.

»Nein!«

»Sie hat dich schwach werden lassen!« behauptete Miles.

»Nein!« rief Drusus Rencius.

Ich schaute ihn an. Ich war eine nackte Sklavin und kniete in Ketten vor ihm. Wie könnte ich einen solchen Mann schwach werden lassen?

»Die Beweise sind deutlich«, sagte Miles aus Argentum zum Ubar Claudius und zu den Mitgliedern des Hohen Rates und zu den anderen Anwesenden. »Mein Fall ist damit abgeschlossen.« Er deutete auf mich. »Dort die Frau, die Tatrix von Corcyrus war!«

Er erhielt viel Beifall. Drusus Rencius wandte sich zornig ab. Mit geballten Fäusten blieb er stehen.

»Das ist aber nicht das Mädchen, das die Sleen bestimmt haben«, sagte Hassan.

Drusus Rencius fuhr herum. »Richtig!« rief er.

»Darf ich sprechen?« fragte Ligurious.

»Ja«, sagte Claudius.

»In bezug auf die Sleen habe ich mit Problemen gerechnet«, begann er. »Zunächst müssen wir uns klarmachen, daß die Sleen lediglich einem Duft folgen. Eine Fährte erkennen sie natürlich, doch wissen sie formell oder legal gesehen nicht, wem sie folgen. Zum Beispiel erkennt ein Tier den Geruch seines Herrn, weiß aber nicht, ob dieser Herr ein Bauer oder ein Ubar ist. Wenn wir nun einen Sleen nach einer Tatrix suchen lassen, fordern wir den Sleen nicht auf, dies zu tun. Vielmehr geben wir ihm etwas, das angeblich den Duft der Tatrix enthält, und schon folgt der Sleen diesem Duft – es könnte sich genausogut um den Duft eines wilden Tarsk oder eines gelben Tabuk handeln. Entscheidend ist also die Frage, ob der Sleen auf die richtige Fähre gesetzt wird oder nicht. Fünfzehnhundert Goldstücke Belohnung sind eine große Summe. Wo es immerhin um soviel Geld geht – könnte man sich da nicht vorstellen, daß eine Frau, die der Tatrix so sehr ähnelt wie diese Frau, als Opfer erwählt wird, um das Ergebnis der Jagd betrügerisch zu fälschen? Das wäre ganz einfach: Ein Stück Kleidung würde genügen, ein Stück Bettlaken, sogar der Duft eines Fußabdrucks. Dann wird die unschuldige Frau gefangen und später an einem Ort wie diesem präsentiert, um die Belohnung einzukassieren.«

Claudius, Ubar von Argentum, wandte sich an Hassan. »Hier wird deine Integrität als Jäger angegriffen«, sagte er. Alle Blicke ruhten auf Hassan.

»Ich bin in solchen Dingen nicht empfindlich«, sagte Hassan, »denn ich bin kein Krieger, sondern Geschäftsmann. Ich gestehe Claudius und dem Hohen Rat das Recht zu, sich in dieser Frage Gewißheit verschaffen zu wollen. Es ist sogar ihre Pflicht, Argentum vor Betrügern zu schützen. Vieles von dem, was Ligurious hier vorgetragen hat, stimmt, zum Beispiel seine Angaben über die Sleen und ihren Einsatz und die Grenzen ihrer Fähigkeiten. Solche Tatsachen sind allgemein bekannt. Der entscheidende Punkt ist die Echtheit der Gegenstände, die dazu verwendet wurden, den Tieren die Fährte schmackhaft zu machen. In Corcyrus erhielt ich vom Administrator der Stadt, Menicius, Kleidung, die von der Tatrix getragen worden war. Ich teilte diese Kleidung in zwei Bündel auf und ließ jedes mit dem Siegel Corcyrus’ verschließen. Dazu erhielt ich einen Bestätigungsbrief, unterzeichnet von Menicius und ebenfalls mit dem Siegel von Corcyrus versehen. Eines dieser Bündel öffnete ich in Ar und verwendete es, um die frühere Tatrix von Corcyrus aufzuspüren und festzusetzen.«

»Die Frau, von der du behauptest, daß sie die frühere Tatrix ist«, sagte Ligurious.

»Ja«, sagte Hassan.

»Besitzt du noch das zweite ungeöffnete Bündel und den Brief von Menicius, Administrator von Corcyrus?« fragte Claudius.

»Ich rechnete damit, daß diese Dinge wichtig werden könnten«, antwortete Hassan. »Ja.«

Hassan war wirklich ein echter Profi. Den Namen »Menicius« hatte ich schon einmal irgendwo gehört, wußte ihn aber nicht unterzubringen. Sein Träger war offenbar zum Administrator der Stadt Corcyrus ernannt worden.

Claudius blickte Hassan an.

»Ich hole die Sachen«, sagte der Sklavenjäger und stand auf.

