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Als die Selene zum Stillstand kam, waren Mannschaft und Passagiere immer noch unfähig, einen Ton hervorzubringen. Captain Harris erholte sich als Erster, weil er vermutlich als Einziger annähernd begriff, was geschehen war.

Natürlich ein Landrutsch; so etwas kam nicht einmal selten vor, wenn man auch im Meer des Durstes etwas Ähnliches bisher noch nicht beobachtet hatte. Tief unten im Mond war etwas zusammengestürzt; vielleicht war das minimale Gewicht der Selene der auslösende Faktor gewesen. Während sich Harris mühsam erhob, überlegte er, wie weit er die Passagiere unterrichten sollte. Er konnte nicht gut behaupten, alles sei in Ordnung und man werde die Fahrt in fünf Minuten fortsetzen; andererseits konnte eine Panik entstehen, wenn er den Ernst der Lage unumwunden zugab. Früher oder später würde ihm gar nichts anderes übrigbleiben, aber bis dahin durfte das Zutrauen der Fahrgäste nicht erschüttert werden.

Er begegnete Miss Wilkins Blick. Sie stand an der Rückwand der Kabine, hinter den neugierig wartenden Passagieren. Sie war sehr blass, aber gefasst. Er wusste, dass er sich auf sie verlassen konnte, und lächelte ihr beruhigend zu.

»Das ist noch mal gut abgegangen«, begann er leichthin. »Wir hatten einen kleinen Unfall, wie Sie sicher bemerkt haben, aber es könnte schlimmer sein.« — Wie?, fragte er sich. Nun, ein Riss in der Wand zum Beispiel … Du willst also die Qual verlängern? Mit großer Willensanstrengung brach er den inneren Monolog ab. — »Wir sind von einem Landrutsch erfasst worden — einem Mondbeben, wenn Sie wollen. Es besteht nicht der geringste Anlass zur Aufregung. Selbst wenn wir uns nicht aus eigener Kraft freimachen können, wird Port Roris bald Hilfe schicken. Ich weiß, dass Miss Wilkins eben Erfrischungen servieren wollte, deshalb schlage ich vor, dass Sie sich ausruhen, während ich — äh — das Nötige veranlasse.«

Das schien recht gut angekommen zu sein. Mit einem unhörbaren Seufzer der Erleichterung wandte er sich wieder der Steuerung zu. Dabei bemerkte er, dass einer der Passagiere sich eine Zigarette anzündete.

Es war eine automatische Reaktion, für die er durchaus Verständnis aufbrachte. Er sagte nichts, denn das hätte den Erfolg seiner kleinen Rede verdorben, aber er sah den Raucher durchdringend an, und die Zigarette wurde sofort ausgedrückt.

Als Pat das Funkgerät einschaltete, begannen sich die Fahrgäste hinter ihm zu unterhalten. Am allgemeinen Gesprächston ließ sich die Stimmung ablesen, auch wenn man die einzelnen Worte nicht verstand. Harris hörte Verärgerung, Aufregung, sogar Vergnügen heraus — aber bis jetzt nur wenig Angst. Wahrscheinlich konnten die Leute, die sich unterhielten, nicht erfassen, wie gefährlich die Lage war, und die anderen blieben stumm.

Ebenso das Funkgerät. Er suchte die Frequenzen ab, fand aber nur ein schwaches Knistern, das von dem elektrisch geladenen Staub stammte, der sie begraben hatte. Das entsprach genau seinen Erwartungen. Durch den hohen Metallgehalt wirkte der Staub als nahezu vollkommene Abschirmung. Sie ließ weder Funkwellen noch Geräusche durch.

Er schaltete auf eine Hochleistungsfrequenz um, die nun automatisch ein Notsignal auf dem Katastrophen-Kurzwellenband ausschickte. Wenn er überhaupt durchkam, dann nur damit. Es hatte keinen Sinn, mit Port Roris in Verbindung treten zu wollen, und die erfolglosen Versuche würden die Passagiere nur beunruhigen. Er ließ den Empfang auf der seinem Boot zugeteilten Frequenz weiterlaufen, falls irgendeine Antwort eintraf. Aber er wusste, dass es nutzlos war. Niemand konnte sie hören; niemand konnte mit ihnen sprechen. Für sie existierte die Menschheit praktisch nicht mehr.

Er brütete nicht lange darüber nach; er hatte damit gerechnet, und es gab zu viel zu tun. Mit besonderer Sorgfalt überprüfte er alle Instrumente und Messgeräte. Alles schien völlig normal zu sein, abgesehen davon, dass die Temperatur ein bisschen angestiegen war. Auch damit hatte man rechnen müssen, denn die Staubdecke isolierte sie vor der Kälte des Weltraums.

