Vielleicht war es ganz gut, dass die Selene keine Funkverbindung mehr hatte. Die Stimmung wäre auf den Nullpunkt gesunken, wenn die Passagiere gewusst hätten, dass sich die Staubschlitten zurückzogen. Aber in diesem Augenblick dachte niemand auf dem Kreuzer an die Rettungsaktion. Radley zog alle Augen auf sich.
»Was meinen Sie damit — dass das alles Ihre Schuld sei?«, fragte Pat in die verblüffte Stille hinein, die auf die Erklärung des Neuseeländers gefolgt war.
»Das ist eine lange Geschichte, Captain«, erwiderte Radley mit einer Stimme, deren seltsame Untertöne Pat vor ein Rätsel stellten. Es war beinahe, als höre man einem Roboter zu. »Ich möchte nicht behaupten, dass ich die ganzen Ereignisse absichtlich herbeigeführt habe, aber ich fürchte, dass das alles nicht zufällig ist, und es tut mir leid, Sie mit in die Sache verwickelt zu haben. Wissen Sie — sie sind hinter mir her.«
Das hat uns noch gefehlt, dachte Pat. Es scheint sich alles gegen uns verschworen zu haben. In dieser kleinen Gruppe von Menschen gab es eine neurotische Jungfer, einen Rauschgiftsüchtigen — und jetzt auch noch einen Irren.
Aber er sah sehr schnell ein, wie unfair diese Beurteilung war. In Wirklichkeit hatte er sehr viel Glück gehabt. Gegen Radley, Miss Morley und Baldur standen der Commodore, Dr. McKenzie, die Schusters, der kleine Professor Jayawardene, David Barrett — und all die anderen, die sich ohne Widerspruch in alles gefügt hatten. Er spürte plötzlich Zuneigung für seine Passagiere.
Vor allem aber für Sue, die im rückwärtigen Teil der Kabine unauffällig ihren Pflichten nachging. Niemand bemerkte, dass sie die Schiffsapotheke öffnete und eines der Schlafröhrchen herausnahm. Sie war bereit, falls Radley die Nerven verlieren sollte.
Im Augenblick schien er aber völlig vernünftig und beherrscht zu sein. Er stellte genau das dar, was er war — ein ältlicher Buchhalter aus Neuseeland, der sich einen Urlaub auf dem Mond gönnt.
»Das ist ja sehr interessant, Mr. Radley«, meinte Commodore Hansteen. »Aber Sie müssen unsere Unwissenheit entschuldigen. Wer sind ›sie‹, und warum sollten sie hinter Ihnen her sein?«
»Sie haben doch sicher schon von fliegenden Untertassen gehört, Commodore?«
Fliegenden — was?, dachte Pat. Hansteen schien besser informiert zu sein.
»Ja, allerdings«, meinte der Commodore ein wenig müde. »Ich habe in alten Büchern über Astronautik davon gelesen. Vor ungefähr achtzig Jahren waren sie große Mode, nicht wahr?«
»Sie datieren viel weiter zurück«, erwiderte Radley, »aber erst im vergangenen Jahrhundert wurden die Menschen darauf aufmerksam. Es gibt ein altes Manuskript aus dem Jahr 1920, das in allen Einzelheiten ein solches Gefährt beschreibt. Vor dem zwanzigsten Jahrhundert gibt es mehr als zehntausend Beschreibungen über eine Begegnung mit fliegenden Untertassen.«
»Einen Moment mal«, unterbrach ihn Pat. »Was zum Teufel meinen Sie mit ›fliegenden Untertassen‹? Ich hab nie davon gehört.«
»Dann ist Ihre Bildung sehr mangelhaft, Captain«, meinte Radley bedauernd. »Der Ausdruck ›fliegende Untertasse‹ wurde nach 1947 für die Beschreibung der seltsamen, gewöhnlich kreisrunden Flugkörper gebräuchlich, die unseren Planeten seit Jahrhunderten beobachten. Manche Leute ziehen den Namen ›Ufo‹ vor.«
»Glauben Sie wirklich, dass Besucher aus dem Weltraum die Erde beobachten?«, meinte einer der Passagiere skeptisch.
»Viel mehr als das«, entgegnete Redley. »Sie sind oft gelandet und haben mit Menschen gesprochen. Bevor wir hierherkamen, hatten sie auf der Rückseite des Mondes einen Stützpunkt, aber sie zerstörten ihn, als die ersten Beobachtungsraketen heraufkamen.«
»Woher wissen Sie denn das alles?«, fragte ein anderer. Radley schien die Skepsis seiner Zuhörer nicht zu berühren. Er strahlte eine Gläubigkeit aus, die zwar unbegründet sein mochte, aber doch sehr überzeugend wirkte. Er fühlte sich in seinem Phantasiereich sehr glücklich.
»Wir haben — Kontakte«, meinte er bedeutsam. »Ein paar Menschen ist es gelungen, mit den Leuten aus den fliegenden Untertassen telepathisch in Verbindung zu treten. Wir wissen also sehr viel über sie.«
»Und woher kommt es dann, dass sonst niemand etwas weiß?«, erkundigte sich ein Ungläubiger. »Warum sind unsere Raumschiffpiloten nie jemandem begegnet, wenn es irgendwo auf den Planeten Bewohner gibt?«
»Oh, solche Begegnungen haben stattgefunden«, erwiderte Radley mitleidig lächelnd, »aber man bewahrt Stillschweigen. Die Wissenschaftler wollen nicht zugeben, dass es draußen im Weltraum überlegene Intelligenzwesen gibt. Wenn ein Pilot von einer Untertasse berichtet, wird er ausgelacht. Deswegen schweigt heute jeder Astronaut, wenn er mit einer fliegenden Untertasse zusammentrifft.«
»Haben Sie schon so ein Ding gesehen, Commodore?«, fragte Mrs. Schuster, anscheinend halb überzeugt. »Oder sprechen Sie auch nicht davon?«
»Es tut mir sehr leid, dass ich Sie enttäuschen muss«, meinte Hansteen. »Ich gebe Ihnen mein Wort dafür, dass alle Raumschiffe, denen ich je begegnet bin, in Lloyds Register standen.«
Er begegnete Pats Blick und nickte kurz, wie um zu sagen: »Am besten besprechen wir das in der Luftschleuse.« Jetzt, da er sich davon überzeugt hatte, dass Radley harmlos war, betrachtete er dieses Zwischenspiel sogar als glückliche Fügung. Die Passagiere waren dadurch vom Ernst der Lage abgelenkt worden.