»Auch ich besitze Kleidung aus Corcyrus«, fiel Ligurious ein. »Bei diesen Sachen handelt es sich aber um authentische Stücke, die tatsächlich von der Tatrix von Corcyrus getragen wurden.«

»Bitte sei so nett, diese Sachen als Beweise vorzulegen«, sagte Claudius.

»Ich bin gleich zurück«, erwiderte Ligurious.

»Bringt Wach-Sleen und Fleisch«, ordnete Claudius an, und einer der Wächter verließ den Saal.

Kurze Zeit später waren Hassan und Ligurious zurückgekehrt. Zwei Sleen, jeweils von zwei Mann gehalten, wurden in den Saal geführt. Die Bankettsklavinnen und Tänzerinnen drückten sich eingeschüchtert an die Wände. Solche Tiere sind es gewöhnt, Sklaven zu verfolgen.

Auch ich kauerte mich angstvoll zusammen. Auch ich war Sklavin.

»Wie du siehst«, sagte Hassan zu Claudius und dem Hohen Rat, »ist das Siegel an diesem Bündel intakt. Hier ist überdies der Brief von Menicius.«

Der Brief wurde untersucht. Claudius erbrach persönlich das Siegel des Bündels und reichte einem der Sleenwächter die Sachen. Ein Soldat hockte sich hinter mir nieder und hielt mich an den Oberarmen fest. Ein anderer kümmerte sich links von mir auf gleiche Weise um Sheila. Wir durften uns nicht von der Stelle rühren.

Einer der Wächter hielt einem Sleen die Kleidung unter die Schnauze. Dann wurden Signale gegeben, wie sie zwischen Wärter und Tier für gewisse Grundkommandos eingeübt wurden. Das Tier machte plötzlich einen Satz auf uns zu. Sheila und ich schrien auf und warfen uns zurück. Ich spürte förmlich, wie der Körper des Ungeheuers, sein öliges Fell, die Muskeln und Rippen darunter, an mir vorbeistrich bei dem Versuch, sich auf Sheila zu stürzen. Sheila versuchte sich rückwärts zu werfen, wurde aber festgehalten. Sie schloß die Augen und warf schluchzend den Kopf zurück. Der aufgeregte Sleen versuchte an Sheila heranzukommen. Seine Klauen kratzten und scharrten über die Fliesen. Mit funkelnden Augen schnappte er nach dem Mädchen.

Ein Kommando wurde gesprochen, und der Sleen zog sich zurück. Jemand warf ihm ein Fleischstück hin. Sheila starrte das Tier mit glasigem Blick an.

»Die Kleidung, mit der der Sleen auf das Mädchen zur Rechten angesetzt wurde, kann natürlich jederzeit mit ihrem Duft geimpft worden sein«, sagte Ligurious. »Zum Beispiel könnte man sie ihr eine Nacht lang in den Sklavensack gesteckt haben, als sie nach Argentum gebracht wurde. Hier aber habe ich Kleidung unter einem Siegel, das ich nun aufbreche, die in Wirklichkeit der früheren Tatrix von Corcyrus gehört. Seht ihr? Schon windet sie sich vor Unbehagen. Sie weiß genau, daß sie durch diese Kleidung unwiderruflich als frühere echte Tatrix von Corcyrus entlarvt werden wird.«

Entsetzt schaute ich zu, wie Ligurious die Kleidung einem der Sleenwächter zuwarf. Ich kannte diese Stücke. Meine allererste Sklaventunika auf Gor; das Gewand, das ich bei der Audienz Miles’ von Argentum getragen hatte; die Robe, die ich am Tage meiner Gefangennahme trug.

Dann schob der Sleen, ein anderes Tier, seine Schnauze tief in den Stapel von Kleidungsstücken. Ich hörte ihn schniefen. Unwillkürlich beugte ich mich zurück. Die Hände des Soldaten, der hinter mir hockte, hielten mich unverrückbar fest.

Gleich darauf sprang auch dieser Sleen los. Ich schloß die Augen und schrie. Ich spürte den heißen Atem des Tiers auf meinen Brüsten. Sein Fauchen schien mich einzuhüllen. Ich spürte seine Kraft, seinen raubtierhaften Eifer und hörte das Schnappen seiner Kiefer.

Auf ein Wort hin wurde das Tier zurückgezogen und bekam Fleisch zu fressen. Ich zitterte. Hätte der Soldat mich nicht festgehalten, wäre ich wohl zusammengebrochen. Ich bemerkte Drusus Rencius’ verächtlichen Blick, der mir aber nichts ausmachte. Ich war kein Krieger. Ich war ein Mädchen, eine Sklavin.

»Nun seht ihr«, sagte Ligurious, »wer die echte Tatrix von Corcyrus war.«

»Mir will scheinen, daß nun jede der beiden Frauen entsprechend identifiziert wurde«, sagte Claudius, »eine aufgrund der Kleidung, die Hassan mitbrachte, die andere aufgrund der Kleidung, die du uns vorlegtest.«

»Untersucht die Siegel!« sagte Ligurious triumphierend. »Überzeugt euch, welche Sendung das echte Siegel von Corcyrus trägt!«

Die erbrochenen Siegel wurden Claudius vorgelegt. Er deponierte sie vor sich auf den Tisch. Mitglieder des Hohen Rates umdrängten ihn.