Seine größte Sorge galt der Dicke dieser Staubschicht und dem Druck, den sie auf das Boot ausübte. Es mussten abertausend Tonnen von diesem Stoff über der Selene liegen — und ihr Rumpf war so entworfen, dass er einem Druck von innen, nicht von außen, widerstehen sollte. Wenn sie noch tiefer sank, zerbrach sie vielleicht wie eine Eierschale.

Pat hatte keine Ahnung, wie tief der Kreuzer schon war. Beim letzten Blick auf die Sterne hatten sie sich bereits zehn Meter unter der Oberfläche befunden, und die Saugwirkung des Staubes mochte sie sehr viel weiter hinabgetragen haben. Es war ratsam, den Innendruck zu erhöhen und damit die Wände zu entlasten, wenn auch der Sauerstoffverbrauch dadurch stieg.

Ganz langsam, damit keiner der Passagiere durch ein verräterisches Knacken in den Ohren etwas merkte, erhöhte er den Kabineninnendruck um zwanzig Prozent. Dann fühlte er sich etwas zufriedener. Er war nicht der Einzige, denn als sich der Druckmesser auf den neuen Wert eingependelt hatte, sagte eine gelassene Stimme hinter ihm: »Das war ein guter Einfall.«

Er drehte sich nach hinten, um zu sehen, welcher Wichtigtuer ihm nachspionierte, aber sein Zorn verrauchte sofort. Beim ersten Überblick hatte Harris keinen der Passagiere erkannt; jetzt aber glaubte er diesem stämmigen, grauhaarigen Mann, der zu ihm getreten war, schon einmal begegnet zu sein.

»Ich möchte mich hier nicht aufdrängen, Captain — Sie führen ja das Kommando. Aber ich möchte mich doch vorstellen, falls ich Ihnen irgendwie behilflich sein kann. Ich bin Commodore Hansteen.«

Harris starrte mit offenem Mund den Mann an, der die erste Expedition zum Pluto geführt und wahrscheinlich auf mehr unberührten Planeten und Monden gelandet war als jeder andere Raumfahrer. In seiner Verblüffung konnte er nur stammeln: »Aber Sie standen gar nicht auf der Passagierliste!«

Der Commodore lächelte. »Ich reise unter dem Namen Hanson. Seit meiner Pensionierung sehe ich mir Verschiedenes an, ohne dauernd Verantwortung tragen zu müssen. Seit ich meinen Bart abgenommen habe, erkennt mich kein Mensch mehr.«

»Ich bin sehr froh, dass Sie hier sind«, erwiderte Harris nachdrücklich. Die Last auf seinen Schultern schien leichter geworden zu sein. Der Commodore war ein Mann, auf den er sich in den kommenden schweren Stunden — oder Tagen — verlassen konnte.

»Wenn es Sie nicht stört«, fuhr Hansteen höflich fort, »möchte ich gern Ihre Meinung hören. Wie lange können wir hier aushalten?«

»Wie üblich müssen wir mit dem Sauerstoff als entscheidendem Faktor rechnen. Wir haben einen Vorrat für sieben Tage, vorausgesetzt, dass keine Lecks auftreten. Bisher scheint das nicht der Fall zu sein.«

»Nun ja, das lässt uns jedenfalls Zeit zum Nachdenken. Wie steht's mit Wasser und Nahrung?«

»Wir werden uns einschränken müssen, brauchen aber nicht zu verhungern. Wir haben eine Notreserve an Wasser und komprimierter Nahrung.«

»Strom?«

»Mehr als genug, seit wir die Motoren nicht mehr benützen.«

»Ich habe bemerkt, dass Sie sich nicht bemühen, den Stützpunkt zu rufen.«

»Völlig zwecklos. Der Staub schirmt alles ab. Ich habe das Funkgerät auf Notfrequenz eingestellt — das ist unsere einzige, wenn auch geringe Hoffnung, ein Signal durchzubringen.«

»Man muss uns also auf andere Weise finden. Wie lange, glauben Sie, wird das dauern?«

»Das ist sehr schwer zu sagen. Die Suchaktion wird sofort nach dem Ausbleiben des Signals um zwanzig Uhr beginnen, und das Gebiet, in dem wir uns aufhalten, ist in groben Umrissen bekannt. Aber wir sind wahrscheinlich versunken, ohne eine Spur zu hinterlassen — Sie haben ja selbst gesehen, wie dieser Staub alles verwischt. Und selbst wenn man uns findet …«

»… wie will man uns dann herausholen?«

»Genau.«

Der Captain des zwanzigsitzigen Staubkreuzers und der Raumfahrtcommodore starrten einander stumm an. Dann hörten sie eine sehr britische Stimme laut sagen: »Übrigens, Miss — das ist die erste anständige Tasse Tee, die ich auf dem Mond bisher bekommen habe. Meinen Glückwunsch.«

Der Commodore lachte leise. »Er sollte sich bei Ihnen bedanken, nicht bei der Stewardess«, sagte er und deutete auf den Druckmesser.

