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Die Nachricht, dass die Suche abgebrochen worden war, erreichte Lagrange II, als Tom Rawson mit müden, rotgeränderten Augen die letzten Veränderungen am Hundertzentimeterteleskop vornahm. Er hatte im Wettlauf mit der Zeit gearbeitet, und jetzt schien die ganze Mühe umsonst gewesen zu sein. Die Selene befand sich überhaupt nicht im Meer des Durstes, sondern in einem Gebiet, wo er sie nie finden konnte — die riesigen Felswände um den Kratersee verbargen es vor seinem Blick, und um das Maß vollzumachen, lag das Schiff vermutlich unter tonnenschweren Felsblöcken begraben. Toms erste Reaktion war nicht Mitgefühl für die Opfer, sondern Wut über nutzlos vergeudete Zeit und Arbeit. Die Schlagzeile »Junger Astronom findet vermisste Touristen« würde nun nie über die Bildschirme der bewohnten Welten flimmern. Er fluchte mit einer Geläufigkeit vor sich hin, die seine Kollegen erstaunt hätte. Dann demontierte er wutentbrannt die Apparaturen, die er aus anderen Abteilungen zusammengebettelt, entliehen und entwendet hatte.

Er war davon überzeugt, dass es funktioniert hätte. Die Theorie war wohlbegründet — sie beruhte immerhin auf einer fast hundert Jahre alten Erfahrung. Die Verwendung der Infrarottechnik ließ sich mindestens bis zum Zweiten Weltkrieg zurückverfolgen; damals hatte man getarnte Fabriken durch die dort produzierte Hitze entdecken können.

Hatte die Selene auf dem Meer auch keine sichtbare Spur hinterlassen, so doch auf jeden Fall eine infrarote. Ihre Schiffsschrauben hatten den relativ warmen Staub in einer Tiefe von etwa dreißig Zentimetern aufgewirbelt und ihn an die kältere Oberfläche gebracht. Mit einem Infrarotauge musste ihr Pfad also noch nach Stunden zu verfolgen sein. Es wäre gerade Zeit genug gewesen, so hatte sich Tom ausgerechnet, den Versuch durchzuführen, bevor die Sonne aufging und die letzten Reste der Hitzefährte durch die kalte Lunarnacht auslöschte.

Aber offensichtlich hatte es jetzt keinen Sinn mehr, weiterzumachen. Zum Glück konnte niemand an Bord der Selene wissen, dass die Suche auf dem Meer des Durstes abgebrochen worden war und die Staubschlitten ihre Bemühungen nun auf den Kratersee konzentrierten. Es war auch gut, dass keiner der Passagiere von Dr. McKenzies Voraussage wusste.

Der Physiker hatte auf einem Blatt Papier den erwarteten Temperaturanstieg grafisch dargestellt. Jede Stunde stellte er den Wert auf dem Kabinenthermometer fest und trug ihn auf seiner Graphik ein. Die Übereinstimmung mit der Theorie war bedrückend genau; in zwanzig Stunden würde die Quecksilbersäule auf vierzig Grad steigen, so dass von da ab mit den ersten Hitzschlägen zu rechnen war. Von welcher Seite man es auch immer betrachtete, es blieb ihnen knapp ein Tag. Unter diesen Umständen wirkten Commodore Hansteens Bemühungen geradezu lächerlich. Übermorgen würde es gleichgültig sein, ob er Erfolg hatte oder nicht.

Aber war das wirklich richtig? Auch wenn sie nur noch die Wahl hatten, entweder als Menschen oder wie Tiere zu sterben, stand die Entscheidung von vornherein fest. Logik und rationelle Begründung hatten hier keinen Platz.

Commodore Hansteen war sich dessen völlig bewusst, als er das Programm für die dahinschwindenden Stunden plante. Zum ersten Mal, seit er die Brücke seines Flaggschiffs Centaurus verlassen hatte, fühlte er sich wieder in seinem Element.

Es spielte gar keine Rolle, was die Leute taten, solange sie sich für ihre Beschäftigung interessierten. Der Buchhalter, der Ingenieur und die beiden Direktoren aus New York spielten mit Begeisterung Poker. Um sie brauchte er sich also keine Sorgen mehr zu machen.