»Das Siegel, das sich an Ligurious’ Paket befand«, sagte er, »ist das Siegel von Corcyrus.«

»Das kann nicht sein!« rief Hassan.

»Vielleicht gibt man dir zwei Ahn Zeit, Argentum zu verlassen«, sagte Ligurious.

»Ich habe den Brief von Menicius!« sagte Hassan.

»Zweifellos wird er das gleiche Siegel tragen, das sich auch auf dem Paket befindet«, sagte Ligurious«

»Ja«, erwiderte Hassan.

»Ich habe ebenfalls einen solchen Brief, aber einen echten«, sagte Ligurious. »Darin werden die Kleidungsstücke beschrieben und für echt erklärt. Dieser Brief trägt die Unterschrift Menicius’ und ist mit dem echten Siegel von Corcyrus unterfertigt.« Er griff in seine Robe und zog einen von einem Bändchen zusammengehaltenen Brief hervor; das Bändchen war mit einem Siegel gesichert.

Das Siegel wurde untersucht.

»Dies ist das Siegel von Corcyrus«, sagte Claudius.

Das Schreiben wurde geöffnet und studiert.

»Die Beschreibungen passen zu den Kleidungsstücken, die Ligurious uns vorgelegt hat«, sagte ein Mitglied des Hohen Rates.

»Wer hat den Brief unterzeichnet?« fragte Ligurious.

»Menicius«, sagte ein Mitglied des hohen Rates und hob den Kopf.

»Ich glaube nicht!« sagte eine Stimme.

Alle Blicke richteten sich auf den hinteren Teil des Raumes. Dort erhob sich der verhüllte Gast.

»Wer wagt mir da zu widersprechen?« fragte Ligurious.

Mit zwei Händen schob der Gast seine Kapuze zurück.

»Ich glaube, ich bin mehreren Anwesenden bekannt«, sagte er. »Einige von euch waren anwesend, als ich in mein Amt als Administrator von Corcyrus eingeführt wurde.«

»Menicius!« riefen Stimmen durcheinander.

Ligurious schien das Gleichgewicht zu verlieren.

»Mein lieber Ligurious«, sagte Menicius, »dein Komplice in Corcyrus ist längst verhaftet. Er hat alles gestanden. Danach erschien es mir interessant, inkognito nach Argentum zu reisen, mit dem Paß eines unwichtigen Gesandten, den ich mir selbst ausgestellt hatte.«

Wie verblüfft ich war! Ich erkannte diesen bisher unbekannten Gast sofort. Ich hatte ihn als Menicius aus der Kaste der Metallarbeiter kennengelernt. Er war der Mann, dessen Leben ich verschont hatte, als er sich kritisch über die Tatrix äußerte, an jenem Tag vor langer Zeit, als ich mit Ligurious durch die Straßen zog. Zweifellos erinnerte sich auch Drusus Rencius an den Mann, denn er hatte ihn daran gehindert, meine Sänfte zu stürmen.

»Ich fand es sehr interessant zu erfahren, daß du der Anführer der Opposition gegen die Herrschaft der Tatrix warst«, fuhr Menicius fort. »Ich dachte bisher, daß diese Ehre mir gebührte.«

Ligurious blickte sich hilflos um.

»Ich schlage vor, diesen Mann in Ketten zu legen«, sagte Menicius.

»Ja, es soll geschehen!« befahl Claudius. Zwei Wächter traten an Ligurious’ Seite und fesselten ihm die Hände auf dem Rücken.

»Die Siegel auf dem Paket und dem Brief Hassans waren echt«, sagte Menicius. »Natürlich ist klar, daß sie euch fremd waren. Sie zeigen das neue Siegel von Corcyrus. Wir mußten nämlich nach der Einsetzung des neuen Regimes feststellen, daß das alte Siegel fehlte. Vermutlich war es von Ligurious bei seiner Flucht mitgenommen worden. Das scheint nun bewiesen zu sein. Aus diesem Grund, und auch um den Beginn einer neuen Ordnung in Corcyrus zu feiern, wurde das Siegel geändert.«

Ligurious blickte zu Boden.

Menicius blieb vor Sheila und mir stehen. »So sieht man sich wieder«, sagte er zu mir.

»Ja, Herr«, antwortete ich.

»Wer bist du?« fragte er.

»Mein Herr ist Miles aus Argentum«, sagte ich. »Er hat mich Sheila genannt.«

»Du machst dich gut in Sklavenketten, Sheila«, sagte er.

»Und wer bist du?« fragte er die andere Sheila.

»Mein Herr ist Hassan aus Kasra«, antwortete sie. »Er hat mich Sheila genannt.«

Menicius zog unter seiner Robe ein Päckchen hervor, öffnete es und zeigte seinen seidigen Inhalt herum.

