12

Dr. Rawsons Schweigen hatte lange genug gedauert, dachte der Chefingenieur. Es war höchste Zeit, sich wieder mit ihm in Verbindung zu setzen.

»Alles in Ordnung, Doktor?«, erkundigte er sich mit seiner freundlichsten Stimme.

Er hörte nur ein kurzes, wütendes Fauchen — aber der Zorn war nicht gegen ihn gerichtet.

»Es funktioniert nicht«, erwiderte Rawson bitter. »Das Wärmebild ist zu kompliziert. Man sieht Dutzende von Hitzeflecken, nicht den einen, nach dem ich suche.«

»Lassen Sie Ihren Schlitten anhalten, ich komme herüber und sehe mir das selber an.«

Staubschlitten Zwei kam zum Stillstand. Schlitten Eins glitt heran, bis sich die beiden Fahrzeuge fast berührten. Trotz der Behinderung durch den Raumanzug schwang sich Lawrence gewandt auf den anderen Schlitten. Er trat zu Rawson und starrte über seine Schulter auf das Bild, das sich durch das Infrarotauge bot.

»Jetzt verstehe ich, was Sie meinen. Ein völliges Durcheinander. Aber warum war es auf Ihren Fotografien anders?«

»Es muss sich um eine Wirkung des Sonnenaufgangs handeln. Das Meer wird wärmer, und aus irgendeinem Grund ist der Temperaturanstieg nicht an allen Stellen gleich.«

»Vielleicht können wir aus dem Muster doch irgendetwas entnehmen. Ich sehe, dass es auch ein paar helle Gebiete gibt — man muss doch eine Erklärung dafür finden.«

Tom Rawson nahm sich zusammen. Er fühlte sich sehr müde.

»Es kann ein Dutzend Erklärungen geben«, erwiderte er matt. »Der Staub sieht überall gleich aus, aber es kann Stellen mit verschiedenartiger Leitfähigkeit geben. Das Meer ist auch nicht überall gleich tief — das wirkt sich auf die Wärmeströmung aus.«

Lawrence starrte immer noch auf das Bild. »Einen Augenblick«, sagte er. »Das klingt recht vernünftig.« Er wandte sich an den Piloten. »Wie tief ist das Meer hier?«

»Das weiß niemand. Systematische Echolotungen sind nie vorgenommen worden. Aber es ist hier sehr seicht — wir sind in der Nähe des Nordufers. Manchmal verlieren wir an einem der Riffs sogar eine Schraube.«

»So seicht? Na bitte, da haben Sie Ihre Antwort. Wenn nur ein paar Zentimeter unter der Oberfläche Fels liegt, wird die Wärmeverteilung natürlich ganz unregelmäßig sein. Wenn wir größere Tiefen unter uns haben, wird sich das Bild vereinfachen.«

»Vielleicht haben Sie recht«, meinte Tom. »Wenn die Selene untergegangen ist, muss das in einem Gebiet gewesen sein, wo der Staub eine große Tiefe erreicht. Sind Sie sicher, dass es hier seicht ist?«

»Das lässt sich sofort feststellen. Ich habe eine zwanzig Meter lange Sonde auf meinem Schlitten.«

Ein einziges Teilstück des Teleskopstabes reichte aus. Als Lawrence es im Staub versinken ließ, traf es schon nach zwei Metern auf ein Hindernis. »Wie viel Ersatzschrauben haben wir bei uns?«, fragte er.

»Vier — also zwei Garnituren«, erwiderte der Pilot. »Wenn wir gegen einen Felsen stoßen, bricht der Sicherungsbolzen ab, und die Schrauben bleiben unbeschädigt. Außerdem sind sie aus Gummi gefertigt. Ich habe im vergangenen Jahr nur drei Stück verloren.«

»Gut — fahren wir weiter. Steuern Sie auf die Schlucht zu. Ich glaube, dass sie sich unterhalb des Meeres fortsetzt, so dass der Staub dort viel tiefer sein muss. Das Infrarotbild wird sich dann sofort vereinfachen.«

Ohne allzu große Hoffnung beobachtete Tom das Muster aus Licht und Schatten auf dem Bildschirm. Die Schlitten glitten jetzt langsam dahin, so dass er Zeit genug hatte, das Gesehene zu analysieren. Nach zwei Kilometern stellte sich heraus, dass Lawrence recht gehabt hatte.

