Zum ersten Mal in vierundzwanzig Stunden konnte sich Maurice Spenser ausruhen. Er hatte alles Menschenmögliche getan. Ein paar Leute und die entsprechenden Geräte waren unterwegs nach Port Roris. Es war ein glücklicher Zufall, dass sich Jules Braques in Clavius City aufhielt — er war einer der besten Kameramänner und hatte oft mit Spenser zusammengearbeitet. Captain Anson saß am Elektronenrechner und studierte die Reliefkarten. Die Mannschaft war aus den Bars zurückgeholt und davon verständigt worden, dass ein neuer Kurswechsel bevorstand. Die Finanzexperten von Spensers Nachrichtenagentur berechneten mit wissenschaftlicher Genauigkeit, wie viel sie den anderen Agenturen abverlangen konnten, ohne sie so weit zu treiben, dass sie selbst Raumschiffe mieteten. Aber Spensers Vorsprung war schon zu groß. Kein Konkurrent vermochte das Gebirge der Unzugänglichkeit früher als in achtundvierzig Stunden zu erreichen. Er würde in sechs Stunden dort sein.
Es war jedoch typisch für ihn, dass er sich zwar ausruhte, aber deswegen doch keine Möglichkeit aus dem Auge ließ. Er saß in einem bequemen Sessel im Aussichtsraum des Hafengebäudes, in der einen Hand ein Glas Whisky, in der anderen ein Sandwich. Durch die Doppelglasscheiben konnte er den winzigen Kai sehen, von dem aus die Selene vor drei Tagen abgefahren war. Es war lediglich ein Betonblock, der sich zwanzig Meter weit in das Staubmeer erstreckte. Auf ihm lag wie eine riesige Ziehharmonika der flexible Schlauch, durch den die Passagiere den Kreuzer betreten konnten.
Spenser sah auf die Uhr, dann wieder auf diesen unglaublichen Horizont, der mindestens hundert Kilometer entfernt zu sein schien, nicht zwei oder drei.
Ein paar Minuten später sah er dort etwas aufblitzen. Sie kamen langsam über den Rand des Mondes herauf. Sie würden in fünf Minuten hier sein und ein paar Minuten später die Luftschleuse hinter sich haben, Zeit genug, das letzte Sandwich zu vertilgen.
Dr. Rawson schien Spenser nicht wiederzuerkennen, als dieser ihn begrüßte.
»Dr. Rawson? Ich bin Bürochef von Interplanet News. Sind Sie zu einem Interview bereit?«
»Einen Augenblick«, unterbrach Lawrence. »Ich kenne den Reporter von Interplanet News. Sie sind doch nicht Joe Leonard …«
»Stimmt. Ich bin Maurice Spenser — ich habe Joe letzte Woche abgelöst. Er muss sich wieder an die Erde gewöhnen, sonst kommt er hier sein ganzes Leben nicht mehr weg.«
»Na, Sie sind aber verdammt schnell zur Stelle. Wir haben doch erst vor einer Stunde unsere Meldung durchgegeben.«
Spenser hielt es für besser, nicht zu erwähnen, dass er fast schon den ganzen Tag hier wartete.
»Ich möchte wissen, ob ich ein Teleinterview machen kann«, wiederholte er. Er war sehr gewissenhaft. Manche Journalisten gingen ein Risiko ein und filmten ohne Erlaubnis, aber dabei konnte man seine Stellung verlieren.
»Jetzt nicht, wenn es Ihnen nichts ausmacht. Ich habe sehr viel zu tun, aber Dr. Rawson wird gern mit Ihnen sprechen — das Ganze ist sein Verdienst. Sie können mich zitieren.«
»Äh — vielen Dank«, murmelte Tom verlegen.
»Gut — ich sehe Sie später«, meinte Lawrence. »Ich bin im Ingenieurbüro zu finden. Aber Sie können sich ruhig ein bisschen ausschlafen.«
»Erst, wenn ich mit Ihnen fertig bin«, korrigierte Spenser, packte Tom beim Arm und führte ihn zum Hotel.
Im kleinen Foyer begegneten sie Captain Anson.
»Ich suche Sie schon die ganze Zeit, Mr. Spenser«, sagte er. »Die Gewerkschaft macht uns Unannehmlichkeiten. Sie wissen, dass es Vorschriften über die Mindestpausen zwischen den Flügen gibt. Anscheinend …«
»Bitte, Captain — nicht jetzt. Verhandeln Sie mit der Rechtsabteilung meines Arbeitgebers — rufen Sie Clavius 1234 an und verlangen Sie Harry Dantzig — er erledigt das schon.«
Er führte Tom Rawson die Treppe hinauf in sein Appartement.
Abgesehen von der Winzigkeit der Zimmer und dem Fehlen jedes Fensters hätte sich das Appartement in jedem billigen Hotel auf der Erde befinden können. Couch und Tisch bestanden zum größten Teil aus Fiberglas, denn auf dem Mond gab es Quarz im Überfluss. Das Badezimmer war im Gegensatz zu den riskanten Raumschifftoiletten völlig normal, aber das Bett wirkte ein wenig unheimlich. Für die Besucher von der Erde hatte man eine elastische Decke beigesteuert, die mit Federn befestigt wurde. Das Ganze sah sehr nach Zwangsjacke und Gummizelle aus.
»Ich weiß, dass Sie sehr müde sind«, begann Spenser, »aber ich möchte Ihnen ein paar Fragen stellen. Es macht Ihnen doch nichts aus, wenn die Telekamera läuft?«
»Nein«, sagte Tom, dem längst alles gleichgültig war. Er nippte mechanisch an dem Whisky, den ihm Spenser in die Hand gedrückt hatte.