Sheila sank erschaudernd noch tiefer vor ihm zusammen.

»Dies sind weitere Kleidungsstücke aus Corcyrus«, verkündete er. »Sie stammen aus dem Besitz der Tatrix, gefunden in ihren Gemächern im Palast.« Er wandte sich an Sheila. »Vielleicht erkennst du sie?«

»Gib nichts zu!« rief Ligurious.

Das Mädchen blickte Hassan an, dessen Gesicht ausdruckslos blieb.

»Seht euch die Stücke an«, fuhr Menicius fort. »Denkt über sie nach. Sie sind eindeutig barbarischen Ursprungs! Nur wenige Sklavinnen, die auf diese Welt kommen, treffen hier bekleidet ein, und keine darf ihre Sachen behalten!«

Dies verstand jeder der Anwesenden. Es gibt auf Gor ein Sprichwort, daß jeder, der seine Sklavinnen bekleidet kauft, ein Dummkopf ist.

»Die Tatrix von Corcyrus dagegen war zwar Barbarin, durfte aber anscheinend ihre Kleidung behalten. Und ihre Freiheit. Die wurde ihr erst kürzlich von Hassan aus Kasra genommen.«

Männer nickten sich zu.

»Einige von uns«, fuhr Menicius fort, »sind mit den erschreckenden Gerüchten vertraut, daß es auf Gor und anderswo Kräfte gibt, die die Macht der Priesterkönige herausfordern wollen, jener seit Urzeiten über Gor herrschenden Mächte.«

Angstvoll blickte man sich an. Manchmal wollte mir scheinen, als wären die Priesterkönige nichts anderes als Sagenwesen. Jedenfalls mischten sie sich, soweit ich das beurteilen konnte, kaum in die Angelegenheiten Gors ein. Andererseits war mir klar, daß irgend jemand oder irgend etwas in Opposition zu den Kräften stehen mußte, die mich nach Gor gebracht hatten, Kräfte, die beispielsweise die Weltraumfahrt beherrschten. Die Goreaner allein, mit ihren Schwertern und Speeren, hätten ihnen keinen Widerstand leisten können. Die Heimlichkeit, mit der diese Leute vorgingen, obwohl sie so mächtig waren, ließ auf die Existenz einer eindrucksvollen Gegenkraft schließen, die auf Gor bei den Priesterkönigen vermutet wurde.

»Es erscheint mir denkbar«, fuhr Menicius fort, »daß solche Kräfte Schätze und barbarische Agenten auf diese Welt bringen, die womöglich keinerlei goreanische Bindungen haben und sich voll und ganz für die Fremden einsetzen. Außerdem können sie natürlich eingeborene Goreaner für ihre Zwecke anwerben. Welche andere Erklärung gibt es dafür, daß eine barbarische Frau wie Sheila in Corcyrus als Tatrix an die Macht kommen konnte? Ich vermute außerdem, daß der Angriff auf die Bergwerke von Argentum nicht erfolgte, um Corcyrus volle Schatztruhen zu bescheren, das bereits sehr reich war, sondern daß es um die ökonomische Ergänzung der Ressourcen jener anderen Macht ging. Sie hatte vielleicht die Absicht, unsere Welt auf subversivem Wege zu unterwandern, Stadt für Stadt, oder eine Städteliga zu bilden, die eine gewisse Vorherrschaft erringen konnte. So etwas ließ sich vermutlich auch innerhalb der Waffengesetze und technologischen Begrenzungen erreichen, die von den Priesterkönigen ausgesprochen worden waren.«

Menicius holte kurz Luft. »So unvorstellbar diese Gedanken erscheinen mögen, sie sind in gewisser Weise plausibel. Ich habe dazu zwei konkrete Beweise anzuführen. Erstens fanden sich vor Corcyrus auf einem großen Feld runde verbrannte Abdrücke, geometrisch sehr exakt, als wäre dort ein riesiger, runder, erhitzter mechanischer Vogel niedergegangen. Zweitens stießen wir im eigentlichen Palast in einer unterirdischen Kammer auf Gerüche, Kot und andere Spuren eines großen unbekannten Ungeheuers, das dort anscheinend hauste, möglicherweise jeweils nur kurzzeitig. Jedenfalls schien es sich rechtzeitig vor dem Sturz der Stadt abgesetzt zu haben.«

Ligurious hob den Blick nicht von den Fliesen.

»Ligurious?« fragte Claudius.

»Ich weiß nichts von diesen Dingen«, sagte der Gefragte achselzuckend.

»Wollen wir sehen, wem diese Kleidung gehört?« fragte Menicius.

»Ja, ja!« riefen mehrere Männer.