Pat lächelte müde. Es stimmte natürlich. Seit er den Kabinendruck erhöht hatte, kochte das Wasser wieder beim normalen Siedepunkt. Auf jeden Fall konnten sie sich jetzt heiße Getränke machen, nicht das übliche lauwarme Zeug.

»Unser größtes Problem ist natürlich die Stimmung der Leute«, meinte Hansteen. »Ich halte es daher für wichtig, dass Sie eine aufmunternde Rede über die sicher jetzt anlaufende Suchaktion halten. Aber geben Sie sich nicht zu optimistisch; wir dürfen nicht den Eindruck erwecken, dass man schon in einer halben Stunde an unserer Tür klopfen wird. Wir beschwören damit nur Unannehmlichkeiten herauf, wenn — nun, wenn wir mehrere Tage warten müssen.«

»Es dauert nicht lange, die Katastrophenorganisation zu beschreiben«, sagte Pat. »Ehrlich gesagt, ist sie auf eine solche Situation gar nicht eingerichtet. Wenn ein Raumschiff auf dem Mond Bruchlandung macht, kann man es sehr leicht von einem der Satelliten aus finden — entweder durch Lagrange II über der Erdseite oder durch Lagrange I über der Rückseite des Mondes. Aber ich bezweifle, ob man uns jetzt überhaupt helfen kann. Wie ich schon sagte, sind wir untergegangen, ohne irgendeine Spur zu hinterlassen.«

»Das lässt sich schwer einsehen. Wenn auf der Erde ein Schiff untergeht, lässt es immer etwas zurück — Luftblasen, Ölflecken, Wrackteile.«

»All das gilt nicht für uns. Und ich sehe auch keinen Weg, wie wir etwas an die Oberfläche schicken können — wie weit sie auch entfernt sein mag.«

»Wir müssen also einfach abwarten.«

»Ja«, stimmte Pat zu. Er warf einen Blick auf die Sauerstoffreserveuhr. »Und eins steht jedenfalls fest — wir können nur eine Woche warten.«

Fünfzigtausend Kilometer über dem Mond legte Tom Rawson die letzte Fotografie auf den Tisch. Er hatte jeden Quadratmillimeter der Abzüge mit einer Lupe abgesucht; sie waren hervorragend gelungen. Der elektronische Bildsucher, Millionen Mal empfindlicher als das menschliche Auge, hatte alle Einzelheiten klar herausgearbeitet. Sogar einer der winzigen Staubschlitten war zu erkennen — oder vielmehr der lange Schatten, den das Erdlicht hervorrief. Aber keine Spur von der Selene. Das Meer war so glatt und ungekräuselt wie je zuvor.

Tom hasste es, Niederlagen eingestehen zu müssen, selbst in weit weniger wichtigen Angelegenheiten. Er war der Meinung, dass man alle Probleme lösen konnte, wenn sie mit der passenden Ausrüstung auf passende Weise angefasst wurden. Das war eine Herausforderung an seinen wissenschaftlichen Scharfsinn; die Tatsache, dass zahlreiche Menschenleben auf dem Spiel standen, war nebensächlich. Dr. Tom Rawson hatte für seine Mitmenschen nicht viel übrig, aber er respektierte das Universum. Er betrachtete das Ganze als eine private Auseinandersetzung.

Er überprüfte die Situation mit kühl-kritischer Intelligenz. Wie hätte wohl der große Sherlock Holmes dieses Problem angepackt? Es war charakteristisch für Tom, dass einer der wenigen Männer, die er wirklich bewunderte, nie existiert hatte. Das offene Meer schied aus, also blieb nur eine Möglichkeit. Der Staubkreuzer musste an der Küste oder in der Nähe des Gebirges, vermutlich in dem als Kratersee bekannten Gebiet zu Schaden gekommen sein. Das klang auch plausibel. Ein Unfall war hier weitaus wahrscheinlicher als auf der glatten, hindernislosen Ebene. Er betrachtete wieder die Fotografien und konzentrierte sich diesmal auf die Berge. Sofort stand er vor einer neuen Schwierigkeit. Am Rand des Meeres gab es zahllose vereinzelte Klippen und Felsblöcke — und bei jedem konnte es sich um den vermissten Kreuzer handeln. Schlimmer noch, viele Gebiete konnte er überhaupt nicht überprüfen, weil die Sicht von den Bergen abgeschnitten wurde. Von Lagrange II aus lag das Meer des Durstes weit unterhalb der Wölbung des Mondes, so dass sich ein stark verkürzter Blickwinkel ergab. Der Kratersee blieb ihm zum Beispiel durch die hoch aufsteigenden Felswände völlig verborgen. Dieses Gebiet konnte also nur von den Staubschlitten abgesucht werden.