»Nun, Pat«, sagte Hansteen, als die Luftschleusentür sich hinter ihnen geschlossen hatte, »was halten Sie von ihm?«
»Glaubt er denn diesen Unsinn wirklich?«
»O ja — jedes Wort. Ich kenne diesen Typ.«
»Das ist eine sehr ungute Situation«, beschwerte sich Pat. »Ausgerechnet jetzt unterhalten sich die Passagiere über fliegende Untertassen.«
»Das ist gar keine schlechte Idee«, meinte der Commodore. »Was sollen sie denn sonst tun? Seien wir doch ehrlich — wir müssen hier sitzen und warten, bis Lawrence wieder ans Dach klopft.«
»Wenn er noch da ist. Barrett könnte schon recht haben. Vielleicht ist das Floß untergegangen.«
»Ich halte das für sehr unwahrscheinlich — die Erschütterung kann gar nicht so groß gewesen sein. Wie tief sind wir wohl gesunken?«
Pat überlegte. »Ich würde sagen — zehn Meter.«
»Unsinn! Das Ganze hat doch nur ein paar Sekunden gedauert. Ich glaube nicht, dass wir mehr als zwei bis drei Meter gesunken sind.«
Pat fiel es schwer, daran zu glauben, aber hoffentlich hatte der Commodore recht.
»Vielleicht hat man oben überhaupt nichts davon gemerkt«, fuhr Hansteen fort, »und wundert sich jetzt, warum die Verbindung abgerissen ist. Sind Sie sicher, dass man die Zuleitung zum Funkgerät nicht reparieren kann?«
»Ganz sicher. Von der Kabine aus können wir an die beschädigten Stellen nicht heran.«
»Na ja, da lässt sich eben nichts machen. Dann gehen wir eben wieder hinein und lassen uns von Radley bekehren.«
Jules hatte die Staubschlitten mit der Kamera hundert Meter weit verfolgt, bevor er erkannte, dass sich nur sieben Männer auf ihnen befanden. Es waren aber acht gewesen.
Er schwenkte sofort zum Floß zurück und erfasste es gerade in dem Augenblick, als Lawrence die Funkstille brach.
»Hier Chefingenieur Lawrence«, sagte er müde und verzweifelt. »Entschuldigen Sie die Verzögerung, aber Sie werden ja selbst bemerkt haben, dass es sich um einen Notfall handelt. Anscheinend ist das Schiff wieder gesunken. Wo es jetzt liegt, wissen wir nicht — die Selene meldet sich nicht mehr.
Für den Fall, dass sich so etwas noch einmal ereignet, habe ich meine Leute angewiesen, sich ein paar hundert Meter zurückzuziehen. Die Gefahr ist zwar nicht sehr groß, aber wir dürfen kein Risiko eingehen. Alles Erforderliche vermag ich im Augenblick ohne Hilfe auszuführen.
Ich melde mich in ein paar Minuten wieder. Ende.«
Lawrence kauerte am Rand des Floßes und nahm die Sonde wieder zur Hand, mit der er den Kreuzer zum ersten Mal entdeckt hatte. Sie reichte bis in eine Tiefe von zwanzig Metern. Wenn die Selene tiefer lag, musste er sich etwas anderes einfallen lassen.
Der Stab versank im Staub, wurde langsamer, als er die Tiefe erreichte, wo die Selene ursprünglich gelegen hatte. Da — eben verschwand die Originalmarke — fünfzehn null fünf Meter — unter der Oberfläche.
»Wie weit noch«, flüsterte Lawrence.
Aber schon nach eineinhalb Metern stieß die Sonde gegen den versunkenen Staubkreuzer.
Unangenehmer war schon die Tatsache, dass die Selene sich nicht gleichmäßig gesenkt hatte, wie Lawrence nach ein paar weiteren Sondierungen feststellte. Das Heck lag wesentlich tiefer, so dass die Selene in einem Winkel von dreißig Grad zur Horizontalen stand. Das allein konnte genügen, seinen Plan zunichtezumachen. Er hatte sich darauf verlassen, dass der Caisson glatt auf dem ebenen Dach aufsetzte.
Er schob dieses Problem zunächst beiseite. Das Funkgerät des Kreuzers war verstummt. Wie ließ sich erkennen, ob die Passagiere noch am Leben waren? Sie vermochten seine Sonde zu hören, aber wie sollten sie sich mit ihm in Verbindung setzen?
Aber es gab natürlich eine Möglichkeit. Die einfachste und primitivste überhaupt, aber nach eineinhalb Jahrhunderten Elektronentechnik dachte man gar nicht mehr an sie …
Lawrence stand auf und rief die wartenden Staubschlitten.
»Ihr könnt zurückkommen«, sagte er. »Es besteht keine Gefahr. Sie ist nicht einmal zwei Meter abgesunken.«
Die Millionen Zuschauer hatte er bereits vergessen.