Die Flecken verschwanden, das konfuse Durcheinander aus Wärme und Kälte verschmolz zu einer Einheit. Das Bild bot ein eintöniges Grau, als die Temperaturunterschiede verschwanden. Ohne Frage wurde der Staub hier wesentlich tiefer.

Die Erkenntnis, dass sein Gerät wieder funktionierte, hätte Tom dankbar stimmen sollen, aber es bewirkte fast das Gegenteil. Er konnte nur an die unheimlichen Tiefen denken, über denen er dahinschwebte, auf einem einzigen, zerbrechlichen Fahrzeug. Unter ihm taten sich jetzt vielleicht gähnende Schlünde auf, die bis ins Innere des Mondes reichten. In jedem Augenblick konnten sie den Staubschlitten verschlingen, wie sie es bereits bei der Selene getan hatten.

Er kam sich vor, als tanze er auf einem Seil über einem Abgrund, als müsse er sich einen schmalen Pfad durch Flugsand suchen. Er war sein ganzes Leben lang unsicher gewesen, hatte Sicherheit und Vertrauen nur durch seine Fähigkeiten gewonnen — nie durch die Beziehungen zu Mitmenschen.

Da drüben, nur zwei Kilometer entfernt, erhoben sich die Berge — massiv und ewig, festgewurzelt. Mit ganzem Herzen sehnte er herbei, dass Lawrence diesen gefährlichen Staubozean verließ und ans Land steuerte.

»Zum Gebirge«, hörte er sich flüstern. »Zum Gebirge!«

Man ist nie allein im Raumanzug — solange das Funkgerät eingeschaltet bleibt. Fünfzig Meter entfernt hörte Lawrence dieses Flüstern, und er begriff sofort, was es zu bedeuten hatte.

Ich bin ein Risiko eingegangen, dachte Lawrence, und es sieht so aus, als hätte ich mich verrechnet. Aber ich darf nicht nachgeben. Vielleicht lässt sich noch etwas tun, bevor er die Nerven verliert …

Tom Rawson bemerkte das Herannahen des zweiten Schlittens nicht. Er hatte sich bereits in seinem Albtraum verloren. Aber plötzlich wurde er heftig geschüttelt — so stark, dass seine Stirn gegen den Helm prallte. Einen Augenblick lang trieb ihm der Schmerz die Tränen in die Augen, dann starrte er wütend und zugleich erleichtert Lawrence ins Gesicht. Er hörte seine Stimme aus den Helmlautsprechern dröhnen.

»Jetzt ist es aber genug mit diesem Unsinn«, sagte der Chefingenieur. »Und ich möchte Sie bitten, sich nicht in einem unserer Raumanzüge zu übergeben. Das kostet uns jedes Mal fünfhundert Dollar — aber selbst dann trägt ihn niemand gern.«

»Mir war gar nicht schlecht …«, murmelte Rawson. Dann erkannte er, dass die Wahrheit viel schlimmer war, und er fühlte nur noch Dankbarkeit für Lawrence' Takt. Ehe er noch etwas hinzufügen konnte, fuhr der andere nachdrücklich, aber freundlich fort: »Es kann uns niemand hören, Tom — ich spreche über die Anzugleitung. Passen Sie auf und werden Sie nicht wütend. Ich weiß eine ganze Menge über Sie. Das Leben hat Ihnen übel mitgespielt. Aber Sie sind intelligent — sehr intelligent sogar –, verschwenden Sie also Ihren Verstand nicht, indem Sie sich wie ein verschrecktes Kind benehmen. Gewiss — von Zeit zu Zeit fühlt man sich so, aber jetzt ist einfach nicht der Augenblick dafür. Von Ihnen hängen zweiundzwanzig Menschenleben ab. In fünf Minuten wird das Problem so oder so entschieden sein. Achten Sie auf das Infrarotbild und vergessen Sie alles andere. Ich bringe Sie schon wieder heil heraus — darauf können Sie sich verlassen.«

Lawrence ließ das entsetzte Gesicht des jungen Wissenschaftlers nicht aus den Augen. Dann bemerkte er erleichtert, wie Rawson langsam die Beherrschung wiedergewann.