»Hier ist Maurice Spenser, Interplanet News. Ich unterhalte mich mit Doktor Rawson. Nun, Doktor, wir wissen im Augenblick nur, dass Sie und Mr. Lawrence die Selene gefunden haben und dass die Passagiere wohlauf sind. Vielleicht können Sie uns ohne technische Einzelheiten sagen, wie viel — verdammt noch mal!«
Er fing das langsam fallende Glas auf, ohne einen Tropfen zu verschütten, dann trug er den schlafenden Wissenschaftler auf die Couch. Nun ja, er durfte sich nicht beschweren. Das war das Einzige, was bisher nicht nach Plan gegangen war. Und selbst daraus vermochte er noch einen Vorteil zu schlagen. Denn solange Rawson hier im Hotel Roris schlief, konnte ihn niemand finden, geschweige denn interviewen.
In Clavius City war es Direktor Davis inzwischen gelungen, jedermann davon zu überzeugen, dass er niemanden bevorzugt hatte. Seine Freude über die Entdeckung der Selene hatte sich schnell gelegt, als kurz hintereinander sämtliche großen Nachrichtenagenturen anriefen und wissen wollten, wie es Interplanet News gelungen sein konnte, die Sache exklusiv zu bringen.
Nachdem sich alles aufgeklärt hatte, war der Argwohn bei den anderen Agenturen offener Bewunderung für Spensers Glück und Tüchtigkeit gewichen. Es würde noch eine Weile dauern, bis sie begriffen, dass er noch ganz andere Trümpfe in den Händen hatte.
Die Funkzentrale in Clavius hatte schon viele dramatische Augenblicke erlebt, aber die folgenden Stunden waren unvergesslich. Es war, als lausche man Stimmen aus dem Grab, dachte Davis. Noch vor ein paar Stunden hatte man all diese Männer und Frauen für tot gehalten — und jetzt reihten sie sich frisch und fröhlich hinter dem Mikrofon in der Selene auf, um ihre Freunde und Verwandten zu beruhigen. Dank der Sonde, die Lawrence als Markierungszeichen und Antenne zugleich an Ort und Stelle belassen hatte, konnte die fünfzehn Meter dicke Staubdecke den Kreuzer nicht mehr von seiner Umwelt abschirmen.
Die ungeduldigen Reporter mussten warten, bis die Selene ihre Sendungen unterbrach, um zu ihren Interviews zu kommen. Miss Wilkins diktierte jetzt Mitteilungen, die ihr von den Passagieren gereicht wurden.
»… sag Martha, Jan und Ivy, dass sie sich keine Sorgen zu machen brauchen. Ich komme bald nach Hause. Frag Tom, wie die Sache mit Ericson geklappt hat, und teil mir das bei deinem Anruf mit. Alles Liebe — George. Haben Sie das? Hier Selene — bitte kommen.«
»Zentrale ruft Selene. Ja, wir haben alles — wir sorgen dafür, dass alles weitergeleitet wird. Können wir jetzt mit Captain Harris sprechen? Bitte kommen.«
»Captain Harris ruft die Zentrale. Bitte kommen.«
Davis trat ans Mikrofon.
»Captain Harris — hier spricht Davis. Ich weiß, dass Ihre Passagiere noch viel zu sagen haben, aber die Nachrichtenagenturen haben ihre Leute hier. Ich kann sie kaum noch zurückhalten. Würden Sie mir zunächst beschreiben, wie es in der Selene jetzt aussieht? Bitte kommen.«
»Nun, es ist sehr heiß, und wir haben nicht allzu viel an. Aber wir können uns über die Hitze wohl nicht beschweren, denn durch sie hat man uns ja gefunden. Übrigens gewöhnt man sich daran.
Die Luft ist noch recht gut, wir haben genug Nahrung und Wasser, obwohl der Speiseplan nicht gerade abwechslungsreich ist. Was wollen Sie sonst noch wissen? Bitte kommen.«
»Fragen Sie ihn nach der Stimmung der Passagiere«, meinte einer der Reporter.
»Alle haben sich sehr gut gehalten«, sagte Pat ein wenig hastig. »Wir fragen uns natürlich, wie lange es dauert, bis man uns herausholen kann. Wissen Sie schon Näheres? Bitte kommen.«
»Chefingenieur Lawrence plant in Port Roris bereits die Rettungsarbeiten«, erwiderte Davis. »Wir verständigen Sie sofort, sobald er eine Schätzung treffen kann. Wie vertreiben Sie sich denn inzwischen die Zeit? Bitte kommen.«
Pat erzählte es ihm und erhöhte damit die Verkaufsziffern von »Mein Freunde Shane« und »Orange und Apfel«. Außerdem berichtete er über die Verhöre.
»Das muss sehr amüsant gewesen sein«, meinte Davis. »Aber jetzt können wir Ihnen alles übermitteln, was Sie brauchen — Musik, Theaterstücke, Diskussionen. Was Sie wollen! Wie es Ihnen gefällt. Sie brauchen Ihre Wünsche nur bekanntzugeben. Bitte kommen.«
Pat ließ sich Zeit zur Beantwortung. Die Funkverbindung hatte ihr Leben verändert, ihnen Hoffnung gebracht und eine Mitteilung an ihre Angehörigen ermöglicht. Aber in gewisser Hinsicht bedauerte er fast, dass es mit ihrer Abgeschlossenheit zu Ende war. Das erhebende Gefühl der Gemeinsamkeit, selbst durch Miss Morleys Benehmen nur geringfügig getrübt, hatte sich verflüchtigt. Sie bildeten keine Einheit mehr. Wie ein Regentropfen im Meer waren sie in der Masse ihrer Mitmenschen untergegangen.