Es blieb wohl nichts anderes übrig, als den Kontrollturm zu rufen und einen Zwischenbericht zu erstatten.

»Rawson, Lagrange II«, sagte er, als die Verbindung zustande gekommen war. »Ich habe das Meer des Durstes abgesucht — auf der offenen Ebene ist nichts zu sehen. Die Selene muss irgendwo am Ufer auf Grund gegangen sein.«

»Danke«, erwiderte eine Stimme. »Es gibt keine Zweifel?«

»Nein. Ich kann Ihre Staubschlitten erkennen, die nur ein Viertel der Größe Ihrer Selene haben.«

»Kann man denn am Rand des Meeres nichts feststellen?«

»Das Bild wird hier durch zu viele Einzelheiten verwirrt. Ich kann fünfzig — ja, hundert Objekte sehen, die alle die richtige Größe haben könnten. Sobald die Sonne aufgeht, kann ich sie natürlich genauer studieren. Aber vergessen Sie nicht, dass dort unten jetzt Nacht ist.«

»Wir sind für Ihre Hilfe sehr dankbar. Verständigen Sie uns doch bitte sofort, wenn sich etwas Neues ergibt.«

Davis lauschte in Clavius City resigniert Rawsons Bericht. Das gab den Ausschlag. Man musste die Angehörigen verständigen. Es war unklug, wenn nicht gar unmöglich, die Sache länger geheim zu halten.

Er wandte sich an den Beamten der Verkehrskontrolle und fragte: »Ist die Passagierliste schon eingetroffen?«

»Sie kommt eben per Telefax aus Port Roris. Einen Augenblick.« Als er das dünne Blatt herüberreichte, meinte er: »Sind wichtige Leute an Bord?«

»Alle Touristen sind wichtig«, erklärte Davis kühl, ohne aufzusehen. Dann rief er plötzlich: »Um Gottes willen!«

»Was ist denn los?«

»Commodore Hansteen ist an Bord.«

»Was? Ich wusste gar nicht, dass er sich auf dem Mond aufhält.«

»Wir haben nichts darüber verlauten lassen. Wir hielten es für eine gute Idee, ihn in die Touristenkommission zu berufen, nachdem er pensioniert wurde. Er wollte sich vorher aber auf jeden Fall inkognito ein bisschen umsehen.«

Entsetzt dachten die beiden Männer an die unverkennbare Ironie dieser Situation. Einer der größten Helden der Raumschifffahrt — als gewöhnlicher Tourist bei einem albernen Unfall auf dem Mond umgekommen …

»Das ist natürlich Pech für den Commodore«, meinte der Kontrollbeamte schließlich. »Andererseits ist es aber Glück für die Passagiere — wenn sie noch am Leben sind.«

»Sie werden es wirklich brauchen, da uns auch das Observatorium nicht weiterhelfen kann«, sagte Davis.

Er hatte nur teilweise recht. Dr. Tom Rawson konnte noch mit ein paar Tricks aufwarten.

Ebenso der Jesuitenpater Vincent Ferraro, ein Wissenschaftler von völlig anderer Art. Es war nur bedauerlich, dass er mit Tom Rawson nie zusammentraf. Das hätte sicher ein interessantes Schauspiel gegeben. Pater Ferraro glaubte an Gott und den Menschen; Dr. Rawson glaubte an nichts.

Pater Ferraro hatte seine wissenschaftliche Karriere als Geophysiker begonnen, hatte dann aber umgesattelt und war Selenophysiker geworden — obwohl er diese Bezeichnung nur in besonders pedantischen Augenblicken verwandte. Kein Mensch wusste mehr über das Innere des Mondes. Seine Informationen bezog er von ganzen Instrumentenbatterien, die strategisch über die gesamte Mondoberfläche verteilt waren.

Diese Instrumente hatten eben ein paar sehr interessante Resultate gemeldet. Um neunzehn Uhr fünfunddreißig Minuten siebenundvierzig Sekunden Mondzeit hatte sich in der Regenbogenbucht ein größeres Beben ereignet; es kam ein wenig überraschend, weil dieses Gebiet als besonders stabil bekannt war. Pater Ferraro setzte seine Elektronenrechner in Tätigkeit, um den Zentralpunkt dieser Störung zu ermitteln. Dann ging er zum Mittagessen. Dabei erfuhr er von seinen Kollegen, dass die Selene verschwunden war.

Selbst das größte Elektronengehirn vermag es dem menschlichen Verstand bei der Verbindung anscheinend unzusammenhängender Tatsachen nicht gleichzutun. Pater Ferraro führte den Löffel kaum zum ersten Mal zum Mund, als er zwei und zwei addiert und eine völlig plausible, aber unheilvoll irreführende Lösung gefunden hatte.

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