Eine Weile blieb der Astronom völlig reglos sitzen, anscheinend einer inneren Stimme lauschend. Was sagte sie ihm?, dachte Lawrence. Vielleicht, dass er zu seinen Mitmenschen gehörte, obwohl sie ihn in dieses schreckliche Waisenhaus gesteckt hatten. Vielleicht, dass irgendwo in der Welt ein Mensch existierte, der sich um ihn sorgen würde …

Die beiden Staubschlitten schwebten nebeneinander. Beide Piloten spürten zwar, dass hier etwas Außergewöhnliches vorging, aber sie mischten sich nicht ein. Einem unbeteiligten Beobachter wäre entgangen, welche Dinge hier auf dem Spiel gestanden hatten. Lawrence und Rawson würden jedenfalls nie mehr davon sprechen.

Sie beschäftigten sich schon wieder mit etwas anderem. Denn sie waren gleichzeitig auf eine Tatsache aufmerksam geworden, die der Ironie nicht entbehrte.

Die ganze Zeit, während sie in ihre eigenen Probleme vertieft gewesen waren, hatte das Infrarotauge das lang gesuchte Bild geliefert.


Als Pat und Sue alle Vorräte überprüft hatten und aus der Luftschleuse, die auch als Küche diente, in die Kabine traten, zeigten sich die Passagiere immer noch vom historischen Roman gefesselt. Man amüsierte sich königlich, zumal Barretts britischer Akzent jetzt voll zur Geltung kam.

»Fürwahr, Sir Isaac, Ihr seid ein weiser Mann. Doch dünkt mich, dass auch ein Weib Euch manches lehren könnte.«

»Was meint Ihr, hübsche Jungfer?«

Nell Gwynn errötete.

»Ich fürchte«, seufzte sie, »Ihr habt Euer Leben zu sehr dem Geistigen geweiht. Ihr vergesst, Sir Isaac, dass auch der Leib manch seltsam Wissen schenkt.«

»Ihr habt recht«, flüsterte der weise Mann, während seine Finger ungeschickt an ihrer Bluse nestelten.

»Nicht hier — im Palast!«, protestierte Nell, ohne sich der Angriffe zu erwehren. »Der König wird bald zurück sein!«

»Ängstigt Euch nicht, holdes Wesen. Charles lärmt mit dem Federfuchser Pepys herum. Er wird uns diese Nacht nicht stören …«

Wenn wir jemals hier herauskommen, dachte Pat, müssen wir der Siebzehnjährigen, die diesen Unsinn verfasst haben soll, einen Dankbrief schicken. Sie bringt es fertig, dass sich alle amüsieren, und nur darauf kommt es an.

Nein. Es gab jemanden, der sich absolut nicht amüsierte. Er bemerkte mit einiger Verlegenheit, dass Miss Morley versuchte, seinem Blick zu begegnen. Er erinnerte sich streng an seine Pflichten als Kapitän, wandte sich ihr zu und lächelte sie ein wenig angestrengt an.

Sie lächelte nicht zurück. Langsam und ganz deutlich sah sie zuerst Sue Wilkins und dann ihn an.

Worte waren nicht nötig. Sie hatte klar und unumwunden ausgedrückt: »Ich weiß, was ihr da hinten in der Luftschleuse getrieben habt.«

Pat schoss das Blut ins Gesicht. Einen Augenblick lang saß er wie erstarrt. Dann murmelte er: »Na warte, dir werd ich's zeigen.«

Er stand auf, lächelte Miss Morley giftig an und sagte laut: »Miss Wilkins! Ich glaube, wir haben etwas vergessen. Kommen Sie doch bitte mit in die Luftschleuse!«

Als sich die Tür hinter ihnen schloss, sah ihn Sue Wilkins überrascht an.

»Haben Sie das bemerkt?«, sagte er wutentbrannt.

»Was denn?«

»Miss Morley …«

»Oh«, unterbrach ihn Sue. »Machen Sie sich deswegen keine Sorgen. Sie ist ein armes Ding. Sie starrt Ihnen nach, seit wir losgefahren sind. Sie verstehen doch, was mit ihr los ist.«

Erst zehn Minuten vorher hatten Pat und Sue die Luftschleuse in dem Übereinkommen verlassen, sich zurückhaltend zu geben. Aber jetzt genügten die seltsame Kombination von Miss Morley und Nell Gwynn und das instinktive Gefühl, nur mit der Liebe eine Schranke gegen den Tod errichten zu können. Einen Augenblick lang standen sie bewegungslos in der winzigen Kombüse, dann hatte Pat sie in die Arme genommen.

Sue konnte nur noch ein paar Worte sagen, bevor Pats Lippen ihr den Mund schlossen.

»Nicht hier«, flüsterte sie, »im Palast!«

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