»Bitte, nein, Herr, nicht die Sleen!« begann Sheila zu weinen. »Darf ich sprechen?«

»Ja.«

»Ich gestehe alles!« rief sie. »Ich war die echte Tatrix von Corcyrus. Die Frau neben mir ist unschuldig. Sie wurde als ahnungsloser Sündenbock nach Gor gebracht, für den Fall, daß unsere Pläne schiefgingen. Sie konnte keine richtige Macht ausüben. Was immer an Verbrechen begangen wurde – ich trage daran die Schuld, oder die Frau, die ich einmal war. Es ist deshalb nicht nötig, uns beide aufzuspießen. Ich allein bin die Frau, die ihr sucht. Ich wurde in Ar von Hassan aus Kasra gefangengenommen, der jetzt mein Herr ist. Die Belohnung von fünfzehnhundert Goldstücken gehört rechtmäßig ihm. Ich bin bereit, Claudius, dem Ubar von Argentum, ausgeliefert zu werden.«

»Närrin!« fauchte Ligurious und bäumte sich in seinen Fesseln auf.

Beinahe ungläubig starrte ich Sheila an. Sie hatte ihre Identität eingestanden. Ich war von allen Anschuldigungen freigesprochen worden.

»Was ist mit Menicius’ Mutmaßungen über fremde Mächte, über Angelegenheiten der Priesterkönige und anderer?« fragte Claudius.

»Sie treffen zu, Herr«, sagte sie.

»Schweig still!« rief Ligurious.

»Sprich«, sagte Claudius.

»Vorsicht, Claudius«, schaltete sich ein Mann ein. »Bedenke, ob es richtig ist, wenn sich bloße Sterbliche für solche Dinge interessieren.«

»Solche Dinge sind sicher nur für Träger des Zweiten und Dritten Wissens bestimmt«, sagte ein anderer.

»Wir sind keine Wissenden«, meinte ein dritter. »Unser Status, unser Prestige und unser Einkommen hängen nicht von der Verbreitung von Ignoranz und der Förderung des Aberglaubens ab!«

»Ketzerei!« rief eine Stimme.

»Sicher ist es gut, sich mit solchen Dingen zu befassen«, meinte jemand, »wenn das umsichtig und mit Respekt geschieht.«

»Ich meine«, schaltet sich Claudius ein, »in dieser Angelegenheit sind unsere Ängste wie auch unsere Eitelkeiten fehl am Platze. Ich bin sicher, daß Götter beispielsweise das Silber Argentums nicht gebraucht hätten, ebensowenig wie sie feuerspuckende Schiffe brauchten, um die langen, dunklen Straßen zwischen den Welten zurückzulegen. Götter, so möchte ich meinen, hinterlassen keine Spuren in unterirdischen Verliesen und auch keine tiefen Wunden in abgelegenen Grasflächen. Die Ungeheuer, von denen wir hier sprechen, sind meines Erachtens Geschöpfe, die essen und atmen.«

»Dann sprechen wir also nicht von Priesterkönigen«, sagte ein Mann erleichtert.

»Wer weiß schon, wie Priesterkönige beschaffen sind?« wollte jemand wissen.

»Manche behaupten, sie haben gar keine Gestalt!« rief eine Stimme, »sie existieren lediglich!«

»Andere sagen, sie besitzen keine Materie«, warf ein Mann ein, »nur daß sie real sind.«

»Gewiß sind sie wie wir, nur größer und mächtiger.«

»Verschwenden wir keine Zeit mit nutzlosen Spekulationen!« rief ein Mann.

»Sprich!« wandte sich Claudius an Sheila.

»Es geht um zwei Welten, Herr«, sagte sie, »Gor und die Welt, die Erde heißt.«

»Lügnerische Sklavin!« rief ein Mann. »Die Erde ist ein Sagengebilde. Es gibt sie nur in Geschichten. Sie existiert nicht.«

»Verzeih mir, Herr«, widersprach Sheila, »aber es gibt die Erde doch, das versichere ich dir. Ich bin dort geboren, was auch für die Sklavin rechts von mir gilt.«

Der Mann musterte mich eindringlich.

»Ja, Herr«, flüsterte ich angstvoll.

»Daß die Erde wirklich existiert, gehört zum Zweiten Wissen«, sagte einer der Männer, dessen gelbe Tunika ihn als Angehörigen der hohen Kaste der Hausbauer auswies.

»Das wurde ich auch gelehrt«, sagte der Mann neben ihm, offenbar ein Kollege. »Meinst du, es stimmt wirklich?«

»Ich nehme es an«, sagte der erste Mann. Die klassischen Bildungsschichten auf Gor haben etwas mit Kastengrenzen zu tun: das Erste Wissen genügt für die unteren Kasten, das Zweite Wissen wird den höheren Kasten zuteil. Daß es ein Drittes Wissen gab, das der Priesterkönige, ist eine weit verbreitete Überzeugung.

»Um Gor und die Erde«, fuhr Sheila fort, »geht es bei einem Kampf titanischer Kräfte, der Kräfte jener, die ihr Priesterkönige nennt und jener, die man sich als die Anderen, als die Ungeheuer vorstellt.«

»Und was sind das für Ungeheuer?« fragte Claudius.