Die meisten anderen Passagiere hatten sich in kleine Gesprächsgruppen aufgeteilt. Die Unterhaltung wurde ziemlich angeregt geführt. Das Vergnügungskomitee tagte immer noch. Professor Jayawardene machte sich gelegentlich Notizen, während Mrs. Schuster trotz der Störversuche ihres Mannes von ihrer Zeit als Revuegirl erzählte. Die einzige Person, die sich ein wenig abzusondern schien, war Miss Morley, die mit präziser Schrift den Rest ihres Notizbuchs füllte. Wahrscheinlich führte sie als gute Journalistin Tagebuch über ihr Abenteuer, doch Commodore Hansteen fürchtete, dass es nur sehr kurz sein würde. Abgesehen davon, bestand nur geringe Hoffnung, dass jemand diese Seiten je zu Gesicht bekam.

Er warf einen Blick auf seine Uhr und bemerkte überrascht, wie spät es war. Jetzt sollte er eigentlich schon auf der anderen Seite des Mondes in Clavius City sein. Er hatte eine Verabredung zum Mittagessen im Lunar Hilton, und — aber es war sinnlos, über eine Zukunft nachzudenken, die es nie geben würde.

Es war wohl am besten, ein bisschen zu schlafen, bevor die Temperatur unerträglich wurde. Die Selene musste eben in einen Schlafsaal umgewandelt werden. Das erforderte einige Überlegung sowie gewisse Beschädigungen des Eigentums der Touristenbehörde. Nach einer kurzen Besprechung mit Captain Harris wandte er sich an die Passagiere.

»Meine Damen und Herren«, sagte er, »wir haben alle einen sehr anstrengenden Tag hinter uns, und die meisten werden etwas Schlaf gebrauchen können. Das ist nicht ganz ohne Probleme, aber ich habe etwas herumexperimentiert und festgestellt, dass sich die Armlehne zwischen den Sitzen bei einiger Anstrengung herausnehmen lässt. Zehn Personen können sich also auf den Polstern ausstrecken, während die übrigen den Boden benützen müssen.

Noch etwas. Sie haben sicher bemerkt, dass es ziemlich warm wird. Ich möchte Ihnen daher raten, alle nicht unbedingt erforderlichen Kleidungsstücke abzulegen. Die Bequemlichkeit ist jetzt weit wichtiger als das Schamgefühl.

Wir schalten die Hauptbeleuchtung ab und lassen nur noch ein paar Notlampen brennen. Wir werden abwechselnd auf dem Pilotensitz Wache halten. Mr. Harris stellt eben eine Liste zusammen. Irgendwelche Fragen oder Vorschläge?«

Niemand meldete sich, und der Commodore seufzte erleichtert auf. Er hatte befürchtet, jemand würde sich nach der Ursache des Temperaturanstiegs erkundigen, und er wusste nicht, was er darauf erwidern sollte. Er besaß kein Talent zum Lügen, andererseits wünschte er, dass die Passagiere möglichst unbehelligt schlafen sollten. Wenn kein Wunder geschah, war das ihr letzter Schlaf.

Miss Wilkins, der die starke Belastung jetzt auch anzumerken war, brachte ein paar Leuten noch etwas zu trinken. Die meisten Passagiere hatten bereits begonnen, Kleider und Anzüge abzulegen. Die Schamhafteren warteten, bis die Hauptbeleuchtung ausgeschaltet wurde. Im trüben rötlichen Schein der Notlampen nahm das Innere der Selene ein phantastisches Aussehen an. Zweiundzwanzig Männer und Frauen, zumeist nur in Unterkleidung, lagen ausgestreckt auf den Sitzen oder am Boden. Ein paar Glückliche schnarchten bereits, aber für die Mehrzahl war es nicht einfach, Schlaf zu finden.

Captain Harris hatte sich eine Stelle im Heck des Kreuzers ausgesucht. Er befand sich nicht mehr in der Kabine, sondern in der winzigen Kombüse. Von dort aus konnte er alle Passagiere im Auge behalten. Er faltete seine Uniform zu einem Kissen zusammen und legte sich auf den harten Boden. Er musste erst in sechs Stunden Wache halten und hoffte, vorher etwas schlafen zu können.

Schlaf! Die letzten Stunden seines Lebens vergingen, und doch hatte er nichts Besseres zu tun. Wie gut schlafen wohl zum Tod Verurteilte, dachte er, in der Nacht vor dem Galgen?

Er war so erschöpft, dass ihn selbst dieser Gedanke nicht erregte. Kurz vor dem Einschlafen sah er noch, wie Dr. McKenzie das Thermometer ablas und auf sein Diagramm eine Eintragung machte, wie ein Astrologe, der ein Horoskop stellt.