»Ich habe nie eines gesehen«, erwiderte sie.

»Ligurious?«

»Ich möchte nicht antworten«, sagte der Mann mürrisch.

»Sprich weiter«, sagte Claudius zu Sheila.

»Sowohl die Priesterkönige als auch die Ungeheuer besitzen gewaltige Waffen und beherrschen die Weltraumfahrt«, berichtete sie. »Seit Generationen, so habe ich erfahren, flammen immer wieder Kämpfe zwischen ihnen auf. Immer wieder kommt es zu Vorstößen und Scharmützeln. Bisher hat die grobe Gewalt sich nicht durchsetzen können. In mancher Hinsicht scheinen die Priesterkönige tolerante und defensiv eingestellte Wesen zu sein. Zum Beispiel gestatten sie, daß gestrandete Ungeheuer auf Gor weiterleben dürfen, vorausgesetzt, sie richten sich nach ihren Waffen- und Technologiegesetzen. Und bisher haben sie die Ungeheuer nie bis in ihre Stahlwelten im All verfolgt. Die Ungeheuer, die Gor bis heute nicht in direktem Kampf erobern konnten, versuchen jetzt, so meine ich, diese Welt mit subversiven Mitteln zu unterwandern, indem sie auf die Politik und die Beziehungen zwischen Städten einwirken. Auf diese Weise hoffen sie eine direkte Invasion dieser Welt vielleicht doch noch durchführen zu können, die dann durch eine Anzahl strategisch plazierter Städte oder Städtebünde unterstützt werden könnte. Genaues weiß ich in diesem Punkt nicht und kenne darin nur meine eigene Rolle. Mit Unterstützung der Ungeheuer und mit Einfluß von Ligurious, dem ersten Minister von Corcyrus, kam ich in dieser Stadt an die Macht. Gestützt von der Macht und dem Reichtum der Ungeheuer und assistiert von Ligurious, herrschte ich in meinem Reich. Das Leben als Tatrix gefiel mir bald sehr, und ich konnte feststellen, daß meine Macht sehr real war. Dies betörte mich. In mir erwuchs der Ehrgeiz, Corcyrus’ Einfluß zu mehren und vor allem zum eigenen Vorteil die Silberbergwerke Argentums zu erobern. In diesen Dingen überschritt ich meine Macht. Gegen sein besseres Wissen setzte Ligurious, zumindest im Anfang, mein Begehren gegen die Ungeheuer durch und schützte mich vor ihnen, indem er sie dazu brachte, meine Vorschläge zu akzeptieren. Ligurious war geblendet von mir. Ich verführte ihn förmlich zu meinen Projekten. Ich spielte mit seinen Gefühlen, ich nutzte seine Empfindungen aus. Ich ließ ihn tanzen wie eine Marionette. Ich raubte ihm seine Führungskraft und Männlichkeit.«

Mein Blick fiel auf Ligurious. Sein Gesicht war dunkelrot vor Zorn.

»Mir war klar, daß diese Projekte gefährlich waren«, fuhr sie fort. »Außerdem war ich eine wertvolle Agentin. "So wurde durch Ligurious bei den Ungeheuern die Bestellung nach einer Doppelgängerin aufgegeben. Das erwählte Mädchen war die Sklavin rechts von mir. Sie wurde nach Gor gebracht, und man schärfte ihr ein, sie sei Sheila, Tatrix von Corcyrus. Mit der Zeit akzeptierte sie diese Identität. Einige kennen mich als Tatrix. Andere erlebten nur sie als Tatrix. Daß es hier in Wirklichkeit um zwei Frauen ging, war ein sorgfältig gehütetes Geheimnis, das nur einer Handvoll vertrauenswürdiger Gefolgsleute bekannt war. In mindestens einer Hinsicht gingen unsere Pläne fehl. Wir glaubten nicht, daß Ar seine Bündnispflichten gegenüber Argentum nachkommen und den umfassenden Krieg mit der Cosianischen Allianz riskieren würde, in die Corcyrus eingebunden war. Wie es sich ergab, schaltete sich Ar ein und unterstützte Argentum, während wir von Cos im Stich gelassen wurden. Im Kampf besiegt, der Gefahr eines Aufstandes in den eigenen Mauern ausgesetzt, ergriffen Ligurious und ich und einige andere die Flucht. Die Sklavin rechts von mir, mein Doppel, wurde auf dem Thron zurückgelassen, um den Zorn des Feindes zu kosten. Wie ihr wißt, konnte sie entkommen. Eine umfassende Suche wurde eingeleitet, in deren Verlauf wir beide schließlich gefangengenommen wurden. Nun knien beide, die Tatrix und ihr Doppel, in Ketten vor euch.« Sie neigte den Kopf. »Ihr könnt mich foltern, ihr Herren«, fuhr sie fort. »Aber ich weiß nicht viel mehr als das, was ich gesagt habe. Die Ungeheuer haben uns nicht viel anvertraut, damit wir in Gefangenschaft über ihre Strategien und Pläne nichts verraten konnten.«

»So wie sich Ungeheuer mit Menschen zusammentun«, sagte Claudius, »so könnte es doch auch Bündnisse zwischen Menschen und Priesterkönigen geben.«

»Ja, Herr«, flüsterte sie.

»Und gibt es auf Gor keinen Ort, an dem man solche Männer finden kann?«

»Zweifellos gibt es mehrere, Herr.«

»Nenn mir einen solchen Ort«, forderte Claudius.

Sie erbleichte und blickte unwillkürlich auf Hassan, ihren Herrn. »Das Haus des Samos in Port Kar«, flüsterte sie.

Claudius’ Blick fiel auf Ligurious.

»Ich gedenke in dieser Sache nichts auszusagen«, begann dieser und richtete sich auf. Er schien sehr willensstark zu sein.

»Zweifellos könnte man deine Aussagewilligkeit mit der Folter steigern«, sagte Menicius.

»Das stimmt, doch nur auf Kosten der Ehre Argentums«, gab Ligurious zurück.

Menicius hob die Augenbrauen.

»Es stimmt«, sagte Claudius, »Ligurious kam als freier Mann zu uns, aus eigenem Antrieb. Man hat ihm in Argentum Immunität und freien Abzug garantiert.«

»Er wollte unsere Ermittlungen hintertreiben und hat Beweise gefälscht!« rief ein Mann.

»Unerhörte Anschuldigungen hat er geäußert!« tönte eine Stimme.

»Spießt ihn auf!«

Ligurious lächelte nur. Er hatte gewonnen. Wie unbedeutend würde seine Aufspießung sein im Vergleich zu dem schwarzen Fleck auf der Weste Argentums? Seine Freiheit war garantiert.

»Geleitet den ehemaligen ersten Minister Corcyrus’ hinaus«, ordnete Claudius an, »damit ich nicht noch in Versuchung komme, mich über mein eigenes Wort hinwegzusetzen. Die Fessel ist ihm erst in seiner Unterkunft abzunehmen, in der er zu bleiben hat, bis wir den Fall zu Ende diskutiert haben. Dann erst kann der zugesagte freie Abzug gewährt werden.«

»Das entspricht durchaus unserer Abmachung«, sagte Ligurious herablassend. »Ich beuge mich deiner Entscheidung ebenso bereitwillig, wie ich sie gezwungenermaßen hinnehme.«

»Laßt die Diskussionen noch tausend Jahre währen!« rief eine Stimme.

»So verhält sich Argentum nicht«, sagte Claudius lächelnd.

Auf sein Zeichen wurde Ligurious aus dem Raum geführt.

»Hast du etwas dagegen, Freund Menicius?«

»Ich wußte nichts von den Garantien, die Ligurious gegeben wurden«, antwortete der Administrator. »Unter den gegebenen Umständen konntest du natürlich nicht anders handeln.«

»Auf eine Weise tut er mir sogar leid«, sagte Claudius. »Er ist ein starker Mann, skrupellos und mächtig, doch er ließ sich von einer Frau an der Nase herumführen, ließ sich von ihr um den kleinen Finger wickeln.«

Dann deutete Claudius auf Sheila. »Bring sie nach vorn. Diese Frau ist durch schriftlichen und mündlichen Beweis, durch konkrete Aussagen überführt, die ehemalige Tatrix von Corcyrus zu sein. Diese Tatsache hat sie letztlich sogar selbst eingestanden. Die Belohnung gehört also Hassan aus Kasra. Holt das Gold!«

Hassan begann dröhnend zu lachen. »Glaubt ihr wirklich, ich habe das Mädchen hergebracht, um sie Claudius und dem Hohen Rat auszuliefern? O nein, das ist ein Irrtum!« Die Anwesenden machten ihrem Erstaunen Luft. »Statt der fünfzehnhundert Goldmünzen kannst du mich ebenso oft küssen!« fuhr Hassan lachend fort, »mindestens einmal für jedes Goldstück, das du mich kostest!« »Oh, Herr!« rief Sheila erstaunt.

»Diese Frau war die Tatrix von Corcyrus, nicht wahr?« fragte Hassan.

»Ja«, sagte Claudius erstaunt.

»Seit Jahren«, sagte Hassan, »hörte ich Geschichten über die Tatrix von Corcyrus, über ihre Tyrannei, über ihren sagenhaften Stolz und ihre Schönheit. Eine solche Frau interessierte mich. Und dann stürzte sie von ihrem Thron. Niemand konnte sie finden. Ich wollte wissen, wie es war, eine solche Frau in meinem Kragen zu haben, eine hellhäutige, goldhaarige Tatrix des Nordens, sie zur Frau eines Mannes zu unterwerfen.«

Sheila hatte vor Freude zu weinen begonnen. »Ich liebe dich, Herr!« schluchzte sie.