Fünfzehn Meter darüber — eine Entfernung, die man bei der auf dem Mond herrschenden geringen Schwerkraft mit einem einzigen Schritt hätte überwinden können — war es bereits Morgen geworden. Der Sonne weit voraus zeigte sich die schimmernde Pyramide des Zodiakallichts, das auf der Erde so selten zu sehen ist. Mit unendlicher Langsamkeit kroch es über den Horizont, wurde heller und heller, als sich der Augenblick des Sonnenaufgangs näherte. Nun war es in die buntschillernde Gloriole des Mondhofs übergegangen — und jetzt begann sich, Millionen Mal strahlender, ein dünnes Band aus Feuer auszubreiten, als die Sonne nach fünfzehn Tagen der Dunkelheit wieder erschien. Es würde bei der langsamen Achsendrehung noch länger als eine Stunde dauern, bis sie ganz am Himmel stand, aber die Nacht war bereits zu Ende.

Die tintige Flut wich langsam vom Meer des Durstes, als das grelle Licht der Dämmerung die Dunkelheit hinwegfegte. Jetzt wurde die riesige, eintönige Fläche des Meeres mit beinahe horizontal einfallenden Strahlen gezeichnet. Hätte sich irgendetwas über die Oberfläche erhoben, dann wäre ein viele hundert Meter langer Schatten entstanden, den keine Suchabteilung übersehen konnte.

Aber hier gab es keine Sucher. Schlitten Eins und Zwei mühten sich fünfzehn Kilometer entfernt im Kratersee ab. Sie befanden sich noch im Dunkeln. Es würde weitere zwei Tage dauern, bevor die Sonne über die hochragenden Gipfel stieg. Während die Stunden vergingen, würde die scharf abgesetzte Trennungslinie zwischen Licht und Schatten über die Felswände hinabgleiten, bis die Sonnenstrahlen in den Krater fielen.

Jetzt herrschte hier noch künstliches Licht, zwischen den Felsblöcken aufblitzend, als die Schlittenbesatzungen jeden Bergrutsch fotografierten. Im Verlauf einer Stunde würden diese Fotos die Erde erreicht haben. Weitere zwei Stunden später sollten sie allen bewohnten Welten vorliegen.

Pech für das Touristengeschäft.

Als Captain Harris erwachte, war es schon viel heißer geworden. Aber nicht die drückende Hitze hatte seinen Schlaf eine gute Stunde, bevor er seine Wache antreten musste, gestört.

Obwohl er noch nie eine Nacht auf der Selene verbracht hatte, kannte Pat jedes Geräusch. Wenn die Motoren nicht liefen, war sie fast völlig stumm. Man musste schon sehr genau hinhören, um das Summen der Pumpenanlagen und das dumpfe Vibrieren der Kühlapparatur zu vernehmen. Diese Geräusche hatten sich nicht verändert, aber vermehrt.

Es war ein kaum hörbares Wispern, so schwach, dass er zunächst glaubte, es sich nur einzubilden.

Dann begriff er plötzlich, warum es ihn geweckt hatte. Im Bruchteil einer Sekunde wurde er hellwach. Er stand schnell auf und presste das Ohr gegen die Luftschleusentür, denn das geheimnisvolle Geräusch kam von draußen.

Jetzt konnte er es hören, immer noch schwach, aber deutlich. Eine Gänsehaut lief ihm über den Rücken. Es konnte keinen Zweifel geben. Zahllose Staubteilchen wisperten wie ein geisterhafter Sandsturm an den Außenwänden der Selene vorbei. Was hatte das zu bedeuten? War das Meer wieder in Unruhe geraten? Würde es die Selene ganz mit hinunternehmen? Aber der Kreuzer schien sich nicht zu bewegen; nur die Außenwelt geisterte vorbei …

Pat ging auf Zehenspitzen in die abgedunkelte Kabine. Dr. McKenzie hielt Wache. Der Wissenschaftler kauerte im Pilotensitz und starrte auf die blind gewordenen Fenster. Als Pat näher trat, drehte er sich um und flüsterte: »Ist bei Ihnen etwas los?«

»Ich weiß nicht recht — kommen Sie mit.«

Sie pressten wieder das Ohr gegen die Außentür der Luftschleuse und lauschten längere Zeit. Schließlich meinte McKenzie: »Der Staub bewegt sich — aber warum? Jetzt haben wir noch etwas, worüber wir uns den Kopf zerbrechen müssen.«

»Noch etwas?«

»Ja. Ich weiß nicht, was mit der Temperatur los ist. Sie steigt noch, aber bei weitem nicht so schnell, wie es eigentlich der Fall sein müsste.«

Der Physiker schien tatsächlich verärgert, dass seine Berechnungen nicht zutrafen, aber für Pat war das die erste gute Nachricht seit der Katastrophe.