»Und so machte ich sie zu meiner Sklavin!« rief Hassan.

»Und du hattest nie die Absicht, sie uns zu überlassen?« fragte ein Mitglied des Hohen Rates.

»Nein.«

»Aber warum hast du sie dann hergebracht?«

»Damit ihr sie erniedrigt und hilflos vor euch seht – und zu meinem eigenen Ruhm.«

»Und wenn wir sie dir wegnähmen?« fragte jemand.

»Das werdet ihr nicht tun«, sagte Hassan. »Denn das wäre Diebstahl.«

»Und was ist mit ihren Untaten?«

»Das waren die Verbrechen einer freien Frau«, sagte Hassan. »Nun ist sie nicht mehr frei. Sie ist eine Sklavin, weiter nichts.«

»Ich liebe dich, Herr« flüsterte die Sklavin.

»Führe sie in meine Unterkunft«, sagte Hassan zu einem Soldaten und wandte sich an die Allgemeinheit. »Es war ein interessanter Abend. Ich wünsche euch alles Gute!«

»Wir dir auch, Hassan«, sagte Claudius.

»Heil, Hassan!« rief ein Mann, und andere fielen in den Ruf ein. Männer standen auf und grüßten den Sklavenjäger, der den Saal verließ. Gleich darauf begann sich die Versammlung aufzulösen.

Menicius stand vor mir. Er streckte die Hände aus und sah mich lächelnd an. »Wenn ich meine Werkzeuge bei mir hätte, könnte ich dich ohne weiteres von deinen Fesseln befreien«, sagte er.

Erstaunt blickte ich zu ihm auf. Ich wußte natürlich, daß er der Kaste der Metallarbeiter angehörte.

»Aber ohne Schlüssel oder sonstige Helfer bist du deinen Ketten absolut ausgeliefert, nicht wahr?« fragte er.

»Du!« rief ich. »Du hast mich damals aus dem Lager Miles’ aus Argentum befreit!«

»Du hattest mir zuvor das Leben gerettet, in Corcyrus«, erwiderte er. »Da erschien es mir nur angemessen, dir meinerseits einen Gefallen zu erweisen, der im Rahmen meiner Möglichkeiten lag.«

»Aber wie verschafftest du dir Zugang zum Lager?« rief ich. »Und ihr wart zu zweit! Du hattest einen Begleiter, einen Mann, der Einfluß haben mußte…«

Ich bemerkte Drusus Rencius’ Blick.

»Du«, flüsterte ich. »Du warst es!«

»Vielleicht«, sagte er.

»Aber du bist ein Offizier Ars! Wie konntest du so etwas tun?«

Zornig schaute er mich an. »Ich kenne dich!« sagte er. »Was immer du auch für Schwächen haben mochtest, ich konnte nicht glauben, daß du die Verbrechen der Tatrix von Corcyrus begangen hast. So etwas steckte einfach nicht in dir. Demnach befreite ich nicht die Tatrix von Corcyrus, sondern half bei der Flucht einer Unschuldigen. Meine Tat entsprach damit sogar meinen Pflichten.«

»Du wußtest nicht genau, daß ich nicht die Tatrix war, auch nicht, daß ich die Verbrechen nicht begangen hatte«, sagte ich. »In Corcyrus hast du mich sogar ganz offen als Tatrix identifiziert!«

Sein Gesicht rötete sich vor Zorn.

»Deine Motivation war viel komplexer«, fuhr ich fort, »und ging in schmerzhafte Tiefen. Es war nicht deine Aufgabe, meine Unschuld oder meine Schuld festzustellen. Diese Verantwortung lag bei Claudius, dem Ubar von Argentum und dem Hohen Rat. So bestand eigentlich kein Grund für dich, dein Offizierspatent, deine Zukunft, deine Ehre, dein Leben zu riskieren, um einer vagen Möglichkeit zum Durchbruch zu verhelfen.«

Zornig sah er mich an.

Mein Herz machte einen Freudensprung. »Du liebst mich!« flüsterte ich. »Du liebst mich!«

Im ersten Augenblick hatte ich das Gefühl, er würde mich schlagen. Dann hielt er sich aber doch zurück. Ich war die Sklavin eines anderen Mannes.

»Ich liebe dich, Herr!« schluchzte ich. »Ich habe dich seit unserer ersten Begegnung geliebt!«

Aufgebracht starrte er mich an. »Lügnerische Sklavin!« rief er heftig.

»Nein, Herr!« protestierte ich. »Ich liebe dich! Ich liebe dich aus ganzem Herzen!«

»Was geht hier vor?« fragte Miles aus Argentum.

»Nichts«, antwortete Drusus Rencius.

Menicius lächelte nur.

Miles aus Argentum zerrte mich aus der knienden Stellung hoch. »Geh in das Quartier meiner Frauen«, sagte er.

»Ja, Herr«, sagte ich. Tränen schossen mir in die Augen, als ich aus dem Saal hastete.

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