»Aber das ist doch kein Grund zur Verärgerung. Wir machen alle Fehler. Und wenn uns dieser ein paar Tage das Leben verlängert, werde ich mich bestimmt nicht beschweren.«

»Aber ich kann keinen Fehler gemacht haben — die Berechnungen sind ganz einfach. Wir wissen, wie viel Wärme zweiundzwanzig Menschen erzeugen, und sie muss ja irgendwo hinkommen.«

»Sie produzieren sicher nicht so viel Hitze, wenn sie schlafen. Vielleicht ist das die Erklärung.«

»Sie glauben doch nicht, dass ich so etwas übersehen würde!«, erwiderte der Wissenschaftler gereizt. »Es macht etwas aus, aber bei weitem nicht genug. Nein, es muss eine andere Erklärung dafür geben.«

»Nehmen wir es einfach hin und seien wir dankbar«, meinte Pat. »Woher kommt dann dieses Geräusch?«

Mit offensichtlichem Widerwillen wandte sich McKenzie dem neuen Problem zu.

»Der Staub bewegt sich, die Selene aber nicht, also handelt es sich nur um eine lokale Wirkung. Im Übrigen scheint es sich tatsächlich nur an der Rückseite der Kabine abzuspielen. Ob das etwas zu bedeuten hat?« Er deutete auf das Schott hinter sich. »Was liegt dahinter?«

»Die Motoren, Sauerstoffreserve, Kühlanlagen …«

»Kühlanlagen! Natürlich! Das ist mir schon aufgefallen, als ich an Bord kam. Jetzt verstehe ich, was geschehen ist. Die Kühlventilatoren sind so heiß geworden, dass der Staub zirkuliert, wie jede Flüssigkeit, die erhitzt wird. Da draußen befindet sich eine Staubfontäne, und sie nimmt die überschüssige Wärme mit sich. Mit einem bisschen Glück dürfte sich die Temperatur stabilisieren. Wir werden es zwar nicht bequem haben, aber wir können es noch überleben.«

Die beiden Männer sahen einander hoffnungsvoll an. Dann sagte Pat langsam: »Ich bin sicher, dass dies die Erklärung ist. Vielleicht wendet sich jetzt alles zum Guten.«

Er sah auf die Uhr und rechnete kurz nach.

»Die Sonne müsste jetzt über dem Meer aufgehen. Der Stützpunkt wird die Staubschlitten ausgeschickt haben, und unsere Position müsste ungefähr bekannt sein. Ich wette zehn zu eins, dass man uns in ein paar Stunden findet.«

»Sollen wir den Commodore unterrichten?«

»Nein, lassen Sie ihn schlafen. Er hat einen schweren Tag hinter sich. Diese Nachricht kann bis zum Morgen warten.«

Als McKenzie wieder nach vorn gegangen war, versuchte Pat noch einmal einzuschlafen. Aber es gelang ihm nicht mehr. Er lag mit offenen Augen da und dachte über das seltsame Ereignis nach. Der Staub, der sie verschluckt und dann zu rösten gedroht hatte, war ihnen jetzt zu Hilfe gekommen. Ob allerdings die Strömung ihre überschüssige Wärme noch nach oben tragen würde, sobald die aufgehende Sonne das Meer voll bestrahlte, wusste er nicht.

Draußen wisperte der Staub immer noch vorbei, und plötzlich wurde Pat an ein altes Stundenglas erinnert, das man ihm als Kind einmal gezeigt hatte. Wenn man es umdrehte, strömte der Sand durch eine Verengung in die untere Kammer, und die wachsende Sandmenge hatte den Ablauf der Minuten und Stunden angezeigt.

Vor der Erfindung der Uhren mussten zahllose Menschen ihre Tage mit Hilfe dieser fallenden Staubkörner eingeteilt haben. Aber bis jetzt war wohl keinem Menschen die Lebensspanne nach einer Fontäne steigenden Staubes bemessen